21. Juli: Murasaki Shikibu, „Die Geschichte vom Prinzen Genji“, 源氏物語

Hervorgehoben

21. Juli 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

[Murasaki Shikibu: Die Geschichte vom Prinzen Genji. Altjapanischer Liebesroman aus dem 11. Jahrhundert, verfasst von der Hofdame Murasaki. Vollständige Ausgabe aus dem Original übersetzt von Oscar Benl. (= Corona-Reihe der Manesse Bibliothek). 2 Bände. Manesse, Zürich 1966.]

Quelle: 2014er Ausgabe von Manesse-Verlag, Zürich (Random House)

[Die deutsche Ausgabe verwendet eine Stilisierung der Handschrift, Anmerkung der Übersetzerin]

Quelle: Gotoh-Museum.

Murasaki Shikibu war aus gutem Grund Higuchi Ichiyos Lieblingsautorin, nicht nur als ihre größte Vorgängerin als japanische Schriftstellerin, sondern besonders als Dichterin, die zur Schriftstellerin von Fiktion wurde. Murasakis Meisterwerk fordert uns heutzutage auf mehreren Ebenen heraus, angefangen mit den fast 800 Gedichten, die in den vierundfünfzig Kapiteln ihres Buches verteilt sind. Arthur Waley, der „Genji“ in den 1920er Jahren zum ersten Mal ins Englische übersetzte, entfernte den größten Teil der Poesie und verwandelte die erhaltenen Texte in Prosa, wodurch der Genji eher wie ein europäischer Roman aussah, oder wir könnten sagen, eine Art weltgewandtes Märchen für Erwachsene. Sein Ansatz wird durch das Epitaph deutlich, welches er für die Titelseite seiner Übersetzung ausgewählt hat, nicht aus irgendeiner japanischen Quelle, sondern aus „Cendrillon“, dem Aschenputtel-Märchen des französischen Schriftstellers Charles Perrault aus dem 17. Jahrhundert.

Quelle: privat.

Waley zitiert Aschenputtel sogar auf Französisch. („Bist du es, mein Prinz?“, sagte sie zu ihm. „Du hast mich schon eine ganze Weile warten lassen!“) Hier wird Aschenputtels attraktiver Prinz von Murasakis „Shining Prince“ Genji überlagert, in einem Zitat, das die kühle Selbstbeherrschung der Heldin betont, ausgedrückt mit ziemlich unjapanischer Unverblümtheit.

Wie bei Mori Ogais Lob für Higuchi Iciiyo als „eine wahre Dichterin“ hatte die Prädominanz poetischer Werte große Konsequenzen für Murasakis Praxis als Prosaschreiber. Ihre Geschichte dreht sich um poetische Momente ,und sie zeigt relativ wenig Interesse an den Grundzutaten der modernen Fiktion wie der Charakterentwicklung oder einer Handlungsstruktur mit klarem Anfang, Mitte und Schluss. Ihre Hauptfiguren, Genji und seine Kinderbraut Murasaki, – von denen Murasaki Shikibu ihren eigenen Pseudonym erhielt –, sterben zwei Drittel im Verlauf des Buches, das dann mit einer neuen Reihe von Charakteren in der nächsten Generation wieder beginnt. Die Geschichte erreicht in ihrem vierundfünfzigsten Kapitel eine Art vorläufigen Haltepunkt, endet aber nicht in einer Weise, die Leser westlicher Romane erwarten würden. Murasaki mag vielleicht vorgehabt haben, die Geschichte eines Tages weiterzuführen, aber es scheint nicht, dass ein klimatisches „romanhaftes“ Ende jemals ein wesentlicher Bestandteil ihres Vorhabens war.

Murasaki präsentiert ihre Charaktere sowie die Handlung in poetischen Begriffen. Sie werden normalerweise nicht durch ihren Namen identifiziert, sondern durch eine Verschiebung von Epitheta, die oft aus Zeilen in Gedichten abgeleitet sind, die sie zitieren oder beschreiben. „Murasaki“ ist überhaupt kein Eigenname, sondern eine Pflanze mit Lavendelblüten, die zusammen mit Glyzinien in mehreren Gedichten verwendet wird, die mit Genjis zahlreichen Liebesbeziehungen assoziiert werden. Tatsächlich erscheint „Murasaki“ zuerst als Epithet für Genjis erste Liebe, Fujitsubo. Der Beiname wird erst später auf ihre Nichte übertragen, die Hauptheldin der Geschichte. Der Name „Genji“ bedeutet lediglich „Träger des Namens“ (von Minamoto), ein Familienname, der ihm von seinem Kaiservater als uneheliches Kind verliehen wurde. Kurz gesagt, Genji ist ein Genji, ein Sohn, der anerkannt, aber von der kaiserlichen Familie ausgeschlossen ist. So lebendig Murasaki ihre Hauptfiguren entwickelt, so suggerieren sie weiterhin allgemeine Qualitäten, während sie wiederkehrende Muster spielen, die Generation für Generation in einer narrativen Entfaltung poetischer Momente von Gemeinschaft, Sehnsucht, Rivalität und Träumerei auftauchen.

Das Monogatari-Genre, in dem Mursaski (be)schrieb – und das sie revolutionierte –, musste nicht nur mit der Poesie an der Spitze der Genre-Hierarchie konkurrieren, sondern auch mit der Geschichte zwischen Poesie und Prosa. Darüber hinaus wurden japanische poetische und historische Werke häufig vom höheren Prestige ihrer chinesischen Kollegen überschattet. Wie Latein im mittelalterlichen Europa wurde Chinesisch von Männern der Oberschicht studiert und geschrieben, und von Frauen wurde nicht erwartet, dass sie Chinesisch lernen, geschweige denn, um darin literarische Fähigkeiten zu entwickeln. Die einheimische Monogatari wurde bei Frauen populär, aber wie die heutige „Chick Lit“ heute wurden diese Werke als leichte Unterhaltung von zweifelhaftem moralischem Wert angesehen.

Murasaki widerlegt solche Ansichten und schließt eine explizite Verteidigung ihrer Arbeit in die Geschichte selbst ein. Im fünfundzwanzigsten Kapitel, „Glühwürmchen“, erfahren wir, dass sich die Frauen in Genjis Haushalt während der Frühlingsregenzeit amüsieren, indem sie illustrierte Romanzen lesen. Genji passiert im Zimmer einer jungen von seiner Schutzbefohlener, Tamakazura, „der eifrigsten Leserin von allen“.

Während Genji sich in Tamakazuras Zimmer umsah und die Unordnung von Bildern und Manuskripten bemerkte: „Was für ein Ärgernis das alles ist“, sagte er eines Tages. „Frauen scheinen dazu geboren worden zu sein, um fröhlich getäuscht zu werden. Sie wissen ganz genau, dass es in all diesen alten Geschichten kaum einen Hauch von Wahrheit beinhaltet, und dennoch werden sie von einer ganzen Reihe von Trivialitäten gefangen genommen und zum Spott gemacht und kritzeln sie weiter auf, ohne zu wissen, dass in diesen warmen Regenfällen ihre Haare ganz klamm und verwirrt sind.“

Doch kaum hat er dieses leutselig sexistische Urteil abgegeben, schränkt er es ein, und fügte hinzu, dass „ich bei all der Fabrikation zugeben muss, dass ich echte Emotionen und plausible Ereignisketten entdecke“. Wiederum die Seite wechselnd, untergräbt er dieses Kompliment mit einem erneuten Angriff auf die Wahrhaftigkeit der Märchen: „Ich denke, dass diese Garne von Menschen stammen müssen, die im Lügen gut geübt sind.“ Als Antwort schiebt Tamakazura ihren Tintenstein weg – hat sie angefangen, selbst eine Erzählung zu schreiben? – und entgegnet so gut wie sie kann: „Ich kann sehen“, erwidert sie, „dass dies die Ansicht von jemandem wäre, der sich selbst zum Lügen hingibt.“

Eine ausführliche kokette Diskussion erfolgt, die ironischerweise die wahrheitsgetreuen Lügen der Fiktion mit den Verführungen von Genjis betrügerischem Herzen kontrapunktiert. Die Szene endet damit, dass Genji einräumt: „Ich sollte mir vorstellen, dass es im wirklichen Leben wie in der Fiktion ist. Wir sind alle Menschen mit all unseren Eigenheiten.“ Er stimmt zu, dass sogar seine kleine Tochter den Geschichten ausgesetzt sein kann, und verbringt dann „viel Zeit damit, Romanzen auszuwählen, die er für geeignet hielt“ – zweifelsohne mit Genuss – „und befahl, sie zu kopieren und zu illustrieren.“ Diese einzelne Szene erzählt so viel über das literarische Milieu innerhalb und gegen das Murasaki schrieb, wie wir aus einer ganzen Abhandlung über die Kunst der Fiktion lernen könnten.

Sowohl Genji als auch die Frauen in seinem Leben versuchen, die Möglichkeiten des Lebens in einer patriarchalischen Hofgesellschaft zu verhandeln, in der Wände aus Papier bestehen und jeder stets von anderen gesehen – und darüber getratscht – wird. Ein guter Weg, um die Darstellung des Hoflebens im Buch zu kontextualisieren, ist das Tagebuch ihres zeitgenössischen Sei Shōnagon, „Kopfkissenbuch“, wie sie das Verhalten eines guten Liebhabers bei Tagesanbruch beschreibt.

Quelle: Vom Manesse-Verlag (Random House) als „erste Bloggerin der Weltliteratur“ vermarktet

„Ein guter Liebhaber wird sich im Morgengrauen so elegant verhalten wie zu jeder anderen Zeit. Er schleppt sich mit einem Ausdruck der Bestürzung aus dem Bett. Die Dame drängt ihn weiter: „Komm, mein Freund, es wird hell. Du willst nicht, dass dich jemand hier findet.“ Er seufzt tief, als wollte er sagen, dass es eine Qual ist, zu gehen. Einmal aufgestanden, zieht er nicht sofort seine Hose an. Stattdessen kommt er der Dame nahe und flüstert, was in der Nacht nicht gesagt wurde. Jetzt hebt er das Gitter an und die beiden Liebenden stehen zusammen an der Seitentür, während er ihr erzählt, wie er den kommenden Tag fürchtet, der sie auseinander halten wird; dann schlüpft er weg. Die Dame sieht ihm nach, und dieser Moment des Abschieds wird zu ihren schönsten Erinnerungen gehören. In der Tat hängt die Bindung an einen Mann weitgehend von der Eleganz seines Verlassens ab.“

Bei aller Betonung der menschlichen Leidenschaft und der natürlichen Schönheit ist Murasakis Erzählung von einem buddhistischen Gefühl für die Vergänglichkeit aller irdischen Freuden durchdrungen, vom privaten Liebesspiel bis zum öffentlichen Erfolg, von der Musik bei Vollmond bis zum Austausch von Gedichten mit einem attraktiven Fremden durch vom Wind verwehte Vorhänge. Nach dem Tod Murasakis liest Genji ihre alten Briefe durch:

“Obwohl sehr viele Jahre vergangen waren, war die Tinte so frisch, als wäre sie gestern abgesetzt worden. Sie schienen tausend Jahre zu halten. Aber sie waren für ihn gewesen, und er war mit ihnen fertig. Die Handschrift der Toten besitzt stets die Kraft, uns zu bewegen, und dies waren keine gewöhnlichen Buchstaben. Er war geblendet von den Tränen, die sich mit der Tinte vermischten, bis er nicht mehr erkennen konnte, was geschrieben stand.”

„Ich versuche, den Spuren einer Frau zu folgen, die nun verschwunden ist

In eine andere Welt. Leider verliere ich mich.“

Seine Schwäche nicht zeigen wollend, schob er sie beiseite. […] Um einen Tränenfluss zu kontrollieren, der hoffnungslos übertrieben erscheinen muss, warf Genji einen Blick auf eine der liebevolleren Notizen und schrieb an den Rand:

„Ich sammle keine Seegräser mehr und schaue sie auch nicht an.

Jetzt sind sie Rauch, um sich ihr in fernen Himmeln anzuschließen.“

Nach tausend Austauschen von Gedichtbriefen mit der Liebe seines Lebens kann Genji nicht anders, als ihr noch einen mehr zu schreiben, aber kein antwortendes Gedicht wird jemals zu ihm zurückkehren.

Als Murasaki im Sterben lag, war die Kaiserin gekommen, um sie zu besuchen. „Genji starrte die beiden an, jede irgendwie schöner als der andere, und wünschte, er möge dann tausend Jahre so, wie sie waren, haben, aber natürlich läuft die Zeit diesen Wünschen entgegen. Das ist die großartige, traurige Wahrheit.“

Die Zeit läuft diesen Wünschen im Leben entgegen, nicht aber in der Kunst. Murasaki komponierte ihren großen Roman von etwa 1000 bis zu ihrem Tod im Jahr 1012; tausend Jahre später ist die gesamte Welt des leuchtenden Genji längst verschwunden, aber “Die Geschichte vom Prinzen Genji” lebt weiter.

Quelle: Tokugawa-Museum, angefügt von der Übersetzerin

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-21-murasaki-shikibu-tale-genji
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

20. Juli: Higuchi Ichiyo: „In the Shade of Spring Leaves“

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20. Juli 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

[„In the Shade of Spring Leaves“, eine Übersetzung von neun Geschichten mit einer Biographie von Robert Lyons Danly, erschienen 1992 bei W. W. Norton and Company.]

[Higuchi Ichiyo: Mond überm Dachfirst. Aus dem Japanischen von Michael Stein. Zürich, Manesse 2008.
Higuchi Ichiyo: In finsterer Nacht. Aus dem Japanischen von Michael Stein. München, Iudicium Verlag 2007.]

Higuchi Ichiyo wurde 1872 in bescheidene Verhältnisse in Tokio geboren und erhielt eine hervorragende klassische Ausbildung, bevor das Vermögen und die Gesundheit ihres Vaters nachließen; er starb, als sie siebzehn war. Sie hatte früh Talent für das Verfassen von Gedichten im klassischen Stil gezeigt und war bereits entschlossen, Schriftstellerin zu werden, indem sie ihren Vornamen Natsuko durch den poetischen Pseudonym Ichiyo, „Blatt“, ersetzte. Sie hatte jedoch keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt als Dichterin zu verdienen, und nach dem Tod ihres Vaters lebten sie und ihre Mutter und Schwester als Näherinnen am Rande von Tokios Rotlichtviertel Yoshiwara von der Hand in den Mund.

Mit zwanzig Jahren wandte sie sich der Fiktion zu, und veröffentlichte eine Reihe immer brillanterer Kurzgeschichten in neuen Magazinen wie „Miyako no Hana“ („Blume der Hauptstadt“), die ein früher Beobachter als „eine Zeitschrift für leichte Literatur“ bezeichnete. Ihr Ruhm wuchs schnell in ihren tragisch wenigen Jahren, bevor sie 1896 im Alter von 24 Jahren an Tuberkulose verstarb. Bis dahin war sie bereits als führende Schriftstellerin ihrer Generation anerkannt. Hier werde ich mich auf meine Lieblingsgeschichte konzentrieren, „Separate Ways“, zu deutsch „Am Scheideweg“, eine von mehreren in Robert Danlys Sammlung „Shade of Spring Leaves“, auf Deutsch „Schatten der Frühlingsblätter“, die die Aufmerksamkeit auf das Leben von Frauen und Jugendlichen lenkt — die „neue Jugend“ von Japan kämpft darum, ihren Weg in Zeiten rasanter und beunruhigender Veränderungen zu finden.

Die Blütezeit von Publikationen wie „Miyako no Hana“ resultierte aus technologischen Innovationen. Japan hatte bereits eine lange Tradition im Drucken von Büchern aus Holzblöcken, aber der Import von westlichen Druckmaschinen gab den Antrieb zu einer neuen Reichweite für ein breites Publikum. So wurde die Dai Nippon Printing Company 1876 gegründet, um „den leidenschaftlichen Wunsch der Gründer zu erfüllen, das Level an Wissen und die Kultur der Menschen durch Buchdruck zu verbessern“, wie auf der Website des Unternehmens angegeben. Eine Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften entstand und bot Schriftstellern wie Higuchi Ichiyo, die nicht aus privilegierten Verhältnissen stammten und durch die neuen Druckmodi Einkommen und ein breites Publikum erreichen konnten, wie die Literaturzeitschrift „Shigarami sōshi“, publiziert von 1889–1894 vom Schriftsteller Mori Ogai:

Higuchi Ichiyos literarische Engagements waren hauptsächlich mit ihren japanischen Vorgängern und Zeitgenossen, von Murasaki Shikibu in der Heian-Ära und Ihara Saikaku im 17. Jahrhundert bis zu ihrer eigenen Zeit, und doch wurde ihre Arbeit von Anfang an auch im Kontext der Weltliteratur als auch japanischen Traditionen gelesen. Dies wird in einem begeisterten Aufsatz über ihre Novelle „Child’s Play“, [übersetzt „Als sie noch ein Kind war“, wörtwörtlich “Kinderspiel”], von Mori Ogai aus dem Jahr 1896 deutlich. „Was an ,Kinderspiel’ außergewöhnlich ist“, schrieb er, „ist, dass die Charaktere nicht die tierischen Kreaturen sind, denen man in Ibsen oder Zola so oft begegnet , deren Techniken die sogenannten Naturalisten bis zum Äußersten imitiert haben. Es sind echte, menschliche Individuen, mit denen wir lachen und weinen.“ Er schloss: „Ich zögere nicht, Ichiyo den Titel eines wahren Dichters zu verleihen.“

Ogai hatte mehrere prägende Jahre in Deutschland verbracht und war an der Spitze der Entwicklung verwestlichter Fiktion, jedoch verlieh er bemerkenswerterweise beim Lob von „Solange sie noch ein Kind war“ Ichiyo „den Titel eines wahren Dichters“, nicht „eines wahren Schriftstellers“. Die Poesie blieb an der Spitze der japanischen Genre-Hierarchie, und Mori sah in Ichiyo ein seltenes Talent für den Umgang mit konkreten Realitäten in der poetischen Prosa.

Wie Mori Ogais Kritik zeigt, lag Ibsen in der Luft. Ichiyos herzzerreißende Geschichte „Am Scheideweg“, die im selben Jahr geschrieben wurde, entwickelt Themen, weiterentwickelt in Werken wie Ibsens Stück „Nora oder Ein Puppenhaus“. Wie Ibsens Nora macht sich auch lchiyos Heldin Okyō in einer Welt starrer und ungleicher Geschlechter- und Klassenverhältnisse auf ihren Weg, so gut sie eben kann. Sie versucht, als Näherin durchzukommen, wie Ichiyo und ihre Mutter und Schwester nach dem Tod ihres Vaters, entschied sich dann aber, ihren Kampf um Unabhängigkeit aufzugeben und die Geliebte eines Mannes zu werden. Wie Ibsens Nora wird Okyō von einem verständnislosen Mann (hier ein junger Jugendlicher, Kichizo) beobachtet, der nicht verstehen kann, wie seine geliebte Freundin zu solch tiefer Verderbtheit versinken könnte.

Die Erzählung zeigt einen kleinen, aber transformativen Moment, vergleichbar mit einer Joycean „Epiphanie“, in der Kichizo die Schwäche der pseudo-familiären Bindungen erkennt, die er mit seinen Arbeitgebern und mit Okyō etabliert hat. Wir erfahren nie etwas Bestimmtes über Okyōs Liebhaber – oder Aushalter –, aber Romantik wurde zu einer kommerziellen Transaktion reduziert. Kichizo kommt so zu einer Erkenntnis der Korruption der Sexualität von Erwachsenen, vergleichbar mit dem, was die junge Heldin von Henry James‘ Roman „What Maisie Knew“ erlebt, der selbst ein Jahr später in einem amerikanischen „kleinen Magazin“, „The Chap-Book“, erstmals in Serie veröffentlicht wurde.

Ichiyos zurückhaltende Erzähltechniken präsentieren eine Welt, die gleichzeitig gelähmt und in radikalem Wandel ist. Dieser Zustand wird in Kichizos Status verkörpert. Er ist ein Waisenkind ohne bekannte Verwandte, und Okyō ist zu seinem einzigen Bezugspunkt in einer kurzlebigen Welt geworden. Am Ende der Geschichte verliert er diese eine Sicherheit, selbst als Okyō ihren Kampf um ein unabhängiges Leben aufgibt und eine liebloses Arrangement als behütete Frau akzeptiert. Es wird keinen Liebes-Selbstmord geben, wie er in einem populären Melodram stattgefunden hätte, und es gibt keine mitreißenden Reden im Ibsen-Stil, um die Moral für uns zu zeichnen. Das, was einer moralischen Schlussfolgerung am nächsten kommt – „Der Junge war in seiner Vorstellung von Integrität unnachgiebig“ -, ist fast eine Wegwerflinie, ohne klaren Hinweis darauf, ob wir Kichizos strenge Moral bewundern oder seine Unreife bedauern sollten. Die Geschichte endet mit einem trostlosen letzten Austausch zwischen ihnen:

So etwas will niemand machen. Aber es ist entschieden. Du

kann nichts ändern.“

Er starrte sie mit Tränen in den Augen an.

„Nimm deine Hände von mir, Okyō.“

Doch im Gegensatz zu Ibsens Stück widersetzt sich Ichiyos Narrativ des narrativen Abschlusses: Es gibt keine zuschlagende Tür, und vielleicht wird Kichizo am nächsten Tag Okyōs Wahl angesichts ihrer begrenzten Möglichkeiten als vernünftig akzeptiert haben.

Die Tragödie von „Separate Ways“ ist, dass es keine große Tragödie zu spielen gibt. Auch sind die Ressourcen der populären Romantik nicht verfügbar, um die Lage zu retten. Kichizo war ein obdachloser Straßenkünstler gewesen, bis eine freundliche alte Frau ihn zu sich nach Hause einlud. Doch seine „Granny“, wie er sie nennt, war keine gute Fee. Sie nutzte seine Arbeitskraft in ihrem Regenschirmladen und als virtueller Sklave in ihrem Haushalt aus. Se ist sogar zwei Jahre vor der Erzählung verstorben, und der Laden hat neue Besitzer, die ihn nicht ausstehen kann. Kichizo sucht in Okyō nach einer alternativen Familienbande: „Du scheinst mir fast wie eine Schwester zu sein“, sagt er und fragt: „Bist du sicher, dass du nie einen jüngeren Bruder hattest?“ Okyō ist jedoch ein Einzelkind, und sie selbst hat keine Familie, die sie im Leben unterstützen könnte.

Unfähig, Kichizos Fantasie einer Familienbande zuzustimmen, erhofft sie eine wundersame Lösung für ihn. Als sie fragt: „Hast du keinen Identitätsnachweis? Einen Anhänger mit deinem Namen zum Beispiel? Es muss etwas geben, das du hast.“ In einem beliebten Märchen- oder Puppenspiel würde ein solcher Zauber Kichizos (vorzugsweise edle) Herkunft enthüllen, und er könnte zu seiner verlorenen Familie zurückgeführt werden. Aber er und Okyō leben zur falschen Zeit.

Sie leben wirklich im falschen Genre. Ihre Geschichte ist weder eine unterhaltsame Geschichte mit einem Happy End, die Okyō in einer typischen Ausgabe von „Flower of the Capital“ lesen würde, noch eines der populären Stücke, die Kichizo auf der Straße gespielt hat. Okyō und Kichizo leben in der modernen Welt des Realismus des 19. Jahrhunderts – sogar in der modernen Welt des späten 19. Jahrhunderts – und entfernen sich von den direkten Aussagen und moralischen Gewissheiten, die in Ibsen noch immer sichtbar sind. Robert Lyons Danly hat über Higuchi Ichiyos „anspielenden und elliptischen Stil“ geschrieben, und dies ist eine Eigenschaft, mit der westliche Schriftsteller gerade gleichzeitig experimentierten. Drei Jahre nachdem Ichiyo ihre Geschichte geschrieben hatte, erzählt Conrads Erzähler in „Herz der Finsternis“ seinen Zuhörern, dass die Bedeutung von Marlows unschlüssiger Geschichte „nicht innen wie ein Kernel, sondern außen war und die Geschichte einhüllte, die sie nur hervorbrachte, wie ein Leuchten einen Nebel hervorbrachte.” Gleiches gilt für Ichiyos Hauptgeschichten.

Als es ihr gelang, ihre erste Geschichte zu verkaufen, hielt Ichiyo das Drama der Rückkehr nach Hause in ihrem Tagebuch fest, als sie anzukündigte: „Schau, Mutter, ich habe heute 10 Yen für meine erste Rate in „Miyako no Hana“ erhalten!“ Ihre Schwester erklärte: „Du bist jetzt eine professionelle Schriftstellerin“, und fügte hinzu: „Wer weiß? Du wirst vielleicht einmal so berühmt, dass dein Gesicht eines Tages auf einer japanischen Banknote erscheint!“ Ichiyo lachte und sagte ihrer Schwester, sie solle sich nicht mitreißen lassen – „Das Gesicht einer Frau auf einem Schein in Japan?“

In einem Akt wahrer poetischer Gerechtigkeit ist Ichiyo seit 2004 auf der 5000-Yen-Banknote abgebildet.

Sie ist die dritte Frau, der diese Ehre jemals zuteil wurde, nach einer Kaiserin und ihrer Lieblingsautorin Murasaki Shikibu, der wir uns morgen widmen werden

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-20-higuchi-ichiyo-shade-spring-leaves
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

Hier kann Ichiyos Opus im japanischen Orginal gelesen werden.

17. Juli: Bei Dao, „Die Rose der Zeit“

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17. Juli 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

[Dao, Bei. Das Buch der Niederlage – Gedichte, aus dem Chinesischen und mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Kubin; Edition Lyrik Kabinett im Carl Hanser Verlag, München 2009, 

Gottes chinesischer Sohn – Essays, aus dem Chinesischen und mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Kubin; Weidle Verlag, Bonn 2011,
Anmerkung der Übersetzerin.]

Wie eine fleischgewordene Version von Mo Yans Held Ximen Nao hat Bei Dao in einem einzigen Leben mehrere Reinkarnationen durchlaufen. Der 1949 geborene Zhao Zhenkai erlebte eine bürgerliche Kindheit in Peking, wurde dann ein Revolutionär der Roten Garde, gefolgt von Ernüchterung, die zu einer frühen Bekanntheit als dissidenter Dichter führte, als er unter dem Pseudonym Bei Dao („Nordinsel“) zu schreiben begann, der eine gewisse Unabhängigkeit oder Isolation suggerierte. Anschließend verbrachte er Jahre im Exil in einer Reihe von Ländern und kehrte in seinen Fünfzigern mit einer Professur in Hongkong nach China zurück. Selbst dann waren seine Transformationen nicht beendet, da er aufgrund eines Schlaganfalls vier Jahre lang nicht sprechen konnte. In dieser Zeit erfand er sich als bildender Künstler neu, bevor er sich schließlich erholte und wieder Dichter wurde. Leben und Tod mögen Ximen Nao abgenutzt haben, aber nicht Bei Dao.

In seiner ersten Schaffensperiode als Schriftsteller wurde Bei Dao Teil einer Gruppe junger Dichter, die die einheimische Poesie wiederbeleben wollten und die in den 1910er und 1920er Jahren von Lu Xun und seinen Weggefährten eingeleitete Neuen-Kultur-Bewegung die einheimische Revolution fortsetzten. Wie Hu Shih ließ sich Bei Dao von westlichen Dichtern inspirieren, ohne sie nachzuahmen (wie ihm manchmal vorgeworfen wurde), sondern wie sie innerhalb der chinesischen Poesie selbst „neu zu machen“ und höchst unregelmäßige freie Verse zu schreiben, die durch überraschende Gegenüberstellungen und versetzte Register gekennzeichnet sind. Das kulturelle Establishment in Peking hatte Zweifel an diesen manchmal obskuren Experimenten, und nannte die Gruppe „die nebligen Dichter“, aber sie wurden nicht als generell politische Dichter angesehen, es sei denn, sie bestanden darauf, keine politischen Gedichte zu schreiben.

Als die Debatten Mitte der 1970er Jahre über die Demokratisierung zunahmen, begann Bei Dao, Gedichte zu verfassen, die seine Ernüchterung über die Kulturrevolution und danach die Unterdrückung demokratischer Impulse zum Ausdruck brachten. Sein 1976 geschriebenes Gedicht „Die Antwort“ wurde in diesem Jahr und erneut in den späten 1980er Jahren zu einer Parole unter den Demonstranten für die Demokratie. „Die Antwort“ war erfüllt von „nebligen“ Zweideutigkeiten und scheinbarer Nicht-Sequituren:

Die Eiszeit ist jetzt vorbei.

Warum gibt es überall Eis?

Das Kap der Guten Hoffnung wurde entdeckt.

Warum bestreiten tausend Segel das Tote Meer?

Was sollte ein guter Kulturbürokrat — oder in der Tat ein rechtschaffener Volksrevolutionär — aus solchen Zeilen machen? Wie Ghalib fiel es Bei Dao anscheinend schwer, Gedichte zu schreiben, die nicht schwierig waren. Verse wie diese scheinen weniger wie europäische freie Verse zu sein als einige der ironischeren Couplets von Hafez oder Ghalib, die sich in sich selbst verdoppeln. Dennoch konnte jeder die Herausforderung des Dichters an den Imperativ sehen, sich der Parteidoktrin zu verschreiben, obwohl er seinen Unglauben in scheinbare Worten Ausdruck verlieh:

Ich glaube nicht, dass der Himmel blau ist;

Ich glaube nicht an Echos des Donners;

Ich glaube nicht, dass Träume falsch sind;

Ich glaube nicht, dass der Tod keine Rache besitzt.

Es wird kein spezifischer Tod angegeben, aber Bei Daos Leser könnten sicherlich an die Millionen denken, die in den Hungersnöten während der Zeit der Kollektivierung gestorben waren, oder dann an den Tod von Dissidenten in Polizeigewahrsam. Diese Zeilen hätten für Bei Dao selbst eine persönlichere Bedeutung gehabt: Seine Tante hatte 1968 Selbstmord begangen, nachdem sie als bürgerlicher Konterrevolutionär Ziel von Ermittlungen der Regierung geworden war.

„Die Antwort“ war einer der Texte, die pro-demokratische Aktivisten an der „Wand der Demokratie“ veröffentlichten, an der im Winter 1978-1979 kurzzeitig Ideen von Dissidenten gezeigt werden durften.

Bei Dao war jedoch alles andere als zuversichtlich, dass Poesie die Welt verändern könnte. Sein Gedicht „Die Kunst der Poesie“ beginnt:

In dem großen Haus, zu dem ich gehöre

bleibt nur ein Tisch übrig, umgeben

von grenzenlosem Marschland

der Mond scheint auf mich aus verschiedenen Ecken

der zerbrechliche Traum des Skeletts bleibt bestehen

in der Ferne, wie ein undemontiertes Gerüst

und es gibt schlammige Fußabdrücke auf dem leeren Papier

Wir mögen vielleicht nicht mehr in Lu Xuns Eisenhaus eingesperrt sein, aber dieses Haus ist von einem Ödland umgeben, und das einzige Papier, das wir haben, ist eine leere Seite, die auf dem Boden von schlammigen Fußabdrücken betreten wurde — es sei denn, diese Fußabdrücke sind der Text, den wir lesen?

In den frühen 1980er Jahren wurde Bei Dao im Ausland bekannt, und er unternahm seine ersten Auslandsreisen, aber er war nicht optimistisch, dass die Weltpoesie irgendeine großartige Zuflucht bieten würde, noch weniger substantielle Auswirkung zurück in der und und die Heimat. Wie er in einem Gedicht mit dem Titel „Sprache“ schrieb,

viele Sprachen

fliegen um die Welt

die Produktion von Sprachen

kann weder zunehmen noch abnehmen

das stille Leiden der Menschheit

Bald jedoch musste er selbst um die Welt fliegen, nachdem er und mehrere andere „Neblige Poeten“ 1989 nach der Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens ins Exil verbannt worden waren. Siebzehn Jahre lang lebte er in mehreren europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten, und viele seiner Gedichte vermitteln die Erfahrung des Exils. Wie er in zu deutsch „Lied der Strasse“ schrieb, „dreht am Ende einer endlosen Reise / Nacht alle Schlüssel aus Gold / aber keine Tür öffnet sich für dich.“ In diesen Zeilen mag „du“ der Dichter sein, aber dann mag der Referent zu China selbst wechseln: „Ich gehe auf dich zu / als du den Fächer der Geschichte öffnest / das iin einem isolierten Lied gefaltet ist.“

Das Exil bedeutete vielfältige Verluste, einschließlich des Zerbrechens seiner Ehe, brachte ihn aber auch in extensiven Kontakt mit Dichtern weltweit. Auf Wunsch von Mahmoud Darwish reiste er 2002 als Teil einer Delegation des Internationalen Parlaments der Schriftsteller nach Palästina; zu der Delegation gehörten die Nobelpreisträger Wole Soyinka und José Saramago. In seiner Aufsatzsammlung „Gottes chinesischer Sohn“ [im englischen „Blue House“ (2000)] porträtiert Bei Dao liebevoll mehrere seiner Dichterfreunde, darunter Alan Ginsberg, Octavio Paz und Gary Snyder („Gary besitzt ein Gesicht, das schwer zu vergessen ist: tiefe Linien, die im Wesentlichen alle Vertikale sind“). In einem Gedicht, das dem schwedischen Dichter Tomas Tranströmer gewidmet ist, lobt er seinen Freund in Begriffen, die er auch für sich selbst anwenden könnte: „Tanzen mit kopflosen Engeln / Du hast das Gleichgewicht gehalten.“

Bei Dao durfte 2001 kurz nach China zurückkehren, um seinen schwerkranken Vater zu sehen. Wie er während dieses Besuchs in einem Gedicht mit dem Titel „Eine schwarze Karte“ schrieb,

Am Ende rücken kalte Krähen zusammen

die Nacht: eine schwarze Karte

Ich bin nach Hause gekommen — auf dem Rückweg

länger als die falsche Straße

lang wie ein Leben

[. . . ]

Der Lebensfunke meines Vaters ist klein wie eine Erbse

Ich bin sein Echo

um die Ecke der Begegnungen drehend

eine ehemalige Liebe versteckt sich im Wind

wirbelnd mit Buchstaben

Peking, lass mich

deine Lampenlichter erglühen

lass meine weißen Haare führen

der Weg durch die schwarze Karte

als würde dich ein Sturm zum Fliegen bringen

Hier ist ein Video von Bei Dao aus dem Jahr 2011, in dem Gedichte aus dem “Buch der Niederlage” in der 92. Straße Y in New York eloquent gelesen werden, und sein Übersetzer Eliot Weinberger liest die Übersetzungen. Sie beginnen mit „Die schwarze Karte“ und enden mit „Die Rose der Zeit“.

Bei Dao durfte 2006 nach China zurückkehren. Er ließ sich als Professor an der Hong Kong University in Hongkong nieder, heiratete erneut und hatte einen Sohn.Sein Leben schien sich endlich beruhigt zu haben, aber 2012 erlitt er einen Schlaganfall und hatte vier Jahre lang große Schwierigkeiten, Sätze zu bilden. Während dieser Zeit wandte er sich der Malerei zu, stellte jedoch fest, dass er Probleme hatte, stetige Linien zu zeichnen, und entwickelte einen Stil, bei dem Tausende von Tintenpunkten auf Papier verwendet wurden, um eindringliche kalligraphische Landschaften zu schaffen:

Quelle: Bei Dao.

Wie seine Kunst zeigen Bei Daos Gedichte das, was der Dichter Michael Palmer als „eine Poesie komplexer Umfaltungen und Kreuzungen, plötzlicher Gegenüberstellungen und Frakturen, Muster in einem Tanz mit Zufälligkeit“ bezeichnet hat. Seine umfangreiche Sammlung alter und neuer Gedichte, „Das Buch der Niederlage“, endet mit „Die Rose der Zeit“, das ich hier im Ganzen wiedergeben werde. Wenn seine vierzeiligen Strophen als Couplets gesetzt wären, würden wir dies leicht als Ghazal erkennen, In der Tradition von Shahid Alis Überarbeitung von Hafez und Ghalib, wie wir Bei Daos Leben sehen, wie seine Poesie und seine kalligraphische Kunst, erscheinend im Verschwinden:

wenn der Wächter einschläft

Du drehst dich zurück mit dem Sturm

alt zu werden Umarmen ist

die Rose der Zeit.

wenn Vogelstraßen den Himmel definieren

blickst du nach hinten auf den Sonnenuntergang

im Verschwinden Auftauchen ist

die Rose der Zeit


wenn das Messer in Wasser gebogen ist

überquerst du die Brücke und trittst auf süße Lieder

in der Verschwörung zu weinen ist

die Rose der Zeit


wenn ein Stift den Horizont zeichnet

wirst du von einem Gong aus dem Osten geweckt

in den Echos zu erblühen

ist die Rose der Zeit

im Spiegel gibt es immer diesen Momen

dieser Moment führt zur Tür der Wiedergeburt

die Tür öffnet sich zum Meer

die Rose der Zeit

Bei Dao wellt sich.

Quelle: Bei Dao.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-17-bei-dao-rose-time-new-and-selected-poems
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.
[Hier ist eine ausführliche Biographie von Martin Ebner]

16. Juli: Mo Yan, „Life and Death Are Wearing Me Out“

Hervorgehoben

16. Juli 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

[Leider existiert noch keine deutschsprachige Übersetzung, Anmerkung der Übersetzerin.]

Geboren 1955 in eine Bauernfamilie in der Provinz Shandong, war Guan Moye zu Beginn der Kulturrevolution elf Jahre alt. Er verließ die Schule, um auf den Feldern und später in einer Fabrik zu arbeiten, bevor er 1976 zur Armee ging. Dort begann er zu schreiben und nahm den Pseudonym Mo Yan („er kann nicht sprechen“) an, in Erinnerung an die Warnungen seines Vaters, seine Meinung nicht außerhalb des Hauses zu äußern. Nachdem er weitgehend über den sozialistischen Realismus Chinas aufgewachsen war, begann er breiter und weiter zu lesen. Er entwickelte ein starkes Interesse an den Werken von Lu Xun und an den klassischen heimischen Erzählungen, einschließlich der „Reise in den Westen“, und lernte auch westliche Schriftsteller kennen. In seiner Nobelpreisrede 2012 sagte er, dass:

“Während des Schaffungsprozesses meiner literarischen Domäne, dem Nordost Gaomi Township, wurde ich stark von dem amerikanischen Schriftsteller William Faulkner und dem Kolumbianer Gabriel García Márquez inspiriert. Ich hatte keinen von beiden ausführlich gelesen, wurde aber ermutigt von der kühnen, ungezügelten Art und Weise, wie sie schriftlich Neuland erschufen, und lernte von ihnen, dass ein Schriftsteller einen Ort haben muss, der ihm allein gehört. … Obwohl ich wenig von ihrer Arbeit gelesen hatte, reichten ein paar Seiten aus, um zu verstehen, was sie taten und wie sie es taten, was zu meinem Verständnis führte, was ich tun sollte und wie ich es tun sollte. („Storytellers“, auf Deutsch „Geschichtenerzähler“)

[Hier kann die Nobelpreisrede angesehen und im chinesischen Original angehört werden –

Hier auch ein Bericht über die Aufnahme des Preises in seiner Familie von “New China TV”:]

Sein Roman „Life and Death Are Wearing Me Out “ aus dem Jahr 2006 baut auf all diesen Quellen und weiteren auf, als er eine epische Erzählung der chinesischen Geschichte von 1950 bis zum Jahr 2000 aus der Sicht von Menschen und Tieren verknüpft. Die Geschichte deckt die landwirtschaftliche Kooperativen-Bewegung der 1950er Jahre, über die Kulturrevolution bis zum Tod von Mao Zedong und dem Aufkommen von Chinas zeitgenössischem Wohlstand und globalem Profil ab.

Drei Autorenfiguren verankern die wachsenden Geschichten des Buches. Ein Großteil des Buches wird von Ximen Nao, oder vielmehr von einer Reihe seiner Reinkarnationen, erzählt. Als wohlhabender, unpolitischer Landbesitzer wird er zu Beginn des kommunistischen Machtantritts in seiner Stadt erschossen. Sein Geist steigt zum Gericht der Unterwelt von Lord Yama herab, aber Nao ist empört über seinen ungerechtfertigten Mord und besteht darauf, auf die Erde zurückgeschickt zu werden. Lord Yama stimmt dem nur widerwillig zu, jedoch ist Nao bei seiner Rückkehr ins Dorf schockiert, dass er gerade als Esel wiedergeboren wurde und im Dienste seines eigenen ehemaligen Knechts Lan Lian aufwächst. Im Verlauf der Erzählung stirbt Nao und wird vier weitere Male wiedergeboren, zunächst als Ochse, dann als Schwein, Hund und Affe, bevor er schließlich erreicht, als Menschenbaby wiedergeboren zu werden.

Wir liegen damit nicht falsch, wenn diese Folge von Reinkarnationen uns an Tripitakas Gefährten auf der „Reise in den Westen“ erinnert. Im ersten Kapitel, als Ximen Nao zur Wiedergeburt in sein Dorf gebracht wird, „begegneten wir einer Gruppe von Männern auf Stelzen, die die Reisen des Tang-Mönchs Tripitaka auf seinem Weg zum Abholen buddhistischer Schriften nachstellten. Seine Schüler, Monkey und Pigsy, waren beide mir bekannte Dorfbewohner.“ Während des gesamten Romans glaubt Ximen Nao, dass Lord Yama die Gerechtigkeit seiner Sache nicht sieht und ihn pervers zu einer Wiedergeburt eines Tieres nach dem anderen verurteilt, aber er entdeckt schließlich, dass Yama immer seine endgültige Erlösung geplant hat, so wie Tripitaka in der „Reise in den Westen“ entdeckt, dass die leeren Schriften die besten sind. Er musste in tierischer Form wiedergeboren werden, bis er sich endgültig vom Hass befreit hat. Nur dann kann er „Millennium Baby“ werden, und die Geschichte kann am Ende des Romans echt beginnen.

Während er durch die Jahrzehnte kreist, erfährt Ximen Nao die Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen, die mit dem „Großen Sprung nach vorn“ und der Kulturrevolution einhergehen, die er mit einer Art naivem Wunder beobachtet, das an Lu Xuns „Ah-Q“ erinnert. Nun jetzt, anstatt nur einmal hingerichtet zu werden, wird Nao in seinen Tierinkarnationen von hungernden Dorfbewohnern gefressen, dann bei einem Aufstand lebendig verbrannt, danach ertränkt, dann gemeinsam mit Lan Lian loyal Selbstmord begehend, und schließlich von einem eifersüchtigen Ehemann erschossen. Lan Lian ist ein eigensinniger Individualist, der einzige Bauer in seinem Dorf, der sich dem landwirtschaftlichen Betriebskollektiv weigert anzuschließen. Er schafft es, jahrelang durchzuhalten, unterstützt von Ximen Nao in mehreren seiner Inkarnationen, bevor er schließlich Selbstmord begeht.

Im Handlungsverlauf bekommen wir die Realität hinter der herrlichen Rhetorik des Fortschritts zu sehen, die ständig auf Bannern und Postern ausgestellt wird:

Quelle: 1954.

Ein zweiter Erzähler ist Lan Lians Sohn Lan Jeifang, dessen Mutter eine Konkubine von Ximen Nao gewesen war. Kurz nach seiner Ermordung heiratete sie Lan Lian. Jeifang wurde am 1. Januar 1950 geboren, wie wir in der Eröffnung des Romans erfahren haben, in einer Überlagerung von persönlicher und nationaler Geschichte, die an Saleem Sinai in Rushdies „Mitternachtskindern“ erinnert. Auch hier multipliziert Mo Yan das von ihm aufgenommene Muster bei Ximen Naos letzter Wiedergeburt auf den abschließenden Seiten des Romans, als der Jahrtausendjüngling Mitternacht geboren wird, gerade als „Feuerwerkskörper den Himmel des neuen Jahrhunderts von Gaomi erleuchteten, das erste eines neuen Jahrtausends.“

Für den Fall, dass diese narrative Pyrotechnik nicht ausreicht, stellt Mo Yan noch eine weitere Autorfigur vor: Mo Yan selbst. Hier sehen wir vielleicht eine Hommage an den sich regelmäßig in seinen Romanen einschleusende Orhan Pamuk, wie wir bei „Mein Name ist Rot“ gesehen haben, der damit endet, dass die Heldin Shekure ihre Geschichte ihrem kleinen Sohn Orhan hinterlässt.  In „Life and Death Are Wearing Me Out“ erscheint Mo Yan in einem durchweg satirischen Licht, verspottet von jedem, der ihm bekannt ist:

„Mo Yan hatte abweichende Talente. . . . Zu der Zeit schenkte niemand dem Kind Aufmerksamkeit. Er war fast unglaublich hässlich und entwickelte sich auf die eigenartigste Weise weiter. Angesichts der Tatsache, dass er verrückte Dinge äusserte, bei denen sich die Leute am Kopf kratzten, war er für einige ein Ärgernis, und für andere ein Paria. Sogar Mitglieder seiner Familie nannten ihn einen Idioten.“

Die Dorfbewohner sind jedoch misstrauisch mit ihm, da „Mo Yan, früher oder später, über sie schreiben würde. Jeder Bewohner des Dorfes Ximen wird sich in einem von berüchtigten Mo Yans Bücher wiederfinden.“ Hier scheint uns ein Echo von James Joyces Ambition zu erschallen, Dublin in „Ulysses“ nachzubauen, und sogar von „Finnegans Wake“, mit seinen vielen ätzenden Beschreibungen von Joyces Stellvertreter, dem Nichtsnutz Shem the Penman. In einer weiteren Ähnlichkeit endet Mo Yans Roman mit dem Satz: „Meine Geschichte beginnt am 1. Januar 1950“, und kehrt damit zu seinem ersten Satz zurück, wie Joyce es in Finnegans Wake getan hatte, der zu der Zeit gerade ins Chinesische übersetzt, als Mo Yan an seinem Roman schrieb.

Die Zyklizität von Mo Yan ist eher buddhistischer als postmodernistischer Natur; der Zyklus der Wiedergeburten überlagert die Jahrzehnte der chinesischen Geschichte nach 1949. Wie Ximen Nao in der Mitte des Romans bemerkt,

„Einige Zeit später, als ich als Hund wiedergeboren wurde, kam ein Freund von mir, ein erfahrener, sachkundiger und weiser deutscher Schäferhund, der ein Gästehaus der Stadtregierung bewachen sollte, zu dem Schluss: Die Menschen in den 1950er Jahren waren unschuldig, in den 1960er Jahren waren sie Fanatiker, In den 1970er Jahren hatten sie Angst vor ihren eigenen Schatten, in den 1980er Jahren wägten sie die Worte und Handlungen der Menschen sorgfältig ab, und in den 1990er Jahren waren sie einfach bösartig. Es tut mir leid, ich bin mir immer voraus. Es ist ein Trick, den Mo Yan ständig benutzt, und ich lasse es törichterweise die Art und Weise beeinflussen, wie ich spreche.“

Nicht dass die Unschuld der Menschen in den 1950er Jahren eine Katastrophe verhindert hätte. Wie Ximen Naos Mörder ihm ruhig erklärt: „Ich bin verpflichtet, dich zu eliminieren. Dies ist kein persönlicher Hass, sondern Klassenhass.“ Im grösseren Rahmen führten gut gemeinte Fünfjahrespläne für Kollektivierung und Industrialisierung zu Massenhunger. Der Roman enthält ein Kapitel, in dem die Dorfbewohner ihre Ernte infolge dessen, dass sie just zur Erntezeit umständliche Schmelzhandwerksarbeiten verrichten, verlieren.

Quelle: 1958.



Am Ende des Romans sind Wohlstand – und BMWs – ins Dorf gekommen, und Pläne sind im Gang, „Ximen Village in ein Resort mit dem Thema Kulturrevolution zu verwandeln“, komplett mit einem Golfplatz, einem Vergnügungspark und einem Casino. Die Bauern, deren Felder für diesen weitläufigen Komplex in Beschlag genommen werden, werden als Schauspieler arbeiten können, die die Geschichte des Dorfes für die besuchenden Touristen nachstellen.

Mo Yans bemerkenswerter Roman durchläuft einen feinen Grad zwischen inakzeptabler Kritik am System, die partiell mit der Verwendung von Tiererzählern geschützt wird, die Politik nicht verstehen (oder „nicht verstehen“). Er wurde dafür kritisiert, dass er Dissidentenautoren nicht unterstützt habe, aber er hat sich entschieden, satirische Kritik des Systems von innen heraus anzubieten. Wie Lu Xun und Eileen Chang dramatisiert er die Herausforderungen des Überlebens inmitten der sich verändernden politischen Strömungen in chaotischen Zeiten, und sein Roman plädiert für ein Ende des Hasses und für Offenheit für verschiedene Perspektiven – eine Offenheit, die durch seine eigene Verwendung Vielerlei Intertexte veranschaulicht wird, sowohl chinesischen als auch ausländischen. Als Ximen Nao zum dritten Mal wiedergeboren wurde, bemerkte er, „hier war ich ein nicht einmal einjähriges Schwein, jung und lebhaft, und genoss das Leben. Immer wiedergeboren zu werden mag einen Kerl zermürben, aber es besitzt durchaus Vorteile.“

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-16-mo-yan-life-and-death-are-wearing-me-out
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

15. Juli: Eileen Chang: „Liebe in einer gefallenen Stadt“

Hervorgehoben

15. Juli 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Eileen Chang, eine der bedeutendsten modernen chinesischen Schriftstellerinnen, ist auch eine der weltlichsten Figuren der chinesischen Literatur, und lebte die zweite Hälfte ihres Lebens in den USA, wo sie 1960 die Staatsbürgerschaft erlangte. Geboren 1920 in Chinas internationalsten Stadt, Shanghai, mit ihren britischen, französischen und amerikanischen Besiedlungen, zurückdatierend in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre Mutter wurde teilweise in England ausgebildet und ging in den Alpen Skifahren, obwohl ihr als Kind die Füße gebunden wurden; später ließ sie sich von ihrem untreuen, opiumsüchtigen Ehemann scheiden. Chang sprach fließend Englisch, während sie Schülerin in Shanghai an einer anglikanischen Schule in St. Mary’s war, die von Chinesen der Oberschicht mit internationaler Ausrichtung bevorzugt wurde. Sie widmete sich der edwardianischen Fiktion (H. G. Wells und Somerset Maugham waren Lieblingsautoren), aber sie war gleichermaßen zu „Die Geschichte des/vom Stein(s)“ und anderen klassischen chinesischen Romanen hingezogen.

1939 wurde ihr von der University of London ein Vollstipendium angeboten, aber die Umwälzungen des Zweiten Chinesisch-Japanischen Krieges hinderten sie daran, ihr Studium in England fortzusetzen, stattdessen studierte sie Englisch in Hongkong und kehrte später nach Shanghai zurück, wo sie sich bereits Mitte zwanzig schnell als Schriftstellerin etablierte.

Sie heiratete einen Literaten, Hu Lancheng, der mit der von den Japanern eingesetzten chinesischen Marionettenregierung kollaborierte. Die Ehe löste sich nach einigen Jahren aufgrund seiner mehrfachen Untreue auf. Die Überlagerung von sexuellem und politischem Verrat war nicht nur ein literarisches Thema für Chang, und sie verbrachte später Jahre damit, eine teilweise autobiografische Novelle „Gefahr und Begierde“ zu schreiben und zu überarbeiten, die der taiwanesische Filmemacher Ang Lee intensiv (und sexuell explizit) im Jahr 2007 verfilmte.

Quelle: Lust, Caution (Distributed by Focus Features)



Schon früh entwickelte Eileen Chang einen scharfen Blick für die Komplexität des Lebens in einem Shanghai, das zwischen gegensätzlichen Kräften angesiedelt – oder gefangen – ist: Tradition und Moderne, schwindendes Patriarchat und aufkeimender Feminismus, asiatische und europäische Kulturen. Ihre Geschichten aus den frühen 1940er Jahren, die unter japanischer Besatzung geschrieben wurden, vermeiden offene politische Aussagen, aber die Kriegsschauplätze stehen immer im Hintergrund. In einer Geschichte, „Sealed Off“, bilden ein Mann und eine Frau eine sofortige, aber kurzlebige Verbindung, während sie in einer Straßenbahn festsitzen, als Soldaten aus einem unbekannten Grund eine Straße abgeriegelt haben. Der Mann bringt seiner Frau ein gedämpfte Spinatbackwerk nach Hause, die in eine Zeitung im westlichen Stil eingewickelt sind:

„Ein Zeitungsfetzen war an einem Brötchen festgeklebt, und er schälte es ernsthaft ab; Die Tinte hatte sich auf das Brötchen übertragen, und die Schrift war umgekehrt wie in einem Spiegel. Er dachte über die Worte nach, bis er sie erkennen konnte: „Todesanzeigen … Stellen gesucht … Börsenentwicklungen … Gerade läuft … ” – all die normalen, nützlichen Ausdrücke, komisch jedoch, irgendwie auf einem Brötchen gesehen.“
In der Nähe zeichnet ein Medizinstudent ein akribisches Diagramm des menschlichen Körpers, das ein Mitreisender für „diesen Kubismus, diesen Impressionismus, der heutzutage so populär ist“ hält. Ein anderer Betrachter, der sieht, dass der Schüler jeden Knochen und Muskel sorgfältig beschriftet hat, behauptet: „Das ist der Einfluss der chinesischen Malerei. Heutzutage wird der westlichen Kunst oft auch ein bisschen Schrift hinzugefügt – eindeutig ein Fall von ,Östlichen Methoden, die sich den Weg nach Westen bahnen‘.“

Wu Cuiyuan, die junge Frau, die der brötchenlesende Geschäftsmann in der Straßenbahn trifft, würde einen solchen Fehler nicht machen. Sie hat Englisch als Hauptfach studiert und unterrichtet jetzt an ihrer Alma Mater – „Ein Mädchen in den Zwanzigern unterrichtet an einer Universität! Ein neuer Rekord für den beruflichen Aufstieg von Frauen ist aufgestellt.“ Obwohl sie stolz auf ihren Erfolg ist, fühlt sich Cuiyuan verwirrt und einsam und betrachtet sich als jemanden, der „lost in translation“, verloren in Übersetzungen, sogar in mehreren Übersetzungen: „Das Leben war wie die Bibel, übersetzt vom Hebräischen ins Griechische, vom Griechischen ins Lateinische, vom Lateinischen auf Englisch, von Englisch auf Mandarin. Als Cuiyuan es las, übersetzte sie das Mandarin in den Shanghaianesische. Einige Dinge haben sich nicht durchgesetzt.“ Cuiyuan rebelliert gegen ihre primitive, repressive Familie, und stimmt einem plötzlichen Vorschlag des Geschäftsmanns zu, ihre Geliebte zu werden, aber als die Straßenbahn wieder hochfährt, zieht sich der Mann zurück, und der Flirt führt nirgendwo hin. Als Cuiyuan am Ende der Geschichte überlegt, „war alles, was passiert war, während die Stadt abgeriegelt wurde, ein Nichtereignis. Die ganze Stadt Shanghai war eingeschlafen und hatte einen unsinnigen Traum geträumt.“

Kriegspolitik wird in mehreren der wichtigsten Geschichten von Chang offen in Sexualpolitik übersetzt. In ihrer Novelle „Liebe in einer gefallenen Stadt“ (1943) führt eine verarmte junge Frau, Bai Liusu, eine erweiterte Reihe von Geplänkeln mit einem reichen Playboy, Fan Liuyuan. Die militärische Sprache wiederholt sich in der Geschichte, als wenn eine alte Heiratsvermittlerin „einen zweigleisigen Angriff“ versucht, um Ehemänner für Liusu und eine ihrer Schwestern zu finden. Dann bringt Fan Liuyuan Liusu nach Hongkong und bucht nebeneinanderliegende Zimmer im verschwenderischen (und treffend benannten) Repulse Bay Hotel, [Hotel der Zurückweisung, Anm. d. Übersetzerin]:

Sogar jetzt hält er sich mit einem offensichtlichen Schritt zurück und möchte offenbar, dass sie sich ihm ergibt, ohne dass er irgendwelche Verpflichtungen eingehen muss. Liusu befürchtet, dass „er plötzlich den Vorwand fallen lassen und einen Überraschungsangriff starten würde. Aber Tag für Tag blieb er ein Gentleman; es war, als würde man sich einem großen Feind gegenüberstehen, der vollkommen still stand.“ Dennoch behauptet sie sich und kann ihn in ihrem verbalen Hin-und-Her einkreisen. Irgendwann, als Liuyuan behauptet, vor allem Ehrlichkeit zu schätzen, wirft Liusu ihm einen Seitenblick zu und entgegnet: „Ihre Vorstellung von der perfekten Frau ist jemand, die rein und von edler Gesinnung ist, aber dennoch einem Flirt nicht abgeneigt ist. … Du willst, dass ich gut vor anderen bin, aber schlecht, wenn ich bei dir bin.“ Liuyuan entgegnet, dass er es nicht verstehe, woraufhin Liusu ihre Aussage umkehrt: „Du willst, dass ich schlecht für andere bin, aber nur für dich gut.“ Verwirrt beschwert sich Liuyuan,
„Jetzt hast du es wieder umgedreht! Du machst mich nur verwirrter.“

Er schwieg für eine Weile und sagte dann: „Was du sagst, ist nicht so.“

Liusu lachte. „Ah, jetzt verstehst du.“

Schließlich werden sie Liebhaber, aber Liuyuan will sich immer noch nicht zu etwas verpflichten, obwohl er ein Haus für sie in den Hügeln von Hongkong mietet. Das Datum ist der 7. Dezember 1941; ohne dass sie es gewahr sind, bombardieren die Japaner Pearl Harbor. Gleich am nächsten Tag beginnen die Japaner, Hongkong zu bombardieren, bevor sie in die Stadt eindringen, was zu massiven Zerstörungen führt:

„Dann eines nachts in dieser toten Stadt…. Es gab nur einen Strom leerer Luft, eine Brücke der Leere, die in die Dunkelheit führte, in die Leere der Lücke. Hier war alles zu Ende gewesen.“ Doch diese schockierende Wendung bringt Liuyuan und Liusu zusammen. In einer melancholischeren Version von Wu Cheng’ens „Sun Wukong“ werden auch sie „Zur Leere Erweckt“. Chang sagt: „Sie schauten und erblickten sich, sahen einander gänzlich. Es war nur ein Moment tiefen Verständnisses, aber es reichte, um sie glücklich zusammen zu halten“ – mit mit charakteristischer Ironie hinzuzufügen, „ein Jahrzehnt lang, ungefähr.“

Eileen Chang perfektionierte den Gebrauch der Umgangssprache, den Lu Xun pioniert hatte, obwohl sie weit weniger zuversichtlich war, dass die Literatur „die Kinder retten“ und eine Generation der „Neuen Jugend“ inspiriert Als Liusu sich Sorgen macht, dass ihre eigene Jugend vorbeizieht, überlegt sie:

„Mach dir keine Sorgen, in ein paar Jahren wirst du alt sein, und die Jugend ist hier sowieso nicht viel wert. Sie haben überall Jugend — Kinder, die nacheinander geboren werden, mit ihren strahlenden neuen Augen, ihren zarten neuen Mündern, und ihren frischen neuen Gedanken. Die Zeit mahlt weiter, Jahr für Jahr, und die Augen werden glanzlos, der Geist wird tumb, und dann wird eine weitere Runde von Kindern geboren. Die Älteren werden in diesen dunklen Dunst aus Purpur und Gold gesaugt, und die winzige Flecken von glänzendem Gold sind die verängstigten Augen ihrer Vorgänger.“

Am Ende der Geschichte, als Liusu eine Pfanne mit mückenabweisendem Weihrauch anzündet, kommt die Erzählerin zum Schluss: „Hongkongs Niederlage hatte Liusu den Sieg gebracht. Aber wer kann in dieser unvernünftigen Welt Ursache von Wirkung unterscheiden?“ Oder könnten wir nach Emile Habibi „Saeed, der Pessoptimist“ sagen, wer Optimismus von Pessimismus unterscheiden kann? In dieser Welt der kriegführenden Reiche, Familien und Geschlechter ist Liusu eine selbstbesessene Überlebende, nicht unähnlich wie Voltaires Cunégonde: „Liusu hatte nicht das Gefühl, dass ihr Platz in der Geschichte etwas Raffiniertes ist. Sie stand lächelnd auf und trat die Pfanne mit dem mückenabweisenden Weihrauch unter den Tisch.“ Cunégonde würde dieses Lächeln ebenso schätzen wie die Heldinnen der großen Romane der Ming-Dynastie. Wie die Erzählerin kommentiert: „Diese legendären Schönheiten, die Städte und Königreiche niederschlugen, waren wahrscheinlich alle so.“

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-15-eileen-chang-love-fallen-city-and-other-stories
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.
[Erschienen bei Ullstein ist Das goldene Joch, Erzählungen; Übersetzung von Wulf Begrich. Ullstein, Berlin 2011.]

14. Juli: Lu Xun, „Die wahre Geschichte des Ah Q“

Hervorgehoben

14. Juli 2020 von Prof. David Damrosch, Harvard

Während Wu Cheng’en „Die Reise in den Westen“ von Meister Xuanzang aus dem siebten Jahrhundert dramatisierte, fand eine der bedeutendsten Figuren der modernen chinesischen Literatur, Lu Xun, seine Lebensrichtung durch eine Reise nach Osten – nach Japan, wo er Japanisch studierte und 1904 ein Medizinstudium begann. Er wechselte er den Kurs, nachdem ein Professor seinem Kurs stolz ein Bild aus dem Russisch-Japanischen Krieg (1904-5) zeigte, in dem ein japanischer Soldat gerade dabei war, einen chinesischen Spion in der von Japan besetzten Mandschurei enthaupten wollte, während eine Menschenmenge aus Chinesen regungslos dabei zusah.

Quelle:

Schockiert über den Applaus der Studenten um ihn herum beschloss Lu Xun, die Medizin für die Literatur aufzugeben. Wie er im Vorwort zu seiner ersten Geschichtensammlung, „Outcry“, schrieb: „So unhöflich eine Nation auch in ihrer körperlichen Gesundheit war, wenn ihre Menschen intellektuell schwach wären, würden sie niemals etwas anderes als Kanonenfutter oder gaffende Zuschauer werden, ihr Verlust für die Welt durch Krankheit kein Grund zum Bedauern. Die erste Aufgabe bestand darin, ihren Geist zu ändern; und Literatur und Kunst, so entschied ich damals, waren die besten Mittel zu diesem Zweck.“
Lu Xun hatte wenig Interesse daran, auf den konfuzianischen Traditionen aufzubauen, die er und viele Reformisten seiner Generation für nötig hielten, weggewischt zu werden, und wandte sich der Weltliteratur als Inspirationsquelle zu. 1907 gründeten er und sein Bruder Zhou Zuoren  in Tokio die Literaturzeitschrift Xinsheng („New Life“, [„Neues Leben“]), die sich auf Übersetzungen aus der westlichen Literatur konzentrierte; der Name ihres Journals erinnert an Dantes „Vita Nuova“. Die erste und einzige Ausgabe von Xinsheng verkaufte nur eine Handvoll Exemplare. Wie Lu Xun im Vorwort zu „Outcry“ ironisch bemerkte, „unser Neues Leben endete in einer Totgeburt.“

Trotz dieses Misserfolgs arbeiteten die Brüder nach ihrer Rückkehr nach China intensiv an Zeitschriften. Vor allem haben sie sich intensiv mit „New Youth“, [„Neue Jugend“], befasst, dem wichtigsten Magazin der chinesischen „Neue Kultur“-Bewegung. Es wurde erstmals 1917 in der französischen Konzession von Shanghai unter dem Doppeltitel Qīngnián/La Jeunesse veröffentlicht. Der französische Titel wurde im folgenden Jahr fallen gelassen, und der chinesische Titel wurde in Xīn Qīngnián, „Neue Jugend“, geändert, um den Modernisierungsschwerpunkt der Zeitschrift hervorzuheben.



Zu den Zielen der Herausgeber gehörte die Einführung neuer literarischer Formen wie der Kurzgeschichte im westlichen Stil, und sie versuchten, die Umgangssprache der einfachen Leute anstelle des stilisierten klassischen Chinesisch zu erheben, traditionell verwendet für das elitäre literarische Schreiben. Sie veröffentlichten neue Gedichte und Romane und übersetzten alles von „La Marseillaise“ bis Oscar Wilde, wobei sie sowohl chinesische Schriftzeichen als auch das römische Alphabet frei vermischten.

Das Zusammenspiel von chinesischen und westlichen Schriften, die in New-Youth-Figuren zu Beginn von Lu Xuns berühmtestem Werk, Die wahre Geschichte des Ah Q (1921-22), verwendet wurden. In einem Vorwort zu seiner Novelle würdigte Lu Xun auf komödiantische Weise die Kulturrevolution, die die Neue Jugend agitarisierte. Er behauptete, dass Ah-Q einen richtigen chinesischen Namen wie „Quei“ gehabt haben muss, der jetzt für die Geschichte verloren ist:

„Wie Konfuzius sagt: ‚Wenn ein Name nicht stimmt, werden die Worte nicht wahr klingen.‘ … Aber ich weiss nicht mal, wie Ah-Qs Nachname war … Ich weiß nicht einmal, wie ich Ah-Qs Name schreiben soll … was mir keine andere Wahl lässt, als das mysteriöse Quei ins englische Alphabet zu übertragen und es der Einfachheit halber mit Q: Ah-Q abzukürzen. Welcher Kompromiss reduziert mich auf das Niveau der Repressalien, die für New Youth verantwortlich sind … Das einzige, was mich tröstet, ist die Tatsache, dass der Charakter ‚Ah‘ absolut korrekt ist.“

Ah-Q stolpert durchs Leben, als revolutionäre Veränderungen sein Dorf erobern. Vergleichbar mit Tagores „Das Heim und die Welt“ arbeiten die Revolutionäre und die örtlichen Beamten zusammen, um ihren eigenen Interessen zu dienen. Am Ende der Geschichte wird Ah-Q wegen eines Raubüberfalls hingerichtet, den er nicht begangen hat; der örtliche Richter brauchte jemand Schuldigen. Ah-Q, ein chinesischer Candide, nimmt seinen eigenen Tod locker: „Er nahm an, dass es in dieser Welt das Schicksal aller war, irgendwann ins und aus dem Gefängnis geschleift zu werden. … Obwohl er sich manchmal ängstlich fühlte, war er den Rest der Zeit ziemlich ruhig. Es schien ihm, dass es in dieser Welt wahrscheinlich das Schicksal eines jeden war, sich irgendwann den Kopf abschneiden zu lassen.“

Lu Xun erkundete in seiner allerersten Geschichte „A Madman’s Diary“ (1918), [„Tagebuch eines Verrückten“], erstmals die Grenze zwischen Revolution und Reaktion, Vernunft und Wahnsinn. Lu Xuns Geschichte, die lose auf Gogols „Tagebuch eines Wahnsinnigen“ basiert, schockierte und inspirierte die Leser mit ihrer scharfen sozialen Satire, ihrer unzusammenhängenden Form und ihrer Verwendung von umgangssprachlicher Prosa, das demonstrierte, dass tatsächlich ein kraftvolles Werk von hohem literarischen Wert in der Umgangssprache verfasst werden konnte. Ein Leitmotiv ist der Widerstand der Menschen gegen den Bruch mit der Vergangenheit. Lu Xuns Verrückter glaubt, dass seine Dorfbewohner beabsichtigen, ihn zu töten und zu essen, und er hat das Gefühl, dass sie sich gegen ihn wandten, „nach zwanzig Jahren habe ich die Aufzeichnungen der Vergangenheit gestempelt“.

Die Geschichte beginnt mit einem Vorwort in nüchternem klassischem Chinesisch, das mit moderner medizinischer Terminologie gefüllt ist, wie sie Lu Xun während seines Medizinstudiums aufgenommen hatte. Wenn wir jedoch genau lesen, verunsichert das Vorwort die scheinbare Klarheit der objektiven Fallstudie eines „Verfolgungskomplexes“, der „für die medizinische Forschung von Nutzen sein kann“. Der Erzähler erzählt uns zunächst von seiner Entdeckung des Tagebuchs:

„In der Schule war ich eng mit zwei Brüdern befreundet, deren Namen ich hier nicht erwähnen möchte. Im Laufe der Jahre nach unserem Abschluss verloren wir jedoch allmählich den Kontakt. Vor nicht allzu langer Zeit hörte ich zufällig, dass einer von ihnen schwer erkrankt war, und, während ich zu Hause war, unterbrach ich meine Reise, um sie zu Hause aufzusuchen. Ich fand nur einen von ihnen zu Hause, der mir sagte, es sei sein jüngerer Bruder, der betroffen war. Er dankte mir für meine Besorgnis und teilte mir mit, dass sein Bruder sich längst vollständig erholt und sein Zuhause verlassen habe, um auf einen geeigneten offiziellen Posten zu warten. Er lächelte breit und zeigte mir zwei Bände eines Tagebuchs, das sein Bruder damals geschrieben hatte.”

Das klingt alles gut und schön, aber warum hat Lu Xun einen Bruder für seinen Verrückten vorgestellt und warum sagt er, dass er uns ihre Namen nicht sagt? Der Schlüsselbegriff hier könnte lauten: „Ich habe nur einen von ihnen zu Hause gefunden, der mir sagte, dass sein jüngerer Bruder betroffen war.“ Weiß der Erzähler überhaupt, welcher Bruder welcher ist? Können wir wirklich sicher sein, dass wir den gesunden Bruder treffen und nicht den Verrückten selbst? Was für ein breites Lächeln schenkt der namenlose Bruder, als er das Tagebuch übergibt? Falls der Erzähler den Verrückten trifft, was ist aus dem älteren Bruder geworden?

Das Tagebuch endet mit seinem berühmten letzten Eintrag: „Gibt es Kinder, die noch kein menschliches Fleisch gegessen haben? Rette die Kinder …” Möglicherweise kam der Verrückte nach dem Schreiben dieser verzweifelten Worte zur Besinnung, bestand seine strengen Prüfungen, und ist jetzt ein guter, aufrechter Bürger. Die Alternative ist jedoch ebenso möglich: Sicher, dass sein Bruder ihn ermorden und essen wollte, machte er den ersten Schlag. Als unser nüchterner Erzähler das Haus besucht, glaubt er, dass er in einer Welt der Wissenschaft und Rationalität lebt, aber er selbst könnte bald zum Nachtisch werden.

In seinem Vorwort zu „Outcry“ sagt Lu Xun, dass er die Geschichte als Antwort auf die Bitte eines Freundes um einen Beitrag geschrieben hat, als sich ein Freund an ihn wandte, um einen Beitrag für „New Youth“ zu leisten. Zuerst widerstand er:

“Ich entgegnete: „Stellen Sie sich ein Eisenhaus vor: ohne Fenster oder Türen, völlig unzerstörbar und voller gesunder Schlafender – alle kurz vor dem Ersticken. Lass sie im Schlaf sterben, und sie werden nichts fühlen. Ist es richtig zu schreien, die leichten Schläfer unter ihnen zu wecken und ihnen untröstliche Qualen zu bereiten, bevor sie sterben?“
Sein Freund antwortet: „Aber selbst wenn es uns gelingt, nur die wenigen zu wecken, gibt es immer noch Hoffnung – Hoffnung, dass das Eisenhaus eines Tages zerstört wird.“ Lu Xun gibt nach: „Er hatte Recht: So sehr ich es auch versuchte, ich konnte meinen eigenen Sinn für Hoffnung nicht ganz auslöschen.“ Er war weiterhin besorgt darüber, dass seine vorherrschende Stimmung des Pessimismus seine Leser nur entmutigen würde: „Ich wollte jüngere Generationen nicht anstecken – träumend von den herrlichen Träumen, von denen auch ich geträumt hatte, als ich jung war – mit der Einsamkeit, die mich quälte.”

Lu Xun wechselte vom Medizinstudium zur Literatur in der Hoffnung, die Seelen seiner Landsleute zu heilen, aber jetzt befürchtete er, dass seine Geschichten genau die Krankheit verbreiten würden, die sie heilen sollten. Doch das „Tagebuch eines Verrückten“, das aus dem internen Bürgerkrieg von Lu Xun zwischen Pessimismus und Hoffnung resultierte, leitete eine literarische Revolution ein. Wie wir morgen, eine Generation später, sehen werden, würde Eileen Chang die umgangssprachliche Revolution von Lu Xun in einem China weiterführen, das in einer neuen Ära des globalen Krieges gefangen ist.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-14-lu-xun-real-story-ah-q-and-other-stories

Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

[Lu Xun: Die wahre Geschichte des Ah Q. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1982.

Lu Xun: Tagebuch eines Verrückten. Übersetzung von Lisa Heinrich, Brigitte Höhenrieder, Hans Peter Hoffmann, Heiko Lübben, Lucia Welker, Martin Zamoryn. Chinesisches Lektorat von Chen Xian, Chen Yun Jou, Lyu Huiyun, Lyu Yinan, Tian Siyue, Tu Yuxin, Dominik Wu, Xu Bei, Xu Ke, Yang Xuhang, Yen Yun, Zhang Haoyu, Zhang Jing, Zhu Lingjiee. Projektverlag (edition pengkun), Bochum 2019.]

[Zum Weiterlesen gibt es eine dramatische Bühnenbarbeitung in der DDR von Crhistoph Hein: Iwabuchi, Tatsuji. „Die Dramatisierung Der „wahren Geschichte Des Ah Q” Von Lu Xun in Deutschland Und in Japan.“ Zeitschrift Für Germanistik, Neue Folge, 5, no. 2 (1995): 391-95. Accessed July 20, 2020. www.jstor.org/stable/23975454.
Hein, Christoph: Die wahre Geschichte des Ah Q. Nach Lu Xun. Ein Kammerspiel in drei Akten. Berlin, Henschel 1988]

13. Juli: China: Wu Cheng’en, „Die Reise in den Westen“

Hervorgehoben

13. Juli 2020 von Prof. David Damrosch, Harvard
[Die Reise in den Westen. Ein klassischer chinesischer Roman. Mit 100 Holzschnitten nach alten Ausgaben. Übersetzung und Kommentar von Eva Lüdi Kong. Reclam, Stuttgart 2016.
Eva Lüdi Kong wurde auf der Leipziger Buchmesse 2017 mit dem Übersetzungspreis ausgezeichnet.]

Nun, da wir uns von Indien nach China gen Osten bewegen, beginnen wir mit einem Roman, der sich von China nach Indien gen Westen bewegt. Wu Cheng’ens „Die Reise in den Westen“ basiert auf einer tatsächlich stattgefundenen Reise eines Mönchs mit Namen Xuanzang aus dem siebten Jahrhundert, der siebzehn Jahre lang Zentralasien und Indien durchreist ist und studiert hat.

Quelle: Monk Xuanzang

645 kehrte er schließlich mit einem Fundus von mehr als sechshundert buddhistischen Abhandlungen nach China zurück und verbrachte den Rest seines Lebens mit einer Gruppe von Amtsbrüdern, die Sanskrit-Originale zu übersetzen und mit Kommentaren zu versehen. Der Kaiser von Meister Xuanzang bat ihn, die Geschichte seiner epochalen Reise aufzuschreiben, und fast ein Jahrtausend später wurden seine Great-Tang-Aufzeichnungen der westlichen Regionen zur Grundlage für einen der „vier Klassiker“ der traditionellen chinesischen Fiktion, „Die Reise in den Westen“.

Diese massive Erzählung, die 1592 anonym veröffentlicht wurde, wird normalerweise Wu Cheng’en zugeschrieben, einem kleinen Beamten der Ming-Dynastie. In Wu Cheng’ens Bericht unternimmt Meister Xuanzang (normalerweise Tripitaka oder „Drei Körbe“ genannt, bezogen auf drei Kategorien buddhistischer Texte, die er nach Hause gebracht hat) seine Reise in Begleitung von vier phantasievollen efährten, mit denen ihn Guanyin, die Göttin der Barmherzigkeit, ausgestattet hat: ein bekehrter Fluss-Oger, ein vermenschlichtes Schwein, ein aus einem Drachen verwandeltes Pferd, und, am bedeutendsten, ein redseliger, und widerspenstiger Affe, Sun Wukong oder „Affe, der zur Leere erwacht ist“.

Zusammen werden sie zu einer Art Gemeinschaft der Sutras. Im Verlauf von hundert Kapiteln überwinden sie einundachtzig Gefahren und Prüfungen, von wilden Tieren über blutrünstige Banditen bis hin zu blutrünstigen Dämonen, bevor sie schlussendlich ihr Reiseziel in Indien erreichen, wo sie die Gabe der heiligen Schriften vom Buddha selbst erhalten.

Der historische Xuanzang war ein Pilger, der sich trotz eines imperialen Verbots von Auslandsreisen nach Indien wagte, aber Wu Cheng’en fügt einen konfuzianischen Schwerpunkt hinzu. Er macht Tripitaka zu einem treuen Diener seines Kaisers, der ihn beauftragt, die heiligen Schriften aufzusuchen, und die Kapitel der Einleitung und am Schluss rahmen die Geschichte innerhalb der politischen Gedanken aus dem 16. Jahrhunderts über die imperiale Regierung und das Wachstum der Bürokratie ein. Die einundachtzig Abenteuer, die den Großteil der Erzählung ausmachen, behandeln darüber hinaus nun alchemistische Übungen und magische Verwandlungen, typisch für den populären Daoismus.

Während Xuanzang sich der Textanalyse und der raffinierten philosophischen Debatte widmete, spiegelt Wus Erzählung ein daoistisches Verständnis der Welt als grundlegendes mentales Konstrukt wider, dessen Bedeutung am besten durch Meditation und mentale Disziplin jenseits der Worte erfasst wird. An einem Punkt in der Geschichte streiten sich Tripitaka und Sun Wukong über die korrekte Interpretation eines Sanskrit-Schlüsseltextes, des Herz-Sutra: „“Affenkopf!‘, schnappte Tripitaka. „Wie kannst du es wagen zu behaupten, dass ich seine Interpretation nicht kenne! Weisst du es?“ Sun Wukong besteht darauf, dass er es tut, verstummt dann aber. Als das Schwein und der Oger ihn als zu unwissend verspotten, um zu antworten, tadelt Tripitaka sie. „Stoppt diese Tratscherei!“ sagt er; „Wukong interpretierte in einer sprachlosen Sprache. Das ist wahre Interpretation.“

Dem Roman zufolge hat der Buddha selbst beobachtet, dass in Chinas Teil der Welt „sie gierig, lüstern, mörderisch und streitsüchtig sind. Ich frage mich, ob eine Kenntnis der Wahren Schriften keine Verbesserung bewirken würde.“. Und so inspiriert er Chinas Kaiser, einen Pilger zu schicken, um seine „Drei Körbe“ mit heiligen Schriften zu erhalten. „Einer enthält den Vinaya, vom Himmel sprechend, einer enthält die Sastras, die von der Erde erzählen, einer enthält die Sutras, die die Verdammten retten. Das Ganze ist in fünfunddreißig Absätze unterteilt, die auf 15.144 Rollen geschrieben sind. Diese sind der Weg zur Perfektion, das einzige Tor zur Tugend.“

Eine grundlegende Frage für jeden Leser von „Reise in den Westen“ ist die Entscheidung über die Beziehung zwischen dieser religiösen Kosmologie und den sozialen und politischen Geografien der menschlichen Welt. Die beiden wichtigsten Übersetzer der Geschichte ins Englische, Arthur Waley und Anthony Yu, haben sehr unterschiedliche Ansätze verfolgt. Anthony Yus vierbändige Übersetzung gibt das gesamte Werk wieder, einschließlich seiner 745 reflektierenden Gedichte, und in seiner hundertseitigen Einleitung beschreibt er den religiösen und philosophischen Hintergrund für das Verständnis des Buches als Allegorie religiöser Selbstkultivierung. So verkörpert Sun Wukong das buddhistische Konzept des „Affen des Geistes“, dessen rastloses Streben beruhigt und erleuchtet werden muss.

Im Gegensatz dazu erschuf Arthur Waley in seiner Übersetzung aus dem Jahre 1943 eine Art Romanisierung des Originals, wie er es zuvor mit „The Tale of Genji“ getan hatte, das uns nächste Woche ansehen werden. Er unterdrückte fast alle Gedichte und verkürzte den Text radikal, und fokussierte sich dabei auf die Heldentaten des lebhaften, anarchischen Sun Wukong, er betitelte sogar seine Version „Monkey“, [„Affe“] .

Unter der Vorgabe Waleys beschreiben die ersten sieben Kapitel des Romans Sun Wukongs magische Ursprünge (er wurde aus einem Stein geboren) und zeichnen seinen fast erfolgreichen Versuch, in den Himmel einzudringen und ihn zu regieren, unterstützt von seinen enormen alchemistischen Kräften und seiner Fähigkeit, sich in eine ganze Armee von invasierende Affen aufzuspalten. Der himmlische Jade-Kaiser versucht ihn mit einem kleinen Posten abzukaufen, aber der Affe ist nicht zufrieden. Während die himmlische Bürokratie versucht, ihn in Einklang zu bringen, klingt er wie ein mächtiger Warlord, der die Grenzen eines irdischen Kaisers prüft. „Welches Verbrechen gibt es, dass Sie nicht begangen haben?“ werfen empörte Schergen des Jade-Kaisers Sun Wukong vor. „Sie haben Sünde auf Sünde gestapelt; erkennen Sie nicht, was Sie getan haben?“ „Ganz richtig“, antwortet er ruhig, „alles ganz richtig. Was werdet ihr dagegen unternehmen?“

In Übereinstimmung mit dieser Betonung macht eine aktuelle chinesische Filmversion Sun Wukong zum Affen, der König sein würde, [Monkey King 2]:

Quelle: Monkey King 2

Die Bürokratie regiert sogar die Unterwelt. Als Sun Wukong in das Land der Dunkelheit geschleppt wird, fordert er die Angestellten des Königs des Todes auf, ihn in ihren Aufzeichnungen zu lokalisieren, aber er passt zu keiner ihrer Kategorien: „Der Beamte tauchte in einen Nebenraum und kam mit fünf oder sechs Hauptbüchern heraus, die in zehn Fächer unterteilt waren, und begann diese nacheinander durchzuarbeiten – kahle Insekten, pelzige Insekten, geflügelte Insekten, schuppige Insekten […] Er gab verzweifelt auf und versuchte es mit Affen. Aber der Affenkönig mit menschlichen Eigenschaften war nicht da.“ Schließlich lokalisiert sich Sun Wukong in einer vermischten Kategorie: „Abstammung: Naturprodukt. Beschreibung: Steinaffe.” Sein Eintrag zeigt eine Lebensdauer von 342 Jahren, aber Sun Wukong betont, dass er unsterblich geworden ist, und streicht kühn seinen Namen und den seiner Affenhandlanger durch; die Bürokraten der Unterwelt sind zu verängstigt, um sich ihm zu widersetzen.

Mystik und Realpolitik kommen in der gesamten Erzählung zusammen. Auf dem Höhepunkt der Geschichte erreichen Tripitaka und seine Gefährten endlich den lang ersehnten Heiligen Berg in Indien. Dort befiehlt der Buddha gnädig zwei Assistenten, sie zu seiner Schatzkammer zu bringen und eine gute Auswahl an Schriftrollen zu treffen, „für diese Priester zum Zurücktragen in den Osten, und dort für immer ein Segen sein können“. Alles sollte gut sein, aber Tripitaka vernachlässigt es, die Assistenten zu bestechen, und sie rächen sich, indem sie ein kräftiges, aber trügerisches Bündel Schriftrollen zusammenpacken. Auf dem Heimweg machen die Pilger eine schockierende Entdeckung: Die Schriftrollen sind alle leer. Weinend ruft Tripitaka aus: „Was nützt es, einen wortloses, leeres Band wie dieses zurückzutragen? Wie könnte ich dem Angesicht des Tang-Kaiser begegnen?“. Sie kehren eilig zum Heiligen Berg zurück – nur damit ein lächelnder Buddha antwortet, dass er die ganze Zeit über wusste, was geschehen würde. Er enthüllt, dass die Assistenten trotz ihrer selbst das Richtige getan hatten, da „diese leeren Texte tatsächlich wahre, wortlose Schriften sind, und sie sind genauso gut wie diejenigen mit Worten.“. Er räumt jedoch ein, dass „die Kreaturen in Ihrem Land des Ostens so töricht und unaufgeklärt sind, dass ich keine andere Wahl habe, als Ihnen jetzt die Texte mit Worten zu übermitteln.“. Sprache und Wahrnehmung stoßen an ihre Grenzen, wie in Attars „Konferenz der Vögel“, wo das Streben nach Erleuchtung durch die Gebiete der Verwirrung und des Nichts verläuft und die Vögel endlich die Grenzen aller Vision erkennen.

Ob in Arthur Waleys simianzentrierter Abkürzung oder in Anthony Yus weitläufiger Version mit hundert Kapiteln, ist die „Reise in den Westen“ eine Tour de Force, ein großartiges Werk sowohl der Weltliteratur als auch der jenseitigen Literatur. Wir könnten einen ähnlichen Effekt in der europäischen Literatur erzielen, wenn wir Dantes Hundert-gesangliche „Göttliche Komödie“ mit Don Quijote kombinieren könnten, einer weiteren erweiterten Erzählung von komischen Missgeschicken, die ebenfalls ausführliche Wortgeplänkel zwischen einem idealistischen Meister und seinem erdigen Diener beinhaltet. Cervantes veröffentlichte den ersten Band von Quijote im Jahr 1605, nur wenige Jahre nach dem Erscheinen von Wu Cheng-ens Meisterwerk im Jahr 1592. Obwohl diese beiden großen Schriftsteller voneinander nicht wissen konnten, könnten ihre Helden Quijote und Tripitaka sowie ihre Gefährten Sancho Panza und Sun Wukong einen langen Weg zusammen bestreiten, „nel mezzo del cammin de nostra vita”, [„auf der Mitte des Weges von unserem Leben“], wie Dante sagen würde: mitten auf unserem Lebensweg.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-13-china-wu-chengen-journey-west

Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.
Hier ist eine exzellente Quelle in englischer Sprache: https://journeytothewestresearch.com

10. Juli: Jhumpa Lahiri, „Melancholie der Ankunft“

Hervorgehoben

10. Juli 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

[1999: Interpreter of Maladies. Übersetzt von Barbara Heller: Melancholie der Ankunft. Blessing, München 2000]

Die Globalisierung der indischen Literatur durch Exilanten und Emigranten wie Rushdie oder Norbu erreicht ein weiteres Phase im Werk der Kinder der Einwanderer, die generationsübergreifend auf die distante Heimat ihrer Eltern zurückblicken und die der anhaltenden Präsenz eines „Heimat“-Landes bewältigen, die sich drastisch von dem unterscheidet, mit dem sie aufgewachsen sind. Jhumpa Lahiri bringt diese Bedenken in ihrer mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Sammlung „Interpreter of Maladies“ (1999), [auf Deutsch „Melancholie der Ankunft“] bewegend zum Ausdruck. Geboren 1967 in London, nachdem ihre Eltern aus Indien nach England ausgewandert waren, zog ihre Familie, als sie zwei Jahre alt war, nach Rhode Island, wo ihr Vater eine Stelle als Universitätsbibliothekar gefunden hatte. Frühere Generationen von Einwanderern hatten oft wenig Kontakt zu ihren Heimatländern, aber Lahiris Mutter wollte, dass sie sich mit ihrer Großfamilie in Indien verbunden fühlte. Sie unternahmen während ihrer Kindheit häufige Reisen nach Bengalen, daher bestand ihre Erfahrung aus einer anhaltenden Verbindung, wenn auch aus einiger Entfernung.

Wie Rushdies „Osten, Westen“ besteht Lahiris „Melancholie der Ankunft“ aus neun Geschichten, von denen einige in Indien und die restlichen in Amerika spielen. Bezeichnenderweise hat sich der Anteil verschoben, nur drei der neun finden in Indien statt. Ihre Charaktere sind in der Regel dauerhaft in den Vereinigten Staaten angesiedelt, oft die Kinder von Einwanderern und nicht die Einwanderer selbst. Dennoch bleibt ihr Leben provisorisch und in erheblichem Maße unstet, wie wir in der Eröffnungsgeschichte “A Temporary Matter” , wortwörtlich „Eine vorübergehende Angelegenheit“ sehen. Die Geschichte handelt von einem jungen Ehepaar, Shoba und ihrem Ehemann Shukumar. Sie waren in Arizona bzw. in New Hampshire aufgewachsen und trafen dann in Cambridge, Massachusetts, bei einem Konzert einer Gruppe bengalischer Dichter aufeinander, wo sie beide gelangweilt waren, weil sie dem literarischen Bengali der Dichter eigentlich nicht folgen konnten.

Lahiri zeichnet Shobas und Shukumars bikulturelles Leben durch scharf beobachtete Details wie die Mischung aus indischen Gewürzen und italienischer Pasta in ihrer Speisekammer. Lahiri hatte an der Boston University in Renaissance-Drama promoviert, und die Geschichte liest sich fast wie ein Einakter, der auf der häuslichen Bühne der Wohnung des Paares spielt, während sie sich bemühen, mit ihrer Trauer über den Verlust ihres ersten Kindes fertig zu werden, der einige Monate zuvor tot geboren wurde. Ihre unausgesprochenen Gefühle brechen an mehreren Abenden bei Kerzenschein heraus, wenn der Strom in der Nachbarschaft ausfällt – die „vorübergehende Angelegenheit“ des Titels der Geschichte, obwohl es am Ende der Geschichte so aussieht, als ob ihre Ehe auch nur vorübergehend sein könnte.

Der Großteil des Buches betrifft in ähnlicher Weise Indianer-Amerikaner der zweiten Generation, entweder zu Hause oder zu Besuch in Indien. Die Titelgeschichte „Melancholie der Ankunft“, auf Englisch “Interpreter of Maladies”, zeigt ein junges Paar aus New Jersey, Raj und Mina Das und nach Amerika benannten Kinder der dritten Generation: Tina, Ronny und Bobby. Im Urlaub in Indien besucht die Familie den riesigen Sonnentempel in Konarak, der für seine erotischen Schnitzereien bekannt ist:

Sie bereisen die Baustelle mit einem Tourguide, Herrn Kapasi (es wird kein Vorname angegeben), der Führungen anbietet, um sein Einkommen neben seiner Hauptbeschäftigung in einer Arztpraxis aufzubessern. Dort nutzt er seine mehrsprachigen Fähigkeiten, um als „Dolmetscher für Krankheiten“ zu fungieren und übersetzt zwischen dem Arzt der Klinik und den vielen Patienten, die Gujarati sprechen, was der Arzt nicht beherrscht.

Während sie die Seite besichtigen, beobachten wir Mr. Kapasis Unbehagen mit dem gelangweilten Raj und der attraktiven, aber egozentrischen Mina, da sie ihre weinerlichen Kinder nicht disziplinieren können, die ihre Eltern sogar mit Vornamen ansprechen. Sie werfen kaum einen Blick auf die komplizierten Skulpturen der Tempel. Raj nennt sie „cool“, während Mina sie „nett“ nennt – „Mr. Kapasi war sich nicht sicher, was genau das Wort andeutete, aber er hatte das Gefühl, dass es eine positive Antwort war. “ Doch als er Mina auf Details hinweist, beginnt er, die Skulpturen neu zu sehen: „Obwohl Herr Kapasi unzählige Male im Tempel gewesen war, fiel es ihm ein, als er die barbusigen Frauen ebenfalls anstarrte, dass er seine eigene Frau nie völlig nackt gesehen hatte “ Raj geht mit den Kindern weg und Kapasi findet sich allein mit Mina wieder; er fühlt eine plötzliche Intimität und imaginiert eine dauerhafte Korrespondenz per Post. Unerwartet macht Mina ihm ein Geständnis, vielleicht bewegt durch den Anblick der leidenschaftlichen Gestalten, die sie untersuchen: Bobby ist nicht der Sohn ihres Mannes, sondern das Ergebnis eines One-Night-Stands, den sie mit einem seiner besuchenden Punjabi-Freunde gehabt hatte.

Kapasi spürt Minas Wunsch, dass er die Erkrankung ihrer Ehe übersetzt, und er stellt sich vor, als Vermittler zu fungieren, wenn sie beschließt, Raj die Nachricht zu überbringen. Doch als er versucht, ihre Gefühle zu untersuchen, schlägt seine Anstrengung fehl.
“Er beschloss, mit der offensichtlichsten Frage zu beginnen, um, die Sache auf den Punkt zu bringen, fragte er: ,Ist es wirklich Schmerz, den Sie fühlen, Frau Das, oder ist es Schuld?’

Sie drehte sich zu ihm um und starrte, mit Senföl auf ihren frostigen rosa Lippen . Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber als sie Mr. Kapasi anstarrte, schien ein gewisses Wissen vor ihren Augen aufzutauchen, und sie hielt inne. Es machte ihn fertig; In diesem Moment wusste er, dass er nicht einmal bedeutend genug war, um richtig beleidigt zu werden.”

Die von Kapasi ausgemalte briefliche Verbindung wird sich niemals realisieren.

Die meisten Geschichten in „Melancholie der Ankunft“ betreffen Charaktere der zweiten Generation, aber in der Schlussgeschichte “The Third and Final Continent,” [wortwörtlich „Der dritte und letzte Kontinent“], gibt Lahiri einen fiktiven Bericht über die Erfahrungen ihrer Eltern mit Einwanderern. Die Geschichte wird in der ersten Person von einem jungen bengalischen Mann erzählt, der von Kalkutta zur Universität nach London und schließlich nach Cambridge, Massachusetts, ausgewandert ist, um als Bibliothekar am MIT zu arbeiten. Er beschreibt seine Anpassung mit ungewöhnliche Erfahrungen; wie in der Eröffnungsgeschichte sind diese oft mit Essen und Häuslichkeit verbunden: „zu der Zeit hatte ich noch kein Rindfleisch konsumiert. Schon die einfache Aufgabe, Milch zu kaufen, war für mich neu: In London hatten wir jeden Morgen Flaschen bis vor unserer Tür geliefert bekommen.“

Seine Eltern hatten eine Ehe für ihn arrangiert und, bevor er in die USA zog, war er zur Hochzeit nach Hause geflogen. Als die Geschichte beginnt, erwartet er nervös die Ankunft seiner Frau Mala, mit der er noch keine ehelichen Beziehungen hatte. Er hatte ein Zimmer im Haus einer alten Dame, Mrs. Croft, gemietet, aber in Vorbereitung auf Malas Ankunft hat er eine kleine Wohnung gemietet, in der sie sich unbeholfen niederlässt. Ihre ersten Wochen sind angespannt, und der Erzähler findet selbst unfähig, echte Gefühle für sie zu haben. Es scheint, dass die Ehe scheitern könnte, bis er sie zu Mrs. Croft bringt, die Mala als „perfekte Frau!“ deklariert! Ihre altmodische Phrase ist ein Indiz ihres fortgeschrittenen Alters; sie ist über hundert Jahre alt. Anstatt Mala im heutigen Amerika als unpassend zu empfinden, kann sich Mrs. Croft sich in Bezug auf ihre eigene Jugend mit ihr verbinden und vielleicht das anhaltende Echo des britischen Raj in Malas Kleidung und Gebaren spüren. Der Erzähler sagt: „Ich stelle mir diesen Moment in Mrs. Crofts Salon gerne als den Moment vor, in dem sich die Distanz zwischen Mala und mir zu verringern begann.“

Der „Melancholie der Ankunft“ kann als Antwort auf Rushdies „Osten, Westen“ oder sogar als Kritik daran angesehen werden. Der magische Realismus wird durch den heimischen Realismus ersetzt, der eher mit zurückhaltender Beredsamkeit als mit Überschwang vermittelt wird. Ein wiederkehrendes Diskussionsthema zwischen der Erzählerin und Mrs. Croft ist die erste amerikanische Mondlandung im Jahr 1969, die kürzlich stattgefunden hat: „Die Astronauten waren an den Ufern des Meeres der Ruhe gelandet, hatte ich gelesen, und reisten weiter als jeder andere die Geschichte der Zivilisation.“ Anstelle von Star Treks „unerschrockenen Diplonauten“, die außerirdischen Wesen auf exotischen Planeten gegenüberstehen, hören wir von tatsächlichen Astronauten auf dem tatsächlichen Mond.

Diese epochale Reise steht im Gegensatz zu der des Erzählers und seiner Frau: „Wie ich war Mala weit weg von zu Hause gereist, ohne zu wissen, wohin sie gelangen würde, oder was sie vorfinden würde, und zwar aus keinem anderen Grund als um meine Frau zu sein.“ Am Ende der Geschichte hat das Paar einen Sohn in Harvard und „wenn ihn der Mut verlässt, so sage ich ihm, dass es kein Hindernis gibt, das er nicht überwinden kann, wenn ich auf drei Kontinenten überleben kann. Während die Astronauten, Helden für immer, nur Stunden auf dem Mond verbracht haben, bin ich fast dreißig Jahre in dieser neuen Welt geblieben.“ Spektakuläre Attentate, magische Relikte und verbale Pyrotechnik sind nicht nötig, um die Spannungen und Möglichkeiten aufzudecken, die im globalen Dorf Cambridge, Massachusetts, erkundet werden müssen. Wie Lahiris Erzähler in den letzten Worten der Geschichte und des Buches sagt: „Es gibt Zeiten, in denen ich von jeder Meile, die ich zurückgelegt habe, jeder Mahlzeit, die ich gegessen habe, jeder Person, die ich gekannt habe, jedem Raum, in dem ich geschlafen habe, verwirrt bin. So gewöhnlich das alles auch erscheinen mag, gibt es Zeiten, in denen dies außerhalb meiner Vorstellungskraft liegt.“

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-10-jhumpa-lahiri-interpreter-maladies
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

8. Juli: Salman Rushdie, “Osten, Westen”

Hervorgehoben

8. Juli, von Prof. David Damrosch, Harvard
[Salman Rushdie: “Osten, Westen (East, West)”. Kurzgeschichten. Kindler, München 1995; Rowohlt, Reinbek 2010]

Die sektiererischen Konflikte, die Tagore 1916 behandelte, explodierten nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 mit der traumatischen Teilung des Landes in die von Hindi dominierte Union von Indien und das muslimische Dominion von Pakistan (das jetzt selbst in Pakistan und Bangladesch unterteilt ist). Inmitten von Gewaltwellen wurden über zehn Millionen Menschen nach religiösen Grenzlinien vertrieben:

Salman Rushdie wurde in diese Zeit des Konflikts hineingeboren, deren langwierige Auswirkungen einen Großteil seiner Arbeit geprägt haben. In seinem bekanntesten Roman „Midnight’s Children“ (1981), zu deutsch “Mitternachtskinder”, hat er seinen Erzähler-Helden Saleem Sinai zu einem von 1.001 „Mitternachtskindern“ gezählt, die in der ersten Stunde der indischen Unabhängigkeit am 15. August 1947 geboren wurden (er selbst wurde tatsächlich zwei Monate früher geboren). Saleem wurde in Bombay als Sohn einer verarmten hinduistischen alleinerziehenden Mutter geboren, wird jedoch bei der Geburt mit einem Kind aus einer wohlhabenden muslimischen Familie verwechselt und wächst in dem Luxus auf, den sein Stellvertreter, der Straßenkriminelle und Saleems Erzfeind wird, hätte genießen sollen.

Rushdies weitläufiges Romanwerk behandelt alles von „Tausendundeiner Nacht“ und „A Passage to India“, auf Deutsch „Reise nach Indien“, bis hin zum Bollywood-Film, aber hier werde ich mich auf Rushdies Destillation seiner Themen in seiner brillanten Kurzgeschichtensammlung „East, West“ (1994), auf Deutsch „Osten, Westen“ konzentrieren, die uns gänzlich in unsere heutige globale Ära trägt. Drei Geschichten unter der Überschrift „Osten“ spielen in Indien. Drei Geschichten unter der Überschrift „Westen“ spielen in Europa. und drei Geschichten unter der Überschrift „Osten, Westen“ beinhalten Hin-und-Her-Bewegungen zwischen Kontinenten. Durch die gesamte Sammlung mischt Rushdie clever Realismus und Fantasie. Eine Geschichte im Abschnitt „Osten“, “The Prophet’s Hair”, erzählt eine scheinbar komplett fantastische Geschichte: Eine Phiole mit Haaren aus dem Bart des Propheten Muhammad wird aus dem Hazratbal-Schrein in Srinagar gestohlen und verursacht eine große öffentliche Aufruhr, die auch zu Umwälzungen im Leben von Hashim führen, einem Geldverleiher, der es erwirbt. „Wie unter dem Einfluss des misserworbenen Relikts“ wird er plötzlich sehr religiös und beginnt unkontrolliert, seiner Familie harte Wahrheiten zu sagen, mit fatalen Folgen. Die einzig wirkliche Nutznießerin der Anwesenheit des Relikts ist Hashims blinde Frau, die auf wundersame Weise ihr Augenlicht wiedererlangt.

Der magische Realismus dieser Geschichte basiert auf sehr konkreten Realitäten. Die Phiole mit den Haaren des Propheten wurde am 26. Dezember 1963 tatsächlich aus dem Hazratbal-Schrein gestohlen.

In der gesamten Region gab es Massenproteste, und eine Gruppe namens Awami-Aktionskomitee wurde gebildet, um das Relikt zu bergen, das einige Tage später gefunden wurde. Dieser scheinbar geringfügige Vorfall kristallisierte das Stimmung der Kashmiri-Muslime heraus, dass ihre Kultur von der hinduistischen Mehrheit belagert werde. Das Awami-Aktionskomitee brachte die Nationale Befreiungsfront von Jammu und Kaschmir hervor, die ihren bewaffneten Kampf für ein unabhängiges und vereintes Kaschmir startete.

Der nationale politische Subtext der Geschichte wird ebenfalls durch einen persönlicheren verdoppelt. Rushdies 1988er Roman „The Satanic Verses“, auf Deutsch „Die Satanischen Verse“, hatte Demonstrationen von Muslimen provoziert, die zutiefst beleidigt über die respektlose Darstellung des Propheten und seiner Frauen durch den Roman waren. Der iranische Ayatollah Khomeini erließ ein Dekret, in dem ein Todesurteil angekündigt und Rushdies Mörder eine große Belohnung versprochen wurde — ein Dekret, das der Ayatollah sicherstellte, um für ein globales Publikum verbreitet zu werden:

Rushdie schrieb „Osten, Westen“, während er sich unter Polizeischutz in England versteckte, und einige der Geschichten reflektieren versteckt seine Situation.

In „The Prophet’s Hair“ ist der Geldverleiher Hashim ein begeisterter Sammler aller möglichen Kuriositäten – ähnlich wie Rushdie, der Schriftsteller – von Schmetterlingen über Samoware bis hin zu Badespielzeug. Hashim glaubt fälschlicherweise, dass er die Phiole als ästhetisches Objekt wie jedes andere behandeln kann: „Natürlich möchte ich es nicht wegen seines religiösen Wertes“, sagt er sich. „Ich bin ein Mann der Welt. Ich sehe es nur als ein weltliches Objekt von großer Seltenheit und blendender Schönheit.“ Er lernt bald, auf Kosten seiner und seiner Familie, dass er Form nicht über Inhalt, Schönheit über Bedeutung bewerten kann. In seinem doppelten persönlichen und politischen Kontext ist „The Prophet’s Hair“ ein zweischneidiges Skalpell, das den egozentrischen Säkularismus des Autors sowie den selbstgerechten Zorn der Fundamentalisten untersucht.

„Chekov und Zulu“, die zentrale Geschichte von „Osten, Westen“ letztem Abschnitt, schreibt Dualität in seinen Titel. Die Geschichte handelt jedoch überhaupt nicht von Russen und Südafrikanern. Die Titelfiguren sind vielmehr zwei indische Angestellte des britischen Geheimdienstes – moderne Versionen von Kiplings Hurree Babu –, die sich gerne vorstellen, Star-Trek-Rollen zu spielen, obwohl sie den Namen des Japaners Mr. Sulu geändert haben: „Zulu ist Ein besserer Name für das, was manche für einen wilden Mann halten“, so Chekov. „Für einen mutmaßlichen Wilden. Für einen mutmaßlichen Verräter. “ Als Zulu mit einer Gruppe von Sikh-Separatisten, die er infiltriert hat, in eine brenzlige Situation gerät, sendet er Chekov eine dringende Nachricht: „Beam me up.

Vor diesem Zeitpunkt war Zulu während der Undercover-Arbeit in Birmingham verschwunden, kurz nach der Ermordung von Indira Gandhi im Jahr 1984 durch einen ihrer Sikh-Leibwächter. Als die Geschichte beginnt, hat India House Chekov zu Zulus Haus in einem Vorort von London geschickt, um eine Anfrage zu stellen. Chekovs Gespräch mit „Mrs Zulu“ ist ein komisches Meisterwerk des indisch-englischen Dialogs, aber es zeigt auch den Verdacht, dass ihr Ehemann in zwielichtige Geschäfte mit seinen befreundeten Sikhs verwickelt war:

„Hab das Haus verdammt gut repariert, Mrs. Zulu, jo-jo. Geschmackvolles Dekor, in Pik, muss ich sagen. So viel geschliffenes Glas! Dieser Grenzgänger Zulu muss zu viel Geld bekommen, mehr als der Ihnen echt ergebene gescheite Hund.“
„Nein, wie ist das möglich? Das Handeln von Diptys Tankha muss weit über dem des Sicherheitschefs liegen.“

Die freie Vermischung von englischer und hinduistischer Syntax und Vokabeln – nicht mehr länger kursiv oder übersetzt, wie es Kipling getan hätte – taucht den Leser ins das bikulturelle Dasein der Charaktere ein.

Die beiden Freunde hatten ihre Spitznamen als Schüler adoptiert, sich mit der multinationalen Crew von Star Trek identifizierend: „Unerschrockene Diplonauten. Unsere zehnjährige Mission, neue Welten und neue Zivilisationen zu erkunden.“ Doch die globale Landschaft ist niemals flach oder gleich. Chekov und Zulu wurden keine Star-Trek-Anhänger durch Rezeption der ursprünglichen Fernsehserie: „Kein Fernseher, auf dem man es sehen kann, siehst du“, erinnert sich Chekov. Nicht fähig, die Show selbst zu sehen, werden sie via die Lektüre durch „ein paar billige Taschenbuch-Romane“ zu Fans. Bezeichnenderweise sind sie in der „Doon School“ eingeschrieben, einer Elite-Akademie im britischen Stil, gegründet in den letzten Jahren des Raj, um zukünftige indische Politiker und Beamte auszubilden; wie es Rushdies indischen Leser gewahr wäre, waren die berühmtesten Absolventen der Schule die Söhne von Indira Gandhi, Sanjay und Rajiv.

Als Erwachsene pendeln die beiden Freunde zwischen England und Indien hin und her, engagiert in politische Arbeit und Spionage. Am Ende der Geschichte war Chekov in eine repressive Komplizenschaft zwischen der britischen und der indischen Regierung verwickelt, die beide die Bedrohung durch Terrorismus nutzen, um die Opposition zu unterdrücken, und er stirbt bei der Explosion, als ein tamilischer Separatist Rajiv Gandhi ermordet.

In seinen letzten Momenten reflektiert Chekov über die weltweite Verbreitung des Terrors in Bezug auf Import und Export:

Da die Zeit stehen geblieben war, konnte Chekov eine Reihe privater Beobachtungen machen. „Diese tamilischen Revolutionäre sind keine England-Rückkehrer“, bemerkte er. „Endlich haben wir gelernt, die Waren zu Hause herzustellen, und müssen sie nicht mehr importieren. Bang geht diese alte Dinner-Party als Standby; sozusagen.“ Und weniger trocken: „In der Tragödie ist nicht, wie man stirbt“, dachte er. „Es ist, wie man gelebt hat.“

Zu diesem Zeitpunkt ist Zulu – empört über die Gebrauch terroristischer Bedrohungen durch die indische Regierung als Ausrede zur Unterdrückung von Sikhs – aus dem Regierungsdienst zurückgetreten und hat sich in Bombay als Leiter zweier privater Sicherheitsunternehmen niedergelassen. Diese nennt er Zulu Shield (Zulu Schutzschild) und Zulu Spear (Zulu Speer) und ehrt nun direkt die Zulus in Südafrika, die sich den niederländischen Siedlern widersetzt und dann gegen die Briten gekämpft hatten. So vereinen sich futuristische Fantasie und imperiale Geschichte – Star Trek und die Boer Trekkers – in Zulus bikulturellem Bombay.

Wie Kipling und Tagore vor ihm schreibt Rushdie sowohl für ein Heimisches Publikum als auch für eine globale Leserschaft, aber für ihn gestaltet sich sogar der eigentliche Begriff „Zuhause“ ambig. In einem eloquenten, reflektierenden Aufsatz, „Imaginary Homelands“, 1982 nach dem plötzlichen Erfolg von „Mitternachtskindern“ verfasst, beschreibt Rushdie, wie er nach vielen Jahren der Abwesenheit nach Bombay zurückkehrt und dann in seinem Roman versucht, seine frühen Jahre wiederzuerschaffen, im Wissen dessen, dass seine Erinnerungen fragmentarisch, wechselhaft und unsicher waren. In einem resonanten Satz bemerkt er, dass „der indische Schriftsteller, der auf Indien zurückblickt, dies durch schuldgetönte Brillen tut“. Er sagt: „Unsere Identität ist gleichzeitig plural und partiell. Manchmal haben wir das Gefühl, zwei Kulturen zu überspannen. zu anderen Zeiten fallen wir zwischen zwei Stühle.“ Dennoch argumentiert er, dass eine solche Doppelidentität bei all ihren damit verbundenen belastenden Bindungen für einen Schriftsteller fruchtbar ist: „Wenn Literatur es sich teilweise zum Geschäft gemacht hat, neue Blickwinkel für den Eintritt in die Realität zu finden, kann dies wiederum unsere Distanz, unsere lange geografische Perspektive für solche Blickwinkel behilflich sein.“

Morgen werden wir in Jamyang Norbus‘ „Mandala von Sherlock Holmes“ erforschen, einem bemerkenswerten Mix von Kipling und Conan Doyle, und unter den besonderen Blickwinkel untersuchen, den das Exil nicht aus, sondern nach Indien hinein bietet.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-8-salman-rushdie-east-west

Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

7. Juli: Rabindranath Tagore, “Das Heim und die Welt”

Hervorgehoben

7. Juli, von Prof. David Damrosch, Harvard

[1916 Ghare baire ঘরে বাইরে
“Das Heim und die Welt”, übersetzt von Helene Meyer-Franck, ist im Kurt Wolff Verlag in München 1920 erstmals erschienen;
in der Neuübersetzung von Emil und Helene Engelhardt im Hyperion-Verlag Freiburg 1962.]

Die Annäherung an „Die Heimat und die Welt“ macht es notwendig, die Komplexität von Tagores Verständnis seiner eigenen Position sowohl zu Hause als auch in der Welt insgesamt zu einzuschätzen. Er veröffentlichte den Roman 1916, nur drei Jahre, nachdem er unerwartet der erste asiatische Literaturnobelpreisträger geworden war; sein Roman richtet sich jedoch direkt an soziale und politische Themen in ganz Indien und insbesondere in Bengalen. Sein Gewinn des Preises war ein glücklicher Zufall. Verärgert über eine schlechte englische Übersetzung aus Bengali seines philosophischen Gedichtzyklus Gitanjali hatte er seine eigene fließende, Whitmanesque-Übersetzung unternommen:

„Der gleiche Lebensstrom, der Tag und Nacht durch meine Adern fließt, fließt durch die Welt und tanzt in rhythmischen Schritten.

Es ist dasselbe Leben, das vor Freude durch mannigfache Grashalme durch den Staub der Erde schießt und

in turbulente Wellen aus Blättern und Blüten einschießt.

Es ist dasselbe Leben, das in der Wiege des Ozeans von Geburt und Tod, in Ebbe und Flut geschaukelt wird.

Ich fühle die Herrlichmachung meiner Glieder durch die Berührung dieser Welt des Lebens herrlich.

Und mein Stolz fließt aus dem pochenden Leben, das in diesem Moment in meinem Blut tanzt.“

Obwohl Tagores Übersetzung nicht gut gealtert ist, waren die Leser zu dieser Zeit entzückt. Während seines Besuchs in England im Jahr 1912 hatte er Yeats das Manuskript gezeigt, der ein glühend-begeistertes Vorwort für das Buch schrieb und Tagore sowohl als Dichter als auch als mystischen Seher lobte. Als der Preis im folgenden Jahr an Tagore verliehen wurde, war er völlig überrascht, und ärgerte sich über das Brimborium.

Falls Kipling sich als englischer Dolmetscher von Indien für die Welt einen Namen gemacht hatte, wurde Tagore nun als wahrhaft authentisch-eingeborener Informant in diese Rolle geworfen. Er wurde ein Weltreisender und traf sich auf vielerlei Auslandsreisen mit einer Heerschar von Schriftstellern, Künstlern und Würdenträgern. Hier ist er 1924 zusammen mit seiner Freundin (und zeitweise Geliebten) Sylvina Ocampo, Gründerin der einflussreichen Zeitschrift Sur, in Buenos Aires; und mit Albert Einstein 1930:

Quelle: „In Your Blossoming Flower Garden“, von Ketaki Kushari Dyson, 1988 bei Sahitya Akademi, Delhi.
Quelle: Albert Einstein und Rabindranath Tagore, Foto von Martin Vos, 1930.

Tagores erste Weltreise fand einige Monate nach der Veröffentlichung von „Das Heim und die Welt“ statt. Er besuchte Japan und setzte die Reise dann in den USA fort, die er von West nach Ost durchquerte, um dort ein großes Publikum anzusprechen, bevor er nach Europa und dann nach Hause segelte. In einem Interview in der „New York Times“ wurde er nicht nur als der neue Vertreter Indiens präsentiert, sondern auch als Verkörperung des orientalischen Geistes als Ganzes, der der Welt die „orientalische Einstellung der Literatur gegenüber“ erklärte:

Quelle: Archiv der New York Times


Der Reporter war Joyce Kilmer, selbst ein talentierter Dichter, heute leider lediglich berühmt-berüchtigt für sein oft verhunztes “I think that I shall never see / A Poem lovely as a tree.”, zu deutsch „Ich glaub, dass ich niemals ein Gedicht seh, das wie ein Baum ist so schee“. Kilmer bemerkte die Ähnlichkeit von Tagores Versen mit Whitmans „Leaves of Grass“ und beschrieb ihn als wie Whitman aussehend, „aber mit mehr Zartheit“. Tagores zart spirituelle Persona wird in einer Skizze hervorgehoben, die meine Großtante Helen, eine angehende Künstlerin, während dieser Reise in New York aus ihm gemacht hat:

Quelle: privat.

 
Von Mai 1915 bis Februar 1916 seriell produziert und dann in überarbeiteter Buchform veröffentlicht, wurde „Das Heim und die Welt“ an der Schwelle zu Tagores Entstehung als globales Phänomen geschrieben. Sein Fokus liegt auf dem Ankunft der Moderne in Indien und seinen tiefgreifenden – gleichzeitig destruktiven und kreativen — Auswirkungen auf das traditionelle Leben sowohl im öffentlichen als auch im häuslichen Bereich. Der Roman inszeniert die Debatten zwischen drei Charakteren: dem vorsichtig fortschrittlichen aristokratischen Landbesitzer Nikhil, seiner unruhigen Frau Bimala und dem verführerischen politischen Tausendsassa Sandip. Sandip engagiert Bimala für die neue Initiative von Swadeshi — die Förderung der indischen Manufaktur und Ablehnung der in Großbritannien hergestellten Waren, um Englands Eingriff auf das Land zu lockern und die wirtschaftliche Grundlage für die Unabhängigkeit zu schaffen. Er schmeichelt Bimala als Göttin, die der Monotonie des Haushaltslebens entkommen und zur Galionsfigur der Bewegung werden kann, während Nikhil sieht, wie sie entweicht, sich jedoch weigert, sie zu zwingen, in der traditionellen Rolle der Frau zu verbleiben.

Die Figur von Nikhil wird oft als Selbstporträt gesehen, und Nikhil debattiert manchmal über Sandip in Begriffen, die direkt aus Tagores politischen Essays stammen, aber es ist Bimala, deren Bewusstsein im Mittelpunkt der Geschichte steht. Sie muss sich entscheiden, ob oder wie weit sie Sandips romantischen und politischen Verführungen erliegen will — ob sie seine Geliebte werden soll, und ob sie sich von ihrem Zuhause in die Welt oder sogar von ihrem für Frauen vorgesehenen Bereich in die öffentlichen Räume vor der Villa wagen will. In diesem Sinne ist Bimala ebenso ein Selbstporträt von Tagore selbst, ihrem Zuhause treu bleiben, dessen gewahr, dass es sich ändern muss, und an der Schwelle der weiteren Welt stehend.

Ebenso wie Bimala befand sich Tagore damals an der Schwelle der Swadeshi-Bewegung. Als engagierter Antiimperialist unterstützte er die Bewegung zu Beginn, war jedoch von der wachsenden Gewalt vieler ihrer Partisanen desillusioniert. Später wurde er eng befreundet mit Gandhi an und ein Verfechter seiner gewaltfreien Unabhängigkeitsbewegung; in den 1910er Jahren kritisierte er jedoch scharf einen sich verengenden Nationalismus, der die Interessen der hinduistischen Anhänger für lokale Güter favorisierte, zum Ruin der verarmten muslimischen Händler, deren Lebensunterhalt durch die Verbrennung ihrer Vorräte an billigen britischen Importen vernichtet wurde. Spät im Roman greift ein wütender muslimischer Mob die Güter eines reichen hinduistischen Landbesitzers an, und Sandip ergreift die Gelegenheit, die Interessen seiner hinduistischen Partei zu fördern. Nikhil protestiert gegen Sandip: „Warum ist es möglich, die Mussulmanen derart, als Werkzeuge gegen uns zu benutzen? Ist es nicht, weil wir sie mit unserer eigenen Intoleranz zu solchem geformt haben?“ Ursprünglich als unzureichende Unterstützung für die entscheidende Maßnahme zur Erreichung der Unabhängigkeit kritisiert, scheint Tagores Roman jetzt vorausschauend die Gefahren eines ausschließenden Nationalismus zu diagnostizieren, der die Spannungen zwischen Hindus und Moslems bis zum heutigen Tage verschärft.

„Das Heim und die Welt“ porträtiert die politischen Kämpfe der Zeit und auch die Kämpfe von Nikhil und Bimala, um die Verpflichtungen und Erwartungen der Ehe in einer Welt der neuen Freiheit und der neuen Gefahren zu überdenken. Alle drei Protagonisten von Tagore beschreiben sich selbst als doppelte, sogar gespaltene Persönlichkeiten, und die Erzählung selbst ist gespalten: Abschnitte wechseln zwischen den Stimmen von Bimala, Nikhil und Sandip, offensichtlich in Form von autobiografischen Notizen oder Tagebucheinträgen, ohne allgemeines Bewusstsein des Autors. Der Roman hat somit formale Ähnlichkeiten mit einer Arbeit wie Ryunosuke Akutagawas Geschichte „In a Budding Grove“ aus dem Jahr 1922 (die Hauptgrundlage für Kurosawas Film „Rashomon“), die von einer Reihe von Stimmen in einem Prozess erzählt wird, oder den mehreren Rednern in William Faulkners „As I Lay Dying“, mit dem deutschen Titel „Als ich im Sterben lag“ (1930). Tagore war jedoch in erster Linie ein Dichter, und Gedichte und Lieder treten im gesamten Text in Erscheinung, insbesondere in der Vaishnava-Tradition, zu der Tagore gehörte.

Über die eigentlichen Verszeilen hinaus sind die Prosaeinträge der Figuren selbst grundsätzlich lyrischer Natur. Das Buch wird vielleicht am besten nicht nur in Bezug auf Schriftsteller wie Tolstoi oder Tagores bengalischen Vorgänger Bankim Chandra Chatterjee angenähert, sondern auch als Kreuzung zwischen dem philosophischen Dialog der Bhagavad Gita und den dramatischen Monologen von Robert Browning. Das Buch zitiert mehrmals die Gita (oftmals von Sandip zu seinen eigenen schändlichen Zwecke verzerrt), und in einem kritischen Moment zitiert Sandip die Eröffnungs-Strophe von Brownings dramatischem Monolog „Cristina“, der von einem Mann in Thrall zu einer mächtigen Frau gesprochen wird, wie er zu Bimala ist. Überraschenderweise stellt sich sogar heraus, dass Sandip versucht hat, Browning ins Bengali zu übersetzen, und er sagt Nikhil und Bimala dass: „Ich habe wirklich einmal geglaubt dass ich kurz davor stehe, Dichter zu werden, aber die Vorsehung war mir so gesonnen, mich vor diese Katastrophe zu bewahren.“ Sogar Sandip ist eine Art Selbstporträt, zumindest von Tagore, wie er gewesen wäre, wenn aus ihm kein Dichter geworden wäre.

Das sind also literarische Kontexte für Tagores Roman, aber diese Woche ist mir ein ganz anderer Aspekt aufgefallen, den ich zu einem anderen Zeitpunkt nicht bemerkt hätte: „Das Heim und die Welt“ ist ein Roman über Infektionen. Wir haben im Dekameron gesehen, dass Boccaccio das Fieber der Liebe mit der Pest in Verbindung brachte, die durch Florenz wütete, und Tagore verbindet sowohl politische als auch romantische Leidenschaft mit Krankheitsbildern. Sandips Handlanger verbreiten Lügen „wie Fliegen, die Pestkeime tragen“, und sowohl politisch als auch romantisch stellt Bimala fest, dass sie „mit ihrer Aufregung infiziert“ wurde. Wie Covid-19 ist das Virus ein Import aus der Fremde, wie Nikhil ausruft: „Was für eine schreckliche Epidemie der Sünde wurde aus fremden Ländern in unser Land gebracht.“ Umgekehrt können gute Impulse sich viral verbreiten, und gegen Ende des Romans sagt Sandip zu Nikhil, dass „die Ansteckung Ihres Gesellschaft mich ehrlich gemacht hat“ — wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad. In seinen und Bimalas Körpern wie im politischen Körper bekriegen sich verschiedene Ansteckungen. Für Tagore, wie bei den älteren Vaishnava-Dichtern oder in der persischen poetischen Tradition zu ihrem Westen, sind es Poesie und Gesang, die unsere geteilten Seelen heilen können. Wie er in seinem Interview mit der „New York Times“ sagte, kurz bevor er Tante Helen Porträt skizzieren sass: „Die eigentliche Funktion des Dichters besteht darin, seine Gefährten weder zu lenken noch zu interpretieren, sondern der Wahrheit Ausdruck zu verleihen, die in sein Leben getreten sind, in Fülle von Musik.“

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-7-rabindranath-tagore-home-and-world
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen

[Ghare Baire wurde 1985 von Satyajit Ray verfilmt.]

6. Juli: Indien: Rudyard Kipling, „Kim“

Hervorgehoben

6. Juli 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

[Kipling, Rudyard: Kim: Roman ist in der „Fischer Klassik„-Taschenbuch-Reihe erschienen. Rudyard Kipling: Kim. Übersetzt und herausgegeben von Andreas Nohl. Hanser, München 2015.]

Quelle: Fischer-Verlag.

Diese Woche beginnt mit den radikal unterschiedlichen Darstellungen Indiens in der Arbeit von zwei Nobelpreisträgern für Literatur, Kipling und Tagore. In ihren Werken sehen wir Indien als eine eigene Welt per se, oder vielmehr als eine Vielzahl von überlappenden, ineinandergreifenden und unzusammenhängenden Welten.

Quelle: Political Divisions of the Indian Empire. The Imperial Gazetteer of India. Oxford University Press, 1909

Kipling wurde 1865 in Bombay geboren und wurde hauptsächlich von in Hindi sprechenden Kindermädchen aufgezogen, bevor er im Alter von sechs Jahren zur Schule nach England geschickt wurde. Mit sechzehn Jahren kehrte er nach Indien zurück, wo er als Zeitungsreporter für das „Civil and Military Gazette“ in Lahore arbeitete, wo sein Vater Direktor des Stadtmuseums geworden war. Hier ist eine Straßenszene in Lahore aus dem Jahr 1888 zu sehen, aus einem Album mit Fotografien, gesammelt von seinem Vater:

Im Alter von einundzwanzig Jahren veröffentlichte Kipling sein erstes Lyrikbuch, „Departmental Ditties“ (1886), zwei Jahre später folgten „Plain Tales from the Hills“, und nicht weniger als fünf weitere Sammlungen seiner Kurzgeschichten. Er schrieb für die Menschen, über die er schrieb, und seine frühen Arbeiten sind in lokalem Slang und Schauplätzen eingebettet, in Erwartung, dass seine Leser diese auch wiedererkennen: Man muss ihnen nicht sagen, dass die Figuren, die sich „bei Peliti geärgert“ haben, in einem schicken Hotel in der britischen Sommerhauptstadt Simla zu Mittag gegessen haben.

Doch Kipling schrieb bereits sowohl als Insider als auch als Outsider, und nach seiner Rückkehr nach Indien im Jahr 1881 sah er seine Kindheit mit einer Perspektive, eines „von England Zurückgekehrten“. Als sich seine Arbeiten im Ausland durchsetzten, war es für Kipling nur ein weiterer Schritt, sein lokales Wissen für entfernte Leser zu übersetzen. 1889, ein Jahr nach seiner Veröffentlichung in Lahore und Kalkutta, wurde „Plain Tales from the Hills“ in New York, Edinburgh und Deutschland erneut veröffentlicht. Viele weitere Sprachen sollten bald folgen, aber dank der Reichweite des Englischen innerhalb und außerhalb des Imperiums wurde Kipling auch ohne Übersetzung zu einem globalen Autor. Im Jahr 1890 erschien „Plain Tales“ in mehreren Ausgaben in Indien, England und den USA, und seine Werke begannen einen regen Verkaufsweg in Südafrika, Australien und anderswo sonst. Kipling war fünfundzwanzig.

Kipling ist möglicherweise der erste wirklich globale Autor im Sinne eines Menschen, der fast von Beginn seiner Karriere an für ein globales Publikum schreibt. Er war geschickt darin, Erklärungen und direkte Übersetzungen in seine Erzählung einzuweben, insbesondere nachdem er 1889 Indien endgültig verlassen hatte, zuerst in London, dann in Vermont lebte, und sich schließlich wieder in England niederließ. Sein Roman Kim (1901) beginnt mit einer lebhaften Szene am Eingang zum Museum seines Vaters, die sowohl politisch als auch sprachlich die Bühne für ausländische Leser bereitet:

“Er saß, sich kommunalen Befehlen widersetzend, rittlings auf der Zam-Zammah-Waffe auf ihrer Backsteinplattform gegenüber dem alten Ajaib-Gher – dem Wunderhaus, wie die Eingeborenen das Lahore-Museum nennen. Wer Zam-Zammah, diesen „feuerspeienden Drachen“, hält, hält den Punjab; denn das große grün-bronzefarbene Stück steht immer an erster Stelle der Beute des Eroberers.”

Es gab eine Rechtfertigung für Kim – er hatte Lala Dinanaths Jungen von den Lagerzapfen geworfen –, da die Engländer den Punjab hielten und Kim Engländer war.

Innerhalb weniger Seiten gibt Kipling eine Reihe von Hindi-Begriffen (Jadoo, Faquirs, Ghi, Parhari usw.) an, übersetzt sie manchmal in Klammern, definiert sie manchmal in einer folgenden Paraphrase, und formt manchmal den Kontext, um die Bedeutung vorzuschlagen.

Kipling vervielfältigt dMöglichkeiten, uns die heimischen Bräuche zu erklären. Kim ist abwechselnd ein sachkundiger, in Indien aufgezogener Insider, durch dessen Augen wir Indien sehen können, und ein anglo-irischer Außenseiter, dem die Dinge erklärt werden müssen – und damit auch uns. Kurz vor der Pubertät ist er sowohl ein Kind seines Landes als auch ein Neuling in der Erwachsenenwelt, dem die Vor- und Nachteile politischer Intrigen beigebracht werden müssen. Für einen Großteil des Buches begleitet er einen alten tibetischen Lama, der sich mit alten orientalischen Ideen auskennt, aber auch selbst ein Ausländer ist, der häufig keine Ahnung von indischen Bräuchen hat, was Kim wiederum erklären kann.

Noch ahnungsloser sind viele der Europäer, die in der Geschichte auftauchen, nicht nur Engländer, sondern auch rivalisierende französische und russische Agenten, die alle im „Great Game“, [dem „Großen Spiel“], um die Macht kämpfen, um den indischen Subkontinent und die umliegenden Länder zu kontrollieren. Der interessanteste Spieler des Spiels in Kiplings Roman ist Hurree Chunder Mookerjee, ein „Babu“ oder indischer Angestellter der Kolonialregierung. Kipling hatte den Namen in „What Happened“ verwendet, einem ängstlich/witzigen frühen Gedicht über die Gefahr, vertrauenswürdigen Eingeborenen Luft und europäische Waffen anzulegen:

Hurree Chunder Mookerjee, Stolz von Bow Bazaar,

Inhaber einer einheimischen Presse, „Barrishter-at-Lar“,

Erwartete von der Regierung mit einem Anspruch

Säbel eimerweise, Gewehre paarweise zu tragen.

[. . . ]

Aber die indische Regierung, immer bemüht zu befrieden,

Erlaubte auch schrecklichen Männern wie diesen –

Yar Mahommed Yusufzai, bereit zu töten oder zu stehlen,

Chimbu Singh von Bikaneer, Tantia der Bhil;

Killar Khan der Marri Chief, Jowar Singh der Sikh,

Nubbee Baksh Punjabi Jat, Abdul Huq Rafiq –

Er war ein Wahabi; zuletzt, der kleine Boh Hla-oo

Hat das Gesetz ausgenutzt – hat auch einen Snider genommen.

Bald verschwindet Mookerjee, offensichtlich wegen seiner Waffen ermordet. Das Gedicht beschließt:

Was wurde aus Mookerjee? Frag Mahommed Yar

Sivas heiligen Stier hinunterstoßend den Bow Bazar.

Sprich mit dem ruhigen Nubbee Baksh – frage zu Land und zur See –

Frag die indischen Kongressabgeordneten – frag nur nicht mich!

Wie in seinen Frühwerk üblich, geht Kipling davon aus, dass seine Leser die lokale Landschaft kennen (hier den Bow Bazar, eine zentrale Durchgangsstraße von Kalkutta), und teilt die Nervosität seiner anglo-indischen Gemeinde über das Potenzial für das erneute Anfacheln der Rebellion, die fast Englands Kontrolle über Indien in der „Meuterei“ von 1857 verloren hatten. Sein Interesse an der ethnischen und kulturellen Vielfalt Indiens wird an dieser Stelle lediglich dafür mobilisiert, um nahezulegen, dass das Land zu vielfältig und die Eingeborenen zu unzuverlässig sind, um vom Hindu-dominierten indischen Nationalkongress verwaltet zu werden, der 1885 etabliert worden war, um der indischen Bevölkerung eine beratende Stimme in politischen Angelegenheiten mit Blick auf eine eventuelle Unabhängigkeit zu geben.

Eineinhalb Jahrzehnte später ist der Hurree Babu von Kim ein insgesamt komplexerer Charakter. Falls Kim ein virtueller Ethnograph der indischen Gesellschaft ist, macht Hurree tatsächlich bei jeder Gelegenheit ethnografische Beobachtungen, und sein höchstes Ziel ist es, Fellow der British Royal Society zu werden. Angesichts seiner kolonialen Position ist dieser Traum unrealistisch, sogar absurd. Doch anstatt Hurree wegen seiner Ansprüche zu verspotten, wie er es in seinem früheren Gedicht getan hatte, macht Kipling diesen unwahrscheinlichen Traum zu einer Verbindung zwischen ihm und dem britischen Spionagemeister Colonel Creighton. Creighton schickt ebenfalls Essays an die Royal Society, denn „tief in seinem Herzen lag auch der Ehrgeiz, nach seinem Namen ,F.R.S.‘ zu schreiben. […] Also lächelte Creighton und dachte, Hurree Babu sei besser, bewegt von dem gleichen Wunsch.“

Hurree Babus ethnografisches Geschick – ähnlich Kiplings eigenem Reporter-Auge und Ohr – geben ihm Einblick in die Manieren und Motive von Indern und Europäern gleichermaßen, und er ist geschickt darin, seine eigenen Motive von Europäern zu verschleiern, indem er die Rolle des unglücklichen Orientalen spielt. In einer Schlüsselepisode besiegt er ein Paar ausländischer Agenten, indem er vortäuscht, ein betrunkenes und „hoch verräterisches“ Opfer britischer Unterdrückung zu sein. Die Ausländer sind komplett von seiner Show eingenommen:

„Dieser Kerl ist echt ein Original“, sagte der größere der beiden Ausländer. „Er ist wie der Albtraum eines Wiener Kuriers“

„Er repräsentiert den Übergang im kleinen Indien – den monströsen Hybridismus von Ost und West“, entgegnete der Russe. „Wir jedoch können mit Orientalen umgehen.“

Zu oft simpel als der Dichter der „Bürde des Weißen Mannes“ angesehen, steht Kipling hier fest auf der Seite des kulturellen Hybridismus, viele Jahrzehnte bevor die Hybridität zu einem Hauptelement von Homi Bhabhas postkolonialer Theorie wurde. Diese Hybridität erscheint nur dem blasierten russischen Agenten monströs, der seinen eigenen Stereotypen zum Opfer fällt. Obwohl sie für gewöhnlich und entschuldbar seine Politik ablehnen, steht eine Heerschar späterer anglophoner Weltautoren in Kiplings Schuld, da sie seine Strategien zur Verschmelzung vieler englischer Stränge zu einer einzigartigen Sprache, die am besten als „Kiplingesisch“ bezeichnet werden könnte, verfeinern oder untergraben.

Man kann sagen, dass Kipling Indien für viele ausländische Leser erfunden hat, so wie Oscar Wilde dachte, Dickens und Turner hätten London erfunden. Sechs Jahre nach seiner Veröffentlichung von „Kim“ wurde er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, dessen ehrenvolle Erwähnung ihn für „die Beobachtungsgabe, die Originalität der Vorstellungskraft, die Potenz der Ideen, und das bemerkenswerte Erzähltalent, die die Schöpfungen dieses weltberühmten Autors charakterisieren“ preiste. Sechs Jahre später wurde der Nobelpreis an Rabindranath Tagore verliehen, der kein Fan von Kiplings Ideen war, wie potent sie auch sein mögen. Wie wir morgen sehen werden, malt er in „The Home and the World“ ein radikal anderes Bild seines Landes, seiner Menschen und seiner Bedürfnisse.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-6-india-rudyard-kipling-kim

Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen

3. Juli: Agha Shahid Ali, „Call Me Ishmael Tonight“

Hervorgehoben

3. Juli 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Ein führender zeitgenössischer Praktiker der Ghazals war der kaschmirisch-amerikanische Dichter Agha Shahid Ali (1949-2001). Der in Srinagar geborene Ali ging zum College nach Delhi und zog 1976 in die USA. Er promovierte in Englisch an der Pennsylvania State University und [erhielt einen] MFA [Master of Fine Arts] an der University of Arizona. Er unterrichtete an einer Reihe kreativer Schreibprogramme und leitete das MFA-Programm an der University of Massachusetts at Amherst, bevor er 2000 an die University of Utah wechselte. Trotz seiner indischen Erziehung war der Ghazal eine überraschende Wahl für einen anglophonen Dichter der Nachkriegszeit, der in den Vereinigten Staaten lehrte. In seinem 1983 erschienenen Aufsatz „Secular Criticism,” auf Deutsch „Säkulare Kritik“, feiert Edward Said frei gewählte moderne „Zugehörigkeiten“ gegen die unbestrittenen Annahmen älterer „Filiationen“. In Saids Worten könnten wir den Ghazal als ein klassisches Beispiel literarischer Filiation betrachten, das sich von Arabisch über Persisch und dann über Urdu unter der Ägide aufeinanderfolgender kulturpolitischer Hegemonien bis einschließlich des Mogulreichs ausbreitet. Dennoch fällte Shahid Ali eine aktive affiliative Entscheidung, um diese klassische Form auf Englisch und in Amerika wiederzubeleben, und entgegen den höchst individualistischen, unpolitischen Freiformvers, der zu dieser Zeit die MFA-Programme durchsetzte. Er war nicht nur ein Praktizierender, sondern auch ein Förderer des Ghazal; seine Sammlung „Ravishing Disunities“ vereint Ghazals, die er von einer Vielzahl zeitgenössischer Dichter angefordert hatte – oft Menschen, die ansonsten Set-Meter und Reim auf die Müllhalde der viktorianischen Geschichte verbannt hätten.

Shahid Ali wuchs in einem rein säkularen Haushalt auf, aber seine Ghazals werden vom Koran sowie von den persischen und arabischen literarischen Traditionen verfolgt, die in für ihn verlorenen Sprachen verfasst sind. Er zeichnete sich durch das Schreiben von Ghazalen auf Englisch aus, oft mit geistreichen, eleganten Reimen, die zu dem jedes Couplet beendenden Schlüsselwort hinführten; ein Merkmal, das, auffallenderweise, den meisten Übersetzungen von Ghazalen aus dem Persischen, Arabischen oder Urdu fehlt. Übersetzer verzweifeln für gewöhnlich daran, den Sinn eines Ghazal unter Beibehaltung seines Monoreim-Schema vermitteln. Wie wir jedoch bei den Shirazi-Dichtern gesehen haben, gelang es Dick Davis bisweilen, Couplets hervorzubringen, die immer zum gleichen Reim führten. Shahid Ali komponierte direkt auf Englisch und hatte keinerlei Schwierigkeiten, seine Reimschemata zu erstellen, jedoch verzichtete er manchmal auf Reim für strategischen Effekt. So reflektiert ein Gedicht mit dem Titel “Arabic”, „Arabisch“, über eine Sprache, die Ali nicht sprechen konnte, und über die Geschichte, die es überliefert hatte:

Die einzige Sprache des Verlustes, verlassen in der Welt, ist Arabisch.

Diese Worte wurden mir in einer Sprache, die nicht arabisch ist, gesagt.

Vorfahren, ihr habt mir ein Grundstück auf dem Familienfriedhof hinterlassen –

Warum muss ich, in euren Augen, nach Gebeten auf Arabisch suchen?

Hier gibt er uns einen dekonstruierten Ghazal, dem es an Reim oder sogar an einem festgelegten Meter fehlt; es ist, als wäre sein Gedicht aus einem verlorenen gegangenen Original übersetzt. In den Begriffen des Gedichts hat es die Sprache des Verlustes verloren.

Die „abwesende Anwesenheit“ (in den Worten von Mahmoud Darwish) der arabischen und persischen Sprache durchdringt Alis Werk, und er mobilisiert sie, um den gegenwärtigen Unruhen zu entgegnen. Der langwierige Kashmiri-Konflikt ist in vielen seiner Werke enthalten, insbesondere in seinen Sammlungen „The Half-inch Himalayas“ (1987) und „The Country Without a Post Office“ (1997). Seine letzte Sammlung, „Call Me Ishmael Tonight“, die 2003 posthum erschien, enthält viele Hinweise auf den ersten Golfkrieg und den israelisch-palästinensischen Konflikt. Es konfrontiert die ultimativen Realitäten von Krieg, Glauben und Sterblichkeit sowohl in persönlicher als auch in politischer Hinsicht: Er vervollständigte die Sammlung, als er im Alter von 52 Jahren an einem Gehirntumor starb.

Falls Arabisch jetzt „die alleinige Sprache des Verlustes“ auf der Welt ist, liegt dies teilweise am Wiederaufleben des Hebräischen in Israel begründet. Hebräisch war lange Zeit die verlorene Sprache des diasporischen Judentums und ist nun wieder eine lebendige, mit hegemonialer Kraft gewordene Sprache, die das Arabische in das Medium konvertiert, in dem Palästinenser ihre Verluste aufzeichnen. Alis Verlust der Sprache des klassisch unübersetzbaren Korans bedeutet jedoch nicht, dass seine heilige Geschichte gelöscht und mit den Tropen der klassischen Poesie vermischt wird. „Arabisch“ geht weiter:

Majnoon, mit zerrissener Kleidung, weint immer noch um Laila.

O, das ist der Wahnsinn der Wüste, sein verrücktes Arabisch.

Wer erhört Ishmael? Sogar jetzt schreit er:

Abraham, wirf deine Messer weg und rezitiere einen Psalm auf Arabisch.

Aus dem Exil schreibt Mahmoud Darwish an die Welt:

Ihr werdet alle zwischen den flüchtigen Worten des Arabischen vorübergehen.

Ironischerweise spielt das Gedicht mit der hebräischen Ableitung von „Ishmael“, „Gott (er)hört“, und schreibt die Geschichte neu, an die es sich erinnert. Ishmael schreit gegen den Kreislauf der Gewalt an, durch Gottes mysteriösen Befehl an Abraham dargestellt, seinen Bruder Isaak zu opfern. Ali identifiziert dann seinen Verlust des Arabischen mit Darwishs Exil aus seinem Heimatland.

Der Koran besitzt in Alis Vers immer noch prophetische Kraft. In seinem zweiten sūrah (Kapitel) ordnet der Koran ein schweres Schicksal für Abtrünnige an; auf „Arabisch“ wird dieses Schicksal jetzt durch moderne politisch motivierte Gewalt erfüllt, sei es in den Bomben, die auf den Irak niederprasseln, oder in der Ermordung von García Lorca während des Spanischen Bürgerkriegs:

Der Koran prophezeite ein Feuer aus Menschen und Steinen.

Nun, jetzt ist alles wahr geworden, wie es auf Arabisch vorhergesagt wurde.

Als Lorca starb, ließen sie den Balkon offen und sahen:

Seine Qasidas verflochten, am Horizont, zu arabischen Knoten.

Die Verluste erstrecken sich auf ein palästinensisches Dorf, das 1948 zerstört wurde, nachdem die zionistische Stern-Bande ihre Bewohner massakriert hatte:

Wo es in Deir Yassein Häuser gab, siehst du dichte Wälder—

Dieses Dorf wurde zerstört. Es gibt keine An-Zeichen des Arabischen.

Inmitten all dieser Verluste schließt das Gedicht mit einem Paar Couplets, die eine poetische Verbindung zwischen Sprachen und Kulturen herstellen, den großen israelischen Dichter Yehuda Amichai zitierend:

Auch ich, oh Amichai, sah die Kleider schöner Frauen, und

und alles andere, genau wie du, auf Tod, Hebräisch und Arabisch.

Sie bitten mich, ihnen zu sagen, was Shahid bedeutet—

Hören Sie zu: es bedeutet auf Persisch „Der Geliebte“, „Zeuge“

auf Arabisch.

Wie die Poesie von Hafez und Ghalib untergraben die Ghazale von Shahid Ali jegliche scharfe Unterscheidung zwischen heiliger und weltlicher Geschichte, zwischen politischem Schreiben und ästhetischer Kunst, zwischen klassischen und modernen Traditionen und, in seinem Fall, auch zwischen der Alten und der Neuen Welt. „Call Me Ishmael Tonight“ bezieht seinen Titel dem vorletzten Gedicht in der Sammlung „Tonight“ entnommen, dessen Schlusszeilen islamische Traditionen mit der berühmten Eröffnung von Melvilles „Moby Dick“ verbinden:

Die Jagd ist vorbei und ich höre den Ruf zum Gebet

in der der verwundeten Gazelle übergehen heut Abend.

Meine Rivalen für deine Liebe – du hast sie alle eingeladen?

Das ist nur eine starke Beleidigung, das ist heute Abend kein Abschied.

Und ich, Shahid, bin nur entkommen, um dir zu sagen–

Gott schluchzt in meinen Armen. Nenn mich heute Abend Ishmael.

Nach diesem Gedicht endet die Sammlung mit einem bewegenden Gedicht mit dem Titel „Existed“, das nur aus einem einzigen Couplet besteht:

Wenn du gehst, wer wird beweisen, dass mein Schrei existierte?

Sag mir, was ich war, bevor ich existierte.

Obwohl es kurz ist, kann dieses Gedicht auf verschiedene Arten gelesen werden. Nur wer sind „du“ und „ich“? Wie in Ghalib oder dem Sufi-Dichter Rumi kann der Adressat der Geliebte sein, der Gott oder ein menschlicher Liebhaber sein könnte. Vielleicht kann uns nur Gott sagen, wie wir waren, bevor wir existierten, oder es ist der Liebhaber, in dem sich der Dichter reflektiert entdeckt. Aber vielleicht spricht Shahid Ali uns gerade an, seine Leser; sein Schrei wird für immer verloren sein, sobald wir ihn vergessen, nachdem wir sein Buch geschlossen haben. Andererseits ist es vielleicht der Leser, der mit dem Dichter spricht und ihn bittet, nicht aufzuhören, unsere Schreie in Verse umzuwandeln. Aber der Dialog zwischen dem Dichter und Gott oder seinem Geliebten oder seinem Leser kann ebenso ein Dialog zwischen dem Dichter und dem Gedicht selbst sein. Auch hier können„du“ und „ich“ auswechselbar sein, als der Dichter seine Poesie bittet, ihn nicht zu verlassen, oder schließlich, wenn das Gedicht den sterbenden Dichter bittet — denjenigen, der das Gedicht gespürt hat, bevor er es ins Leben gebracht hat — nicht wegzugehen für immer. Die einzige Möglichkeit, ein solches Gedicht zu lesen, besteht darin, es erneut zu lesen und seine vielfältigen Reflexionen im „Ich“ des Dichters, des Gedichts oder unseres eigenen zu genießen.

Wenn du gehst, wer wird beweisen, dass mein Schrei existierte?

Sag mir, was ich war, bevor ich existierte.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-3-agha-shahid-ali-call-me-ishmael-tonight
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen

2. Juli: Ghalib, Woge der Rose – Woge des Weins

Hervorgehoben

2. Juli 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

[Mirza Asadullah Ghalib. Woge der Rose – Woge des Weins. Aus dem Persischen und aus dem Urdu-Diwan. Übersetzung und Auswahl: Annemarie Schimmel. Zürich: Arche 1971]

Geboren als translinguale poetische Form, als Abwandlung der arabischen Qasida oder Ode, breitete sich der persische Ghazal, [das Genre wird auch genannt: Ghasel, die Ghasele sowie Gasel, Ghasal, Ghazal, Anm. d. Ueb.] mit der Eroberung Nordindiens durch die Moguln im 16. Jahrhundert weiter nach Osten aus. Persisch blieb die angesehenste Literatursprache bei den Mogulgerichten, und Ghalib, der größte moderne Praktiker des Ghazal, schrieb sie sowohl auf Persisch als auch auf Urdu. Mirza Asadullah Beg Khan wurde 1797 geboren und war der Nachkomme türkischer Aristokraten, die nach Indien gezogen waren. Mit elf Jahren zeigte er bereits früh Talent als Dichter und begann bald, unter dem Pseudonym Ghalib („Victorious“, der Siegreiche, Anm. d. Ueb.) zu schreiben. Bescheidenheit war nie seine Haupteigenschaft. Obwohl er von mächtigen Gönnern unterstützt wurde, darunter der Mogulkaiser Bahadur Shah, war er wie Hafez skeptisch gegenüber politischer Macht wie religiöser Orthodoxie. Bahadur ernannte ihn erst nach dem Tod seines weniger talentierten Poesielehrers etwas widerwillig zu seinem Hofdichter in Delhi. Ghalib ist bis heute in Indien beliebt, und, obwohl er wenige Reichtümer und nie ein Haus besaß, ist ein Haus, in dem er einst lebte, heute ein Museum.

Zu seinen Lebzeiten waren sich die Menschen oft nicht sicher, was sie von seinen politischen oder seinen religiösen Ansichten halten sollten, die er oft mehrdeutig oder sogar widersprüchlich ausdrückte. So deklarierte er in einem Gedicht: „Ich weiß, dass der Himmel nicht existiert, aber die Idee / ist eine von Ghalibs Lieblingsphantasien.“ In einem anderen Gedicht betont er seine Frömmigkeit und relativiert dann sofort seinen Glauben: „Ich glaube an einen Gott, und meine Religion verstößt gegen Regeln: / Wenn alle Sekten in Stücke gehen, werden sie Teil der wahren Religion.“

Ghalib widersetzte sich den Bitten, leichter verständliche Gedichte zu schreiben:

Ich stimme zu, oh Herz, dass meine Ghazals nicht leicht aufzunehmen sind.

Wenn sie meine Arbeit hören, raten mir erfahrene Dichter, ich solle etwas schreiben, das leichter zu verstehen sei.
Ich muss das schreiben, was schwierig ist, sonst ist es schwierig zu schreiben.

Diese Erklärung ist selbst paradox und verstößt auch gegen die Erwartung, dass jedes Couplet einen vollständigen Gedanken ausdrücken sollte. Stattdessen ist es so, als ob ein Couplet (jetzt in der ersten und vierten Zeile) durch die beiden mittleren Zeilen getrennt wurde, die zwischen den beiden neuen Couplets aufgeteilt sind.

Ghalib verwendet viele der Bilder und Tropen, die wir bei den Shirazi-Dichtern gesehen haben. Er weint Tränen des Blutes über seinen Liebeskummer und findet Trost in Poesie, Kameradschaft und Wein, aber er ist sich oft nicht sicher, was klassische Tropen bedeuten:

Ihre Augenbrauen machen einen Bogen, aber der Rest ist unklar.

Was sind ihre Augen? Ein Pfeil oder etwas anderes?

In demselben Gedicht identifiziert er sich als Spiegel, eine Idee, die wir bereits in Attar gesehen haben, aber er gibt fragmentarische, verwundete Reflexionen ab:

Die Menschen bekommen ein echtes Gefühl dafür, wie die Sonne ist

Wenn ich das Licht auf einer meiner Narben reflektieren lasse.

Hier sind wir in der Nähe von Leonard Cohens „Es ist ein Bruch in allem, / so kommt das Licht hinein.“

In einem Gedicht spielt der Tod die Rolle des meisterhaften Dichters, der die Perlen seiner Couplets an der Halskette des Gedichts aufreiht:

Ghalib, ich denke, wir haben jetzt den Weg zum Tod gesehen.

Der Tod ist eine Schnur, die die verstreuten Perlen des Universums zusammenhält.

Ghalib kann vielleicht am besten als mughalischer Modernist betrachtet werden, der die Welt mit den Fragmenten der Tradition stützt, auf die er zurückgreift. Passenderweise verweist Adrienne Rich auf Arthur Rimbauds berühmt ungrammatische Phrase „Je est un autre“, auf Deutsch „Ich ist ein anderer“ in ihrer Übersetzung eines anderen Ghazals von Ghalib:

Dieses Leben: eine Nacht des Trinkens und der Poesie.

Paradies: ein langer Kater.

Tränen stechen mir in die Augen; Ich gehe jetzt weg

damit die anderen Gäste meine Schwäche nicht sehen.

ich ist ein anderer, die Rose keine Rose dieses Jahr;

ohne Bedeutung wahrzunehmen, was ist Wahrnehmung?

Ghalib, kein Kater wird einen Mann wie dich heilen

wie du den Nachgeschmack aller Süße zu kennen.

In einem seiner schönsten Ghazals identifiziert Ghalib seine Dichtung mit seiner eigenen Zerbrochenheit, in einer komplexen Dynamik mit der Frau, die angeblich sein Unglück verursacht hat — und ihm ermöglicht hat, sein Gedicht zu verfassen:

Ich bin weder die Lockerung des Liedes noch das eng zusammengezogene Zelt der Musik.

Ich bin einfach der Klang meines eigenen Zerbrechens.

Du solltest im Schatten deines welligen Haares sitzen;

Ich wurde dazu bestimmt, weiterzublicken in ein schwärzeres Gewirr.

Mein ganzer Selbstbesitz ist Selbsttäuschung;

Was für eine gewaltige Anstrengung, diese Lässigkeit aufrechtzuerhalten!

Jetzt, wo du gekommen bist, lass mich dich zur Begrüßung berühren

wie die Stirn des Bettlers den Boden berührt.

Kein Wunder, dass du mich suchend gekommen bist, du,

der du dich um die Trauernden kümmerst, ich um den Klang der Trauer.

Ghalibs eloquente, ironische Ghazals haben nach und nach ein weltweites Publikum erreicht. Kürzlich wurden sie im Internet auf einer bemerkenswerten Website, „A Desertful of Roses“, „Eine wüstenvolle Rose“, verbreitet, erstellt von Frances W. Pritchett von der Columbia-Universität in New York:

http://www.columbia.edu/itc/mealac/pritchett/00ghalib/

Die Entstehung des Projekts auf ihrer Website begann ihrer Beschreibung nach auf der Webseite im Jahr 1999 mit der Arbeit an einer dreibändigen wissenschaftlichen Ausgabe und einem Kommentar. Aber dann kamen die Anschläge vom 11. September, und sie entschied, dass die ganze Welt Zugang zu diesem kosmopolitischen Mogul-Dichter bekommen musste. Das Ergebnis, schreibt sie, ist „bei weitem die größte akademische Arbeit, die ich jemals unternommen habe“ (“About this project”).

Seitdem arbeitet sie weiter an der Website, die sich zu einem immensen Kompendium entwickelt. Ghalibs 234 Urdu-Ghazals sind alle auf der Website einsehbar, nicht nur in der arabisch-persischen Originalschrift, sondern auch phonetisch transkribiert, sowohl ins römische Alphabet als auch in Hindi Devanagari. Jeder Ghazal bekommt eine wörtliche Wort-für-Wort-Übersetzung, und es werden Links zu deren Aufführungen bereitgestellt, zum Beispiel Nr. 111 (unten zitiert):

Jedes Couplet in jedem Gedicht enthält eine Seite mit Hyperlinks, die grammatikalische Notizen und Auszüge aus der Urdu-Kommentartradition enthält. Andere Abschnitte der Website präsentieren Ghalibs Leben, Sprache und Poetik der Urdu-Sprache, sowie eine ausführliche Bibliographie zur weiteren Lektüre. Abbildungen von Manuskripten sowie von Ghalibs Agra und Delhi sind durch die gesamte Website hindurch integriert.

Auf einer Seite „Über die Ghazals“ sagt Pritchett, dass die Übersetzung von Ghalib „auf eine ernsthaft literarische Weise eine zum Scheitern verurteilte Mission“ und „im Grunde unmöglich“ sei, aber dennoch hat sie Sammlungen von Übersetzungen von zwei seiner berühmtesten Ghazals zusammengestellt (Nummer 20 und 111), mit jeweils etwa fünfzig Übersetzungen ins Englische, veröffentlicht von 1940 bis 2014. Einige sind ziemlich prosaisch, aber die besten Übersetzer erzielen schöne Ergebnisse, wie aus den sehr unterschiedlichen Darstellungen des Eröffnungspaares von # 111 von vom Lyrik-Übersetzer Adrienne Rich und W. S. Merwin hervorgeht. Rich gibt das Couplet wie folgt wieder:

Nicht alle, nur wenige, kehren als die Rose oder die Tulpe zurück;

welche Gesichter dort müssen immer noch vom Staub verhüllt sein!

Im Gegensatz dazu erweitert Merwin jede Zeile zu ihrer eigenen kurzen, ununterbrochenen Strophe:

Hier und da in einer Rose oder einer Tulpe

ein paar der Gesichter

nur wenige

aber denk an die, die der Staub

für sich behält

Pritchetts Schwerpunkt liegt darauf, uns in die Originale einzuführen, und sie liefert keine poetischen Übersetzungen für die anderen Ghazals, aber ihre wörtlichen Übersetzungen und Kommentierungen sind ein idealer Begleiter zum Lesen der Ghalib-Sammlung, die man eventuell erwerben möchte. Die meisten meiner Zitate hier stammen von Robert Bly und Sunil Dattas „Lightning Should Fallen on Ghalib“ (2009), obwohl Pritchett selbst der zum Scheitern verurteilten Mission, Ghalib zu übersetzen, nicht widerstehen konnte, und sie und Owen T.A. Cornwall hat einen wertvollen Band seiner „Selected Poems and Letters“ (2017) veröffentlicht. Aber auch ohne einen gedruckten Band in der Hand kann man sich stundenlang in “A Desertful of Roses” verlieren.

Ihre Website ist erfüllt von ihrer Liebe zu Ghalib und seiner Welt. Statt einige hundert Leser mit der gedruckten Version zu erreichen, werden mehr als vierzehntausend Besuche pro Woche verzeichnet – eine Million Aufrufe alle sechzehn Monate. In unserer unruhigen Welt geben uns die zerbrochenen Spiegel von Ghalibs Ghazals Einblicke in das, was jenseits unseres Leidens liegt. Wie er eines seiner Gedichte abschließt:  

Noch einmal reichen die zerstampften Teile des Herzens ihre Gesuche ein

Fragend, warum sich der Schmerz in dieser Welt so wiederholt.  

Das Ausmaß der Ekstase muss einen Sinn ergeben, Ghalib.

Hinter dem Vorhang muss sich etwas verstecken.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-2-ghalib-ghazals
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

1. Juli: „Gesichter der Liebe: Hafez und die Dichter aus Shiraz“

Hervorgehoben

1. Juli 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

[Liebesgedichte, übersetzt von Cyrus Atabay (1980), und Gedichte aus dem Diwan, herausgegeben von  Johann Christoph Bürgel (2019), sind in einer wunderschönen Ausgabe in der Insel-Bücherei erschienen.]

Die Poesie war traditionell die am meisten bevorzugte literarische Form im Iran, wie allgemein im Nahen Osten, und die klassische Poesie besitzt auch heute noch ein aktives Leben. Dies wurde mir nach gewahr, als meine Frau und ich Shiraz, lange Zeit ein Zentrum poetischer Produktion, als Gäste eines Freundes der Universität, Alireza Anushiravani, besuchten. Alireza und seine Schwiegertochter, eine Ärztin, nahmen uns eines Abends mit, um das Grab von Shiraz’ berühmtestem Dichter Hafez (1315-1390) zu besuchen, einem Ort, an dem die Menschen gerne in der Kühle Abends im umliegenden Gartens spazieren gehen.

Als wir das Grab erreichten, begann Alirezas Schwiegertochter, Hafez‘ Ghazals auswendig zu rezitieren, wie ich noch nie einen amerikanischen Arzt getroffen habe, der Shakespeare oder John Donne rezitierte. Und Hafez‘ Gedichte sind in der Tat unvergesslich, auch in der Übersetzung. Er war einer der ersten im Westen bekannten persischen Dichter, und Goethe studierte Persisch, um zumindest einen Eindruck von den Originalen zu bekommen. Dann begann er, Gedichte an Hafez zu schreiben, schlussendlich gesammelt in seinem „West-östlichen Diwan“, und dabei verwendete er zahlreiche von Hafez‘ Bildern und sein Hauptthema eines erhöhten Genusses der Lebensfreuden. So schliesst ein Gedicht, in dem der Dichter mit den Fingern durch das luxuriöse Haar seines Geliebten fährt: „Also hast du, Hafis, auch getan, / Wir fangen es von vornen an“.

Bei der Erschaffung eines posthumen Dialogs mit seinem großen Vorgänger beteiligte sich Goethe im Laufe der Jahrhunderte an spielerischen poetischen Gesprächen, die Dichter in Zentren wie Shiraz gern führten. Wir bekommen einen Eindruck von dieser poetischen Umgebung in Dick Davis ‚Sammlung „Faces of Love: Hafez and the Poets of Shiraz“, auf Deutsch: „Gesichter der Liebe: Hafez und die Dichter aus Shiraz“, die eine umfassende 75-seitige Einführung zusammen mit schillernden Übersetzungen von Gedichten von Hafez und zwei seiner Zeitgenossen enthält: Jahan Malek Khatun – eine großartige Dichterin, für die damalige Zeit ungewöhnlich – und Obayd-e Zakani, weniger komplex als Hafez, aber in seiner direkten Erotik außergewöhnlich.

Diese poetischen Rivalen schrieben unter Bedingungen gewaltsamen Wandels. Sie wurden während der Regierungszeit eines Schutzpatrons der Künste – und der Weinberge von Shiraz – namens Abu Es’haq bekannt, der die Region von 1343 bis 1353 regierte. Er wurde von einem Kriegsherrn namens Mobarez al-din vertrieben, der die Dichter, die er nicht getötet hatte, ins Exil schickte, musikalische Darbietungen verbot und die zahlreichen Weinhandlungen der Stadt schloss, die beliebte Treffpunkte zum Trinken, zur Unterhaltung, für die Rezitationen und das Flirten waren – oder mehr – von ansehnlichen frischwangigen Bediensteten serviert. Fünf Jahre später ließ Mobarez ‚Sohn Shoja seinen Vater blenden und einsperren, und bestieg den Thron. Die Weinhandlungen wurden wieder geöffnet, und die Dichter kehrten zurück.

Zu seinen Lebzeiten wurde Hafez der bekannteste Dichter in Persien, und seit seiner Zeit hat sein „Diwan“ (Gedichtesammlung) unzählige erleuchtete Manuskripte inspiriert, deren darin enthaltene Kalligraphie so großartig wie die Szenen der poetischen Gemeinschaft sind:

Alle unserer drei Dichter sprechen von Shiraz und seinen Gärten als einem irdischen Paradies. Nach Hafez: „Eine Brise, die nach Shiraz‘ Gärten duftet / Ist all der Beschützer, der dich führt, den du brauchst.“ Oder nochmal Jahan:
Shiraz, wenn der Frühling da ist – welches Vergnügen gleicht diesem?

Mit Bächen zum Sitzen, Wein zum Trinken und Lippen zum Küssen,

Mit vermischten Klängen von Trommeln und Lauten und Harfen und Flöten;

Dann, mit einer lieblichen jungen Lieb in der Nähe, gleicht Shiraz der Glückseligkeit.

Während der Zeit der Verbannung durch Mobarez betrauerte Obayd den Verlust der Stadt:

Wo ist Shiraz‘ Wein, der unseren Kummer verbrannt hat?

Wo sind die Diener abgeblieben?

Morgen wird, falls es im Himmel keinen Wein oder Vergnügen gibt,

Gottes Himmel die Hölle sein, genau wie Shiraz heute.

Die Shirazi-Dichter schätzten die mit Wein betriebene Kameradschaft ebenso hoch wie die religiösen Gebräuche, sogar als eine Form des religiösen Rituals:

Was ist süßer als ein Garten und gutes Gespräch

Wenn die frischen Blumen des Frühlings sprießen?

Was hält diesen jungen Mann ab, der unseren Wein serviert?

Sag mir, warum er nicht hier ist.

Der Asket sehnt sich danach, aus Kosars Dampf zu trinken

Im Schatten des Paradieses

Und Hafez dürstet nach Wein; bis, zwischen

Den beiden, Gottes Wahl getroffen ist.

Wir glauben, dass Hafez die Gottes Bewunderung Gottes für seine Wahl erwartet.

Jahan bekennt sich selbst äußert offen zu den Begierden: „Wie neidisch waren unsere Kleider, als wir lagen / Ohne sie, aneinander geklammert, du und ich!“

Die beliebteste Form für diese Dichter war der Ghazal, ein Satz lose verbundener Couplets, oft verglichen mit an einer Halskette aufgereihten Perlen:  

Hafez, dein Gedicht ist nun geschrieben,  

Die Perle, die Du durchbohrt hast,

entstammt aus der Poesie.  

Singe süß – der Himmel gewährt deinem Vers  

Die Kette der Plejaden.

Jedes Couplet eines Ghazal würde mit demselben Wort enden, dem Leitmotiv des Gedichts, zu dem ein Reim führt.

Dieser Aufbau wird in Davis‘ Übersetzung aus einem von Jahans Gedichten gut gezeigt:

Komm einen Moment her, setz dich zu mir, schlafe heute Nacht nicht,

Betrachte gut die unglückliche Lage meines Herzens heute Abend;

Und lass die Gegenwart deines Gesichts mich aufheitern und geben

Die Lieblichkeit des Mondlichts der Nacht, heute Nacht.

Sei jetzt freundlich zu diesem Fremden und ahme nicht nach

Das Leben, wie es mich heute Abend in seinem kopflosen Flug zurücklässt.

Sei jetzt süß zu mir, als deine Augen süß sind;

Drehe dich nicht

Weg wie deine Locken, nach links und rechts, heut Nacht.

Das Gedicht endet:

Wenn ich dich für einen Moment in meinen Träumen sehen könnte,

Würde ich heute Abend die Gesamtheit aller Wonnen der Welt kennen.

Der Dichter der Ghazal nennen gewöhnlich am Ende ihres Gedichts ihren Namen: Hier spielt Jahan wie so oft an seinen eigenen Namen an, der „Welt“ bedeutet.

Es ist alles andere als sicher, dass Jahan tatsächlich Liebhaber hatte, obwohl sie traditionell zwei Ehemänner hatte; und, anstatt ihre Abenteuer zu gestehen, hat sie möglicherweise ihr Talent bewiesen, mit bekannten Tropen zu spielen. Nicht jeder jedoch war erfreut, eine Frau zu sehen, die dieses Spiel spielte. Ein Gedicht, das Obayd zugeschrieben wird, nimmt ihre Gedichte wörtlich und spielt beleidigend mit der Bedeutung ihres Namens:

Mein Herr, die Welt ist eine treulose Hure.

Schämst du dich nicht für den Ruhm dieser Hure?

Geh und suche eine andere Fut – Gott

Er selbst kann Jahan nicht beschämen.

Dieses besondere Gedicht stammt vielleicht nicht von Obayd, aber in Gedichten, die er definitiv schrieb, ist er oft genauso obszön:

Ich möchte, dass ein Jüngelchen kopuliert – aber ich kann nicht bezahlen;

Ich möchte etwas Wein, um den Tag zu vergeuden –

Aber da ich keinen Zaster für fleischliche Freuden habe,

Scheint es, als ob außer Beten nichts mehr zu tun ist.

In einem anderen seiner Gedichte werden die weiblichen Geschlechtsteile zur Schutzpatronin der Künste:

Pussy bemerkte: „Dieser Schwanz ist ein Meisterwerk,

Sie haben die Kugeln sehr schön darunter drangehängt.

Von Kopf bis Fuß könnte man sagen, dass es so wäre als

Hätte man meine Voraussetzungen genau befolgt.“

Hafez und Jahan waren noch nie so grob, aber sie hatten sicherlich ähnliche Interessen. Gestern haben wir gesehen, wie Farid ud-Din Attar sein Herz in Verse gekocht hat, aber Jahan hat eine andere Mahlzeit im Sinn:

Ein Picknick am Rande der Wüste mit witzigen Freunden,

Und Tamburine und Harfen und Lauten sind sehr lieblich,

Und wenn meine Liebe, für einen Moment, vorbeikommen

sollte,

Ich werde seine Leber mit der feurigen Hitze meines Körpers grillen.

Vielleicht steht die „Leber“ für einen Körperteil, den Jahan etwas zu diskret spezifiziert.

In Erinnerung dessen, dass ein Name für Gott im Koran „Der Freund“ ist, feiern die Shirazi-Dichter die moralischen Tugenden einer tiefen Freundschaft, und Hafez verspottet wiederholt strenge Religionisten, die nicht praktizieren, was sie predigen: „Obwohl unser Prediger es vielleicht nicht gerne hört, wenn ich es erwähne: / Er wird niemals ein Moslem sein, solange er solch ein Heuchler ist.“ Shiraz hatte jüdische und christliche Bevölkerungsgruppen unter der muslimischen Mehrheit, und Hafez suggeriert, dass auch sie Gott erreichen können:

Jeder sucht nach dem Freund;

Ob betrunken oder stock-nüchtern ;

Und Liebe ist in jedem Haus – die Moschee

Und die Synagoge sind genau gleich.

Hafez findet im Wein und in der Liebe die Auflösung des Selbst, die Attar im Sufismus fand:

Zwischen dem Liebenden und dem Geliebten

Wird es keine Kluft geben,

Aber du selbst, Hafez, musst

den Schleier des Selbst beiseite ziehen.

Oder, wie er in den Schlusszeilen eines anderen Gedichts sagt:  

Niemand hat den Schleier

des Denkens beiseite gezogen wie Hafez  

Oder die Locken der Sprache gekämmt

wie sein scharfer Stift, Zeile für Zeile.

Die Dichter von Shiraz kämmten die Locken der Sprache, indem sie endlos mit ihrem gemeinsamen Repertoire an Themen und Bildern spielten – der Nachtigall, der Rose, dem überfließenden Wein und den Tränen  – und schufen einen Garten der Poesie inmitten der Wüste des sterblichen Lebens.

Die von ihnen perfektionierte Tradition hat im Nahen Osten und darüber hinaus ein langes Leben gehabt, und in den nächsten zwei Tagen werden wir uns zwei moderne Meister der ghazalischen Tradition jenseits Persiens ansehen: den bedeutenden urduischen Dichter Ghalib aus dem 19. Jahrhundert, und dann einem zeitgenössischen Dichter, Agha Shahid Ali, für den eine klassische poetische Form zum Vehikel für eine höchstpersönliche globale Vision wird.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/july-1
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

30. Juni: Farid ud-Din Attar: „Die Konferenz der Vögel“

Hervorgehoben

30. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard
[Deutsche Übersetzung von Katja Föllmer im Marix Verlag am Verlagshaus Römerweg erschienen.]

Eine der größten aller Erzählungen über spirituelle Suche und Erfüllung, Attars „Konferenz der Vögel“ ist sowohl mit Dantes Commedia als auch mit Boccaccios Dekameron verwandt, da sie mystische Allegorie mit bodenständigem und oft humoristischen Geschichtenerzählen vereint. Es ähnelt auch den gerahmten Geschichten von Tausendundeiner Nacht – deren persisches Original einige Jahrhunderte vor Attars Verfassen seines Meisterwerks im späten 12. Jahrhundert verfasst worden sein würde. Wie alle diese Werke melieren, innerhalb der Rahmenerzählung, eine Reihe historischer Anekdoten und Legenden Unterrichtung und Unterhaltung. Und wie Dante ein Jahrhundert nach ihm oder Marjane Satrapi heute verfasste Attar sein Gedicht infolge kaiserlicher Eroberungen und innerem Unfrieden.

Shakespeares Prospero sagte bekannterweise: „Wir sind vom gleichen Stoff, / aus dem die Träume sind / und unser kurzes Leben ist eingebettet / in einen langen Schlaf.“ Auch Attar präsentiert unser kleines Leben als eine unwirkliche Traumwelt, aber wir können hinzufügen, dass sein eigenes Leben durch Invasionen schmerzhafter eingebettet wurde. Er wurde in Nishapur, vierhundert Meilen östlich von Teheran, geboren, die eine große Stadt entlang der Seidenstraße von China bis zur Levante geworden war, und war ein verlockender Preis für Invasoren aus dem Osten und dem Westen. Im Jahr 1154, als Attar ungefähr neun Jahre alt war, wurde Nishapur von Oghuz-Türken eingesackt, und er verlor sein Leben, als die Stadt 1221 von Dschingis Khan zerstört wurde.

In einem Epilog zur Konferenz der Vögel spricht Attar in seinem eigenen Namen, genauer gesagt in seinem Pseudonym; „Attar“ bezeichnet einen Händler für Kräuter, f[r entweder Medizin oder Parfüm – passend für eine Arbeit, die sowohl unterrichtet als auch unterhält. Er beschreibt sich selbst als eine Art inneres Exil aus einer gescheiterten sozialen Welt:

Ich bin Attar, einer, der sich mit Heilkräuten handelt, aber mein

Eigenes Herz ist so dunkel wie jeder Farbstoff des Moschus.

Trauernd in Einsamkeit für Menschen, denen

Es an Salzgewürz und Sinn bei allem fehlt, was sie tun.

Ich breitete das Tuch aus und befeuchte meine Brotkruste.

Mit all den Tränen, die ich vergossen;

Kommt es von Herzen, dass ich koche, und ich bin gesegnet

Von Zeit zu Zeit, wenn Gabriel mein Gast ist,

Und da ein Engel mit mir speist, wie kann das

Brot eines jeden tumben Mannes brechen?

Für den Fall, dass die politischen Implikationen noch unklar sind, fährt er fort:

Gott sei Dank, sage ich, verkehre ich nicht

Mit wertlosen Betrügern oder hänge um einen Hof herum;

Warum mein Herz so verpfänden? Warum

Einen tumben Dummkopf als groß und weise lobpreisen?

Kein Tyrann füttert mich und ich habe nie

Die Widmung eines Buches für Gold verkauft.

Nicht unähnlich, wie Dante in Limbo im Kreise der Dichter aufgenommen wird, erklärt er: „Meine Vorgänger heißen mich willkommen, warum denn / sollte ich dann egozentrische, schale Männer suchen?“

In seinem Werk kritisiert Attar eine politisch und moralisch bankrotte Gesellschaft unter dem Deckmantel einer Gemeinschaft nichtsnutziger Vögel, die einen König ersuchen, um Ordnung in ihr Leben zu bringen.

Quelle: „Die Konferenz der Vögel“, Persisch, 9./15. Jahrhundert

Der eine vernünftige Vogel in der Gruppe, der Wiedehopf, kennt einen solchen spirituellen Führer, den sagenumwobenen Vogel, der als Simorgh bekannt ist, und er schlägt vor, dass sie ihn aufsuchen. Ihre Reise wird sieben schwierige Etappen umfassen, vom anfänglichen Tal der Suche bis zu den Regionen Liebe, Einsicht, Loslösung, Einheit, Ehrfurcht, Verwirrung und schließlich Nichts. „Und da bist du schwebend, regungslos“, sagt er ihnen, „bis du gezogen wirst – der Impuls ist nicht deiner – / ein Tropfen, der in Meeren ohne Ufer verschluckt wird.“

Die vogelhirnigen Gefährten des Wiedehopfs stimmen dem Plan begeistert zu, aber einer nach dem anderen beginnen sie, ihre Zweifel zu haben. Attar assoziiert jeden Sprecher geistreich mit einer anderen Denkweise, verbunden mit dem Aussehen des Vogels, seinem Lebensraum, seinem Lied oder seinen poetischen Assoziationen.

Sie gurrte: Durch die dunkelste Nacht hindurch erklang mein Lied

Und zu meinem Gefolge gehören die süßen Noten der melancholischen Laute,

Das klagende Wehklagen der liebeskranken Flöte;

Wenn Liebe in der Seele ertönt, entgegnet meine Stimme

Mit Akzenten schallend wie das Seufzen des Ozeans.

Sie kann es nicht ertragen, ihre Rosen und ihre Liebhaber zu verlassen. Die Ente watschelt einfach gerne in Bächen und kann sich nicht vorstelln, in die Wüste vorzudringen, während sich das juwelengeschmückte Rebhuhn nur um Edelsteine schert. Der Falke ist zu sehr an seinen Status als Höfling gebunden: „Wenn ich mich dem König nähere, folgt mein Trutz / Genau dem etablierten Gesetz.“ Ironischerweise wird der Falke von genau dem König geblendet, dem er so gerne zu Diensten ist: „Meine Augen sind verdeckt und ich kann nicht sehen, / aber ich platziere mich stolz auf das Handgelenk meines Souveräns.“

Der Großteil des Gedichts entwickelt das Thema der irdischen Verwurzelungen, die die die Vögel davon abhalten, sich auf die Suche zu machen. Der Wiedehopf reagiert auf seine anhaltenden Sorgen und Einwände mit verschiedenen Strategien – Logik, moralische Lehren und eine Geschichte nach der anderen, wie die Geschichte von „Shah Mahmoud und dem Heizer in den öffentlichen Bädern“, in der ein bescheidener Bademeister große Gastfreundschaft an den Schah zeigt, jedoch die Beförderung zu Hofe ablehnt. So teilt er dem Schah mit: „Wenn Ihr kein König wärt, könntet Ihr glücklich sein, Herr; / Ich schaufele gerne Holz auf diesem großen Feuer – / Ich bin somit nicht weniger als Ihr oder mehr, wie Ihr seht. . . / Ich bin nichts neben Euch, Majestät.“ Wie viele der Geschichten arbeitet diese auf zwei Ebenen: In irdischer Hinsicht zeigt sie eine edle Ablehnung von Reichtum und Macht, während auf der spirituellen Ebene der Schah für Gott, und der Diener für jeden Erdling stehen kann, der demütig unsere Bedeutungslosigkeit angesichts des Göttlichen anerkennt.

Die Antwort des Heizers mag auf Zufriedenheit mit dem Status quo hinweisen, aber anderswo lässt das Verbrennen von Holz auf das Leiden derer schließen, die den Privilegierten feurige Leidenschaft bereiten:

Ein beduftetes Holz brannte und sein Geruch

Hat jemanden vor schläfriger Zufriedenheit seufzen lassen.

Einer sagte zu ihm: „Dein Seufzer bedeutet Ekstase;

Denken Sie an das Holz, dessen Seufzer Elend bedeutet.“

Durch die Dichtung hindurch sind es Sufi-Derwische, der Welt und ihren Versuchungen entsagt haben. Gewöhnliche Menschen halten sie für verrückt, aber es sind die Sufis, die auf die Leere des weltlichen Erfolgs und die ultimative Einheit aller Dinge eingestellt sind. Das göttliche Strahlen ist so hell, dass unser flackerndes Selbst wie Schatten im Sonnenlicht dahinschmelzen wird, und selbst der Prophet selbst führt den Weg zum Aussterben aller Selbstsucht. In der islamischen Tradition reiste Muhammad auf wundersame Weise über Nacht von Mekka nach Jerusalem und stieg dann auf dem Rücken eines geflügelten Tieres, Boraq, in den Himmel auf:

Quelle: Darstellung über die mi’raj, wahrscheinlich vom persischen Hofmaler Sultan Muhammad, 1543

Muhammad BoraqIn Attars Darstellung verdunstet dieser physische Aufstieg selbst:

Lege zuerst das Selbst beiseite und bereite dich dann vor

auf Boraq zu steigen und durch die Lüfte zu reisen;

Trink die Tasse des Nichts hinunter; zieh Dir

Den Umhang des Vergessen um –

Dein Steigbügel ist die Leere; Abwesenheit muss sein

Das Pferd, das dich in die Leere trägt.

Zerstöre den Körper und schmücke deine Sicht

Mit Kohle von unwesentlicher, dunkelster Nacht.

Verliere dich zuerst, dann verliere diesen Verlust und

Ziehe dich dann von allem zurück, was du wieder verloren hast.

Schließlich bringt der Wiedehopf die Vögel dazu, sich auf die Reise zu machen, der auf nur einer einzigen Seite beschrieben wird: Der eigentliche Kampf besteht nicht in der Reise selbst, sondern in der Willenskraft, sie zu unternehmen. Hunderttausend Vögel brachen auf, aber nur dreißig überleben die mühsame Expedition. Schließlich erreichen sie den Simorgh, von dem sie erwarten, dass er wie ein großartiges jenseitiges Wesen aussieht, wie er regelmäßig in persischen Miniaturen dargestellt wird:

Quelle: Zal and the Simurgh

Zu ihrem Erstaunen gleicht diese fabelhaft exotische Kreatur jedoch lediglich ihrer selbst:

Dort im strahlenden Gesicht des Simorgh sahen sie

Sich Selbst die Simorgh der Welt – mit Ehrfurcht

Starrten sie, und wagten es schlussendlich zu verstehen

Sie waren der Simorgh und das Ende der Reise.

Der Simorgh erklärt: „Ich bin ein Spiegel direkt vor deinen Augen, / und alle, die vor Meiner Pracht kommen, sehen / Sich Selbst ihre eigene einzigartige Realität.“ Er enthüllt jetzt das Wortspiel, das das gesamte Gedicht inspiriert haben muss: auf Persisch würde si morgh „dreißig Vögel“ bedeuten. Er fährt fort, wenn vierzig oder fünfzig von ihnen angekommen wären, hätten sie sich mit ihm in vierzig oder fünfzig Gewändern getroffen.

Als die Vögel den Simorgh erreichen, entdecken sie auch die wahre Bedeutung der Joseph-Geschichte, auf die der Wiedehopf in der Koranversion mehrmals Bezug genommen hat. Anstatt sich mit dem herrschaftlichen Joseph zu identifizieren, sollten sie sich in seinen Brüdern sehen: „Sie verstanden, dass sie es waren, / die den liebevollen Joseph in die Sklaverei geführt hatten.“ Sie bewerten nun „ihr Leben, ihre Handlungen, die nacheinander dargelegt werden“, und ihre Seelen werden von all ihren früheren Ehrgeizen und Missetaten befreit.

Am Ende der „Recherche du temps perdu“, auf der Suche nach der Verlorenen Zeit, beschreibt Proust seinen Roman als ein optisches Instrument, durch das seine Leser in sich selbst schauen können. In Attars jenseitigem irdischen Meisterwerk werden die gesamte Geschichte, das gesamte Geschichtenerzählen, der Heilige Koran und das Gedicht, das wir lesen, zu einem Spiegelsaal, oder besser, zu einer Spiegelkuppel wie der unten gezeigten aus dem Grab von Nishapurs anderem berühmtesten Dichter, Omar Khayyam. Wenn wir aufblicken, sehen wir uns darin mehrfach gebrochen, geleitet von dem Dichter, der sein eigenes Herz in Verse kocht. 

Quelle: Mausoleum of Omar Khayyám in Nishapur, Iran.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-30-farid-ud-din-attar-conference-birds
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

[Für die lukullischen Genüsse meine Leser habe ich hier noch ein sufisches Kochbuch von Kathleen Seidel gefunden.]

29. Juni: Teheran: Marjane Satrapi, „Persepolis“

Hervorgehoben

29. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

[Deutsche Übersetzung von Stephan Pörtner erschienen im Zürcher Verlag edition moderne. Persepolis wurde 2005 als “Comic des Jahres” auf der Frankfurter Buchmesse ausgezeichnet.]

Bis zu dem Zeitpunkt, als ich 2011 zum ersten Mal in den Iran ging, hatte ich mich immer als einigermaßen skeptischen Konsumenten amerikanischer Medien eingestuft. Wie ich erwartet hatte, gab es sorgfältig erhaltene Erinnerungen an die „Death to America“-Slogans aus der Zeit der Islamischen Revolution –

Quelle: privat.

Und es gab viele Bilder des Ayatollah Khomeini, der hier offenbar die Seelen der Märtyrer im Krieg gegen den Irak für sich sammelte:

Quelle: privat.

Jedoch hatte ich nicht bemerkt, wie kommod die iranische Mittelschicht seit langem westliche und nahöstliche Kulturen vermischt, und ich hatte unabsichtlich die Annahme aufgegriffen, dass „schiitisch“ eine besonders rigorosen (sogar „fundamentalistische“) Modus des Islam bedeutet. Deswegen war ich überrascht, dass viele Iraner eine flexible Art der religiösen Praxis innehaben. Sie haben zum Beispiel festgestellt, dass die fünf täglichen Gebete in drei Gruppen durchgeführt werden können, die einfacher in Tagesstruktur eingearbeitet werden können, und dass ein tief religiöser Glaube überhaupt nicht unvereinbar mit einem aktiven Engagement für die zeitgenössischen Kultur der Welt ist.

Sogar die Islamische Revolution selbst ist mit gegenwärtigen Markenbotschaften durchsetzt, wie ich auf einem Banner im Flughafen der Stadt Teheran festgestellt habe:

Quelle: privat.

Nachdem ich die Assoziation der Revolution mit dem Namen des Imams zu sichergestellt hatte, machte ich mich auf eine schöne Reise.
Diese Komplexitäten werden in Marjane Satrapis Bestseller Persepolis, der 2000-2001 erstmals in vier Bänden auf Französisch, 2003-2004 in englischer Übersetzung, [2004/2005 in deutscher Übersetzung], und seitdem in mehreren weiteren Sprachen veröffentlicht wurde, brillant illustriert. 2007 schrieb und inszenierte Satrapi einen preisgekrönten Animationsfilm, der auf ihrem Buch basiert. Der Trailer vermittelt einen guten Eindruck vom poetischen Ergebnis:

Wie Satrapi in einem Vorwort zum Buch sagt, seit der Revolution von 1979,

“Diese antike und großartige Zivilisation wurde hauptsächlich im Zusammenhang mit Fundamentalismus, Fanatismus und Terrorismus behandelt. Als Iranerin, die mehr als die Hälfte meines Lebens im Iran verbracht hat, weiß ich, dass dieses Bild nicht der Wahrheit entspricht. Deshalb war mir das Schreiben von Persepolis so wichtig. Ich glaube, dass eine ganze Nation nicht an den Verfehlungen einiger Extremisten gemessen werden sollte. Ich möchte auch nicht, dass diejenigen Iraner, die in Gefängnissen bei der Verteidigung der Freiheit ihr Leben verloren haben, die im Krieg gegen den Irak starben, die unter verschiedenen repressiven Regimen litten, oder die gezwungen waren, ihre Familien zu verlassen und aus ihrer Heimat zu fliehen, vergessen werden. Man kann vergeben, aber man sollte nicht vergessen.”

Persepolis erforscht die ambige Kraft von Worten und Bildern, die Erinnerungen konservieren kann, die nicht vergessen werden sollten, aber kann sie auch verzerren oder unterdrücken. Das Buch ist zugleich eine Autobiographie, ein feministischer Bildungsroman, eine Microgeschichte der 1979er Revolution und ihrer Folgen sowie eine Meditation über die kulturelle Komplexität der heutigen Welt. Satrapi erzählt die Geschichte ihrer säkularen Familie, die gegen das Regime des Schahs und dann gegen den dies ersetzenden repressiven islamischen Staat war. Inmitten der Bombardierungen des Iran-Irakischen Krieges schicken Marjanes Eltern sie im Alter von 14 Jahren zur Schule nach Österreich, wo sie damit kämpft, sich anzupassen, und allmählich dem starken Drogenkonsum und in eine Zeit der Obdachlosigkeit verfällt. Mit 18 Jahren kehrt sie nach Hause zurück, studiert Grafikdesign, hat eine kurze und unerfüllte Ehe, und verlässt mit 22 Jahren für immer den Iran.

Im letzten Teil des Buches verabschiedet sich Marjane von ihren hoffnungsvollen Eltern und ihrer tränenüberströmten Großmutter. Am Ende des Teils sagt sie: „Ich habe sie nur einmal wiedergesehen, während des iranischen Neujahrs im März 1995. Sie starb am 4. Januar 1996. … Der Preis der Freiheit …”

Wie Primo Levi und Paul Celan konfrontiert Satrapi die Grenzen der Sprache, in ihrem Fall inklusive sowohl in der visuellen als auch auf in der verbalen Darstellung. Als eine ihrer Spielkameradinnen bei einem Bombardement getötet wird, entdeckt Marjane den Arm ihrer Freundin – der immer noch ein türkisfarbenes Lieblingsarmband trägt – und der aus den Trümmern ihres Gebäudes herausragt. Wir sehen Marjanes entsetzte Reaktion, und dann wird das Tableau schwarz:

Persepolis war im 6. bis 4. Jahrhundert v. Chr. die formelle Hauptstadt des Achämenidenreiches. Satrapis Heraufbeschwörung der alten persischen Kultur in ihrem Titel könnte eine essentialisierende Geste sein, aber im gesamten Buch persifliert sie den iranischen Ausnahmestatus und mockiert die Bemühungen politischer und religiöser Führer, ihre eigennützige Politik in die Rhetorik des antiken Ruhms oder des modernen Martyriums zu hüllen.

Die folgende Darstellung von Persepolis in Persepolis zeigt Shah Reza Pahlavis Nutzung der Stätte zu seinem eigenen Ruhm im Jahr 1971, als er in einer großen Party den zweitausendfünfhundertsten Jahrestag der Gründung der Stätte durch Cyrus den Großen feierte:

In Satrapis Wiedergabe:

Generationen von Besuchern haben ihre Spuren am Ort hinterlassen. Bei meinem eigenen Besuch dort war ich überrascht, als ich eine Inschrift von Conrads Erzfeind Henry Morton Stanley entdeckte, der stolz für seinen Arbeitgeber, den „New York Herald“, warb, kurz bevor der Herald ihn auf seine epische Suche nach Dr. Livingston in Afrika schickte.

Quelle: privat.

In Persepolis findet sich Marjane, wie zahlreiche von Orhan Pamuks Figuren, schmerzhaft zwischen den Kulturen gefangen, „eine Westlerin im Iran, eine Iranerin im Westen“. Nach ihrer Rückkehr nach Teheran von Österreich aus gerät sie in eine selbstmordgefährdete Depression:

Doch durch ihren schweren Weg hindurch behält sie einen unbezwingbaren rebellischen Charakterzug. Sie besitzt auch einen verdrehten, selbstironischen Sinn für Humor, der viele komische Momente in dem Buch hervorbringt und die tragische Geschichte von immer wieder ausbrechenden Kriegen und Repressionen durchsetzt. Als sie einen Freund aus Kindertagen besucht, der im Iran-Irak-Krieg schwerbehindert von der Front zurückgekehrt ist, stockt ihr Gespräch, bis ihr Freund einen reizend obszönen Witz erzählt. Ihr Lachen stellt ihre Kommunikationsfähigkeit wieder her:

Marjanes Widerstand wird inspiriert von ihren Eltern, ihrer Großmutter, und der Erinnerung an einen geliebten Onkel, der vom Ayatollah-Regime hingerichtet wurde. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte er ihr die Geschichte seiner jahrelangen Inhaftierung durch das Regime des Schahs erzählt und sie aufgefordert, sich an alles zu erinnern: „Unser Familiengedächtnis darf nicht verloren gehen, auch wenn es für dich nicht einfach ist, sogar wenn du nicht alles verstehst.“ Mit gekreuzten Beinen in ihrem Pyjama neben seinem Stuhl sitzend antwortet sie: „Mach dir keine Sorgen, ich werde nie vergessen.“

Persepolis ist ein außergewöhnliches Werk des persönlichen und familiären Gedächtnisses, obwohl es in seiner höchst individuellen Gestaltung sicherlich nicht die ganze Geschichte der iranischen Geschichte und Kultur darstellt (und auch nicht behauptet). Fast ausnahmslos sind beispielsweise die Iraner, denen wir in diesem Buch begegnen, entweder idealistische Linke oder repressive Islamisten. Eine gute Ergänzung zu Satrapis zeitgenössischer, weltlicher Suche nach Identität ist das Buch, dem wir uns morgen zuwenden, Farid ud-din Attars „Die Konferenz der Vögel“ aus dem 12. Jahrhundert, einem Werk voller Sufi-Mystizismus, das Attar seine eigene Grundlage für eine Suche bietet, Kritik an seiner Kultur und ihren Ideologien zu üben.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-29-tehran-shiraz-marjane-satrapi-persepolis
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

26. Juni: Mahmoud Darwish: The Butterfly’s Burden/“Wir haben ein Land aus Worten“

Hervorgehoben

26. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

[Mahmoud Darwish: Wir haben ein Land aus Worten: Eine Studie zum Werk von Mahmud Darwish und ausgewählte Gedichte. Ammann Verlag, Zürich 2002.
Leider existiert der Verlag nicht mehr.
EIne deutsche Übersetzung von „The Burdon of the Butterfly“ gibt es noch nicht.]

Mahmoud Darwishs eindringliche Poesie habe ich erstmals durch die Arbeit meines langjährigen Columbia-Kollegen an der Columbia-Universität [in New York] Edward Said kennengelernt. Unter Saids zahlreichen Büchern ist mein persönlicher Favorit „After the Last Sky“ (1986), seine Evokation der Erinnerungen eines Exilanten an die Heimat, strukturiert als Reflexionen über Fotografien des palästinensischen Alltags des französischen Fotografen Jean Mohr gelegt:

Said entnahm seinen Titel aus Darwishs Gedicht „,The Earth is Closing on Us:‘ The Nakba“, zu Deutsch: „,Die Erde schließt sich über uns>‘ Die Katastrophe“, in dem der Dichter – damals im Exil in Beirut lebend – fragt:

Wohin sollen wir nach den letzten Grenzen gehen?

Wohin sollen die Vögel nach dem letzten Himmel fliegen?

Wo sollen die Pflanzen nach dem letzten Atemzug schlafen?

Vor kurzem verwendete eine deutsche Künstlerin, Freda Guttman, diese Zeilen 2008 in einer Collage [die sein Gedicht :

In Guttmans Verwendung des Gedichts existiert eine interessante Ambiguität. Die ersten Zeilen erscheinen unten, und wenn wir die Bilder von dort aus nach oben lesen, erkennen wir das fortschreitende Verschwinden der palästinensischen Flüchtlinge während der Nakba – der Katastrophe – 1948. In dieser Richtung sind die drei Fragezeilen jedoch in der falschen Reihenfolge. Sie sollten von oben nach unten gelesen werden, und in diesem Fall setzt die Poesie die vertriebenen Palästinenser zunehmend in den Fokus.

Anwesenheit und Abwesenheit sind in Darwishs Werk miteinander verflochten und dienen sogar als Titel seines letzten Buches, das zwei Jahre vor seinem Tod im Jahr 2008 veröffentlicht wurde: „In the Presence of Absence“, zu Deutsch In der Gegenwart von Abwesenheit (Fī Hadrat al-Ghiyāb). In dieser wechselnden Sammlung von Epigrammen, Prosadichtungen und Vignetten erinnert er sich an seine vielen Erfahrungen von Entwurzelung und Exil. Diese begannen mit der Zwangsmigration seiner Familie 1948 im Alter von sieben Jahren, als die israelische Armee in sein Dorf einfiel und die Familie in der Nacht in Richtung Libanon floh.

“Wir hatten zu dieser Zeit keinen Feind außer Licht und Ton. In dieser Nacht hatten wir keinen Verbündeten außer Glück. Die sanfte Stimme der Angst tadelt dich: Nicht huste, Junge, denn Husten führt den Tod zu seinem Ziel! Zünde kein Streichholz an, Vater, denn ein Blick auf deine kleine Flamme zieht eine Feuer von Kugeln an. … Wenn ein fernes Licht auftauchte, musste man die Form eines Strauchs oder eines winzigen Felsens annehmen und denen Atem anhalten, damit das verräterische Licht einen nicht hört.”

Die Familie kehrte ein Jahr später aus dem Libanon zurück, aber die Israelis hatten ihr Dorf zerstört, also ließen sie sich in Acre innerhalb der Grenzen des neuen Staates Israel nieder. Da sie fort gewesen waren, gehörten sie nun zur oxymoronischen Kategorie der „Anwesend-Abwesenden“ und mussten ständig ihr Recht rechtfertigen, wieder in ihrer Heimat zu sein. Darwish begann in den 1960er Jahren mit der Veröffentlichung von hoch-politischen Gedichten und wurde wiederholt inhaftiert, bis er ins Exil ging und in Ägypten, im Libanon und anderswo lebte, bis er 1995 zur Beerdigung seines Freundes Emile Habiby zurückkehrte.

Quelle

So grundlegend der palästinensische Kampf für Darwish auch war, entwickelte er seine Arbeit im Dialog mit der Weltdichtung, und sein frühestes Engagement galt der poetischen Sprache selbst. So sagt er in „Gegenwart der Abwesenheit“ über seine Kindheit: „Du liebst Poesie, und der Rhythmus, den der Buchstabe Nūn anspornt, führt dich in eine weiße Nacht. … Kein Stamm hat jemals ohne einen Dichter gesiegt, und kein Dichter hat gesiegt, wenn er nicht mit Liebe besiegt wurde.“ Er fügt hinzu: „Man wird Räume betreten, die man nicht kennt, da eine Geschichte in Scheherazades endlosen Nächten eine andere erzeugt. Man wird Teil einer Geschichte in einer magischen Welt, die nichts um einen herum ähnelt. . . . Worte sind Wesen. Das Spiel wird einen so verzaubern, dass man Teil davon wird.“ Er fragt sich jedoch: „Wie können Worte genug Raum zur Umarmung der Welt besitzen?“

Darwish umarmte die Welt in einer Kaskade von Gedichten, gesammelt in mehr als dreißig Bänden. Es gibt keine umfassende Sammlung seiner Gedichte in englischer Sprache, obwohl es eine gute Auswahl an Gedichten aus den 1980er und 1990er Jahren unter dem Titel Unfortunately, It Was Paradise (2013) (Leider war es das Paradies) sowie „The Butterfly’s Burden“ (Die Last des Schmetterlings) gibt, wo drei kurze Gedichtbände von aus den Jahren 1998-2003 zusammengefasst werden. Um einen umfassenden Überblick über Darwishs Output zu erhalten, müsste man daher passenderweise verstreute Veröffentlichungen aus mehreren Ländern in Büchern, Zeitschriften und Zeitungen zusammenstückeln. Wie Darwish in “You’ll Be Forgotten, As If You Never Were,” („Man wird vergessen sein, als ob man nie existiert hätte“), einem Gedicht aus „The Butterfly’s Burden“, sagt: „Ich bin der König des Echos. Mein einziger Thron ist der Rand.“

Darwishs spätere Gedichte spiegeln oft seine früheren wider. „The Butterfly’s Burden“ entstammt als Titel aus einer Zeile aus dem Jahr 1998 aus einem Gedicht in der Sammlung, aber es war ursprünglich eine Zeile aus einem Gedicht aus dem Jahr 1977. Darwish echot oftmals seine Lieblingsdichter aus Vergangenheit und Gegenwart. Seine 2003 erschienene Sammlung „Don’t Apologize for What You Done“ (Entschuldige dich nicht für das, was du getan hast), (der dritte Abschnitt von The Butterfly’s Burden), enthält einen doppelten Epigraph eines syrischen Dichters aus dem 9. Jahrhundert und eines spanischen Modernisten aus dem 20. Jahrhundert: 

Eine Telepathie des Geistes oder eine Telepathie der Schicksale:

Weder bist du du

noch ist Zuhause Zuhause

Abū Tammām

Und jetzt bin ich nicht ich

und das Haus ist nicht mein Haus

Federico García Lorca

Darwishs Austausch mit seinen palästinensischen Mitbürgern war besonders intensiv. In  “Face Lost in the Wilderness“, („Gesicht verloren in der Wildnis“) drückt Fadwa Tuqan (1917-2003) eine tiefe Ambivalenz gegenüber der gefährlichen Anziehungskraft der Erinnerung aus – eines verlorenen Landes oder einer verlorenen Liebe, oder beides:

Nein! Bitte mich nicht, mich zu erinnern. Das Gedächtnis der Liebe

ist düster, der Traum getrübt:

Liebe ist ein verlorenes Phantom

in einer Wildnisnacht.

Freund, die Nacht hat den Mond erlegt.

Im Spiegel meines Herzens findest du keinen Zuflucht,

nur das entstellte Gesicht meines Landes.

Ihr Gesicht, lieblich und verstümmelt,

ihr kostbares Antlitz …

In “Diary of a Palestinian Wound: Rubaiyat for Fadwa Tuqan,”, im Deutschen erschienen unter „Tagebuch einer Palästinensischen Wunde”, Rubaiyat für Fadwa Tuqan, entgegnet Darwish ihr:

Uns steht frei, uns nicht zu erinnern, weil Carmel

in uns ist

& auf unseren Wimpern wächst das Gras der Provinz

Galiläa.

Sag nicht: Ich wünschte, wir würden wie der Fluss dorthin fliessen. /

Sag das nicht.

Wir existieren im Fleisch unseres Landes und es in uns.


Überlasse diesen ganzen Tod mir, oh Schwester.

Verlasse all dieses Vagabundiererei.

Sieh! Ich verflechte es zu einem Stern über seiner Katastrophe.

Darwish stand auch im Dialog mit Edward Said, seinem Freund über dreißig Jahre hinweg.

Quelle:

In seinem Aufsatz „Reflections on Exile“ (Reflektionen übers Exil) beschrieb Said das Exil als die unheilbare Kluft, eingezwängt zwischen einem Menschen und einem Heimatort, zwischen dem Selbst und seiner wahren Heimat:

“seine wesentliche Betrübnis kann niemals überwunden werden. Und während Literatur und Geschichte sicherlich heldenhafte, romantische, glorreiche, sogar triumphale Episoden im Leben eines Exilanten enthalten, stellen dies nicht mehr als nur Kraftakte dar, um das lähmende Leid der Entfremdung zu überwinden. Die Errungenschaften des Exils werden dauerhaft durch den Verlust von etwas untergraben, das für immer zurückgelassen wurde.”

Als Said 2003 im Alter von 67 Jahren an Leukämie starb, komponierte Darwish eine Elegie für seinen langjährigen Freund, in der er den Schmerz, aber auch die Freiheit des Exils hervorhob:

Die Welt draussen ist Exil,

Exil ist die Welt im Innern.

Und was bist du zwischen den beiden?

Indem sie frei die Kulturen bewandern

finden diejenigen auf der Suche nach der menschlichen Essenz

vielleicht einen Sitzplatz für alle

Darwish betitelte seine Elegie Tabiq („Kontrapunkt“), in Erinnerung an Saids „kontrapunktischen“ Ansatz zum kritischen Denken, der sich niemals mit einer singulären oder statischen Argumentationslinie zufrieden gab. Das Gedicht selbst ist kontrapunktisch-vielstimmig, Elegie und Interview verbindend, da er und Said sich gegenseitig herausfordernde Fragen stellen. Das Gedicht beschreibt Said sowohl als heldenhafte Verkörperung des intellektuellen Widerstands als auch als jemanden, der die täglichen Freuden des Lebens in New York und an einer Elite-Universität genoss:

[Hier ist eine Aufnahme der Elegie von Darwish an Said auf Arabisch mit englischen Untertiteln:]


New York. Edward wacht auf zu

einer trägen Morgendämmerung.

Er spielt

Mozart.

Läuft um das Tennisplatz der Universität.

Denkt an die Reise der Ideen über

Grenzen

und über Barrieren hinweg. Er liest die „New York Times“.

Führt seinen erbosten Kommentare aus. Verflucht einen Orientalisten,

den General zur Schwachstelle führend

im Herzen einer orientalischen Frau. Er nimmt eine Dusche. Wählt

seinen eleganten Anzug. Trinkt

seinen weißen Kaffee. Schreit das Morgengrauen an:

Nicht herumlungern.

2012 unterrichtete mein Sohn Peter nach seinem Universitätsabschluss in Jordanien und schickte mir als Geschenk eine Zeile aus diesem Gedicht, das er von einem Mosaikkünstler in Stein meißeln ließ:

„Er denkt an die Reise von Ideen über Grenzen hinweg.“

Quelle: privat

Ein perfektes Abbild von Edward Saids und Mahmoud Darwishs Lebensweg und Werk – und ebenfalls vom weltlichen Lebensweg der Weltliteratur.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-26-mahmoud-darwish-butterflys-burden
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

25. Juni: Emil/Emile/Emily Habibi, „Der Peptimist“

Hervorgehoben

25. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Während Dror Mishanis Mizrahi-Figuren das Leben in Israel als Bürger zweiter Klasse erleben, ist die Situation der Palästinenser erheblich angespannter. Dies gilt auch für palästinensische Christen wie den heutigen Autor. Emily [Emil im deutschsprachigen Autorenverzeichnis, oder Emile] Habibi (oder Habiby) wurde 1921 in eine arabisch-christliche Familie in Haifa, damals noch unter britischer Herrschaft, geboren, und wurde Journalist. Zu Beginn der der 1940er Jahre war er der Herausgeber einer der führenden linkspolitischen Zeitung, Al-Ittihad („Einheit“). Sowohl der arabische als auch der jüdische Widerstand gegen die britische Herrschaft hatten seit den 1930er Jahren zugenommen, aber ,nachdem die Vereinten Nationen Ende 1947 einen Teilungsplan aufgestellt hatten, brach ein offener Bürgerkrieg aus, der zur einseitigen Erklärung der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 führte. Am nächsten Tag marschierte eine Koalition arabischer Staaten in Israel ein. Sie erwarteten einen entscheidenden Sieg, wurden aber 1949 nach mehr als einem Jahr erbitterter Kämpfe besiegt. In dieser Zeit, die auf Arabisch als Nakba (die Katastrophe) bekannt ist, gingen rund 700.000 Palästinenser ins Exil.

Quelle: Foto aufgenommen von David S. Boyer, Corbis; beim New Yorker oder beim Jewish Chronicle.



In den folgenden drei Jahren wanderte eine ähnliche Anzahl von Juden in den neuen Staat aus, und die Palästinenser, die in Israel blieben, gerieten unaufhaltsam unter israelische Herrschaft. Habibi setzte seine journalistische Arbeit fort und verstärkte in dieser Zeit seine politische Aktivität. Er war Mitbegründer der Kommunistischen Partei Israels, obwohl er sie 1991 verließ, als Parteimitglieder gegen die Reformen von Michail Gorbatschow in der Sowjetunion opponierten. Er kritisierte scharf die israelische Politik gegenüber Palästinensern, unterstützte jedoch das Ziel einer friedlichen Koexistenz in zwei Staaten. Er diente zwei Jahrzehnte in der israelischen Knesset, trat 1972 zurück, um sich seinem Schreiben zu widmen, und veröffentlichte 1974 sein Meisterwerk „Der Peptimist“. Anfang der neunziger Jahre erhielt er Literaturpreise sowohl von der Palestine Liberation Organization (PLO) als auch vom Staat von Israel. Als Antwort auf die Kritik an seiner Annahme des israelischen Preises schrieb er: „Ein Dialog der Preise ist besser als ein Dialog der Steine und Kugeln.“

Wie viele postkoloniale Schriftsteller verbindet Habibi lokale und europäische Traditionen. Sein Antiheld ist eine klassische arabische Tricksterfigur, deren Geschichte mit Begrifflichkeiten aus Voltaires „Candide“ umrahmt ist. Wie wir bereits bei Dickens und D. A. Mishani gesehen haben, kann sein Buch sowohl wörtlich als auch symbolischer gelesen werden. Diese Optionen werden durch die kontrastierenden Umschläge der britischen und amerikanischen Ausgabe der englischen Übersetzung gut dargestellt:

Quelle: Lenos-Verlag.

Die britische Ausgabe zeigt einen streng dreinschauenden Palästinenser vor einem trostlosen Hintergrund, während die amerikanische Ausgabe ein pastellfarbenes Porträt einer schemenhaft scheichartigen Figur zeigt, die aus dem Buch hinter ihm hervorzutreten scheint – vielleicht Candide. Idealerweise sollte Habibis Buch mit beiden Registern zusammen gelesen werden, da es Fantasie und Realismus vermischt, wie es Optimismus und Pessimismus miteinander verblendet.

Habibi prägte den Begriff al-mutasha’il (von Salma Jayyusi und Trevor LeGassick auf Englisch als „Pessoptimist“ gut wiedergegeben, [während die deutsche Ausgabe den Titel „Peptimist“ wählt]), indem er die Wörter mutasha’im („Pessimist“) und mutafa’il („Optimist“) kombinierte: gegenwärtige Umstände erlauben es nicht einmal seinem töricht optimistischen Helden, pur optimistisch zu sein. Nach dem arabisch-israelischen Bürgerkrieg [auch: Palästinakrieg; israelischer Unabhängigkeitskrieg ] von 1948-1949 wird Saeed ein Informant der israelischen Polizei gegen palästinensische Kommunisten, in der Hoffnung, in seiner Heimatstadt Haifa leben und mit seinem Schatz Yuaad wiedervereinigt werden zu können, die aus Israel vertrieben wurde, dessen Name jedoch „wird zurückkehren“ bedeutet. Saeed heiratet schließlich eine andere Frau, mit der er einen Sohn hat. Eine Reihe von düster-komischen Missgeschicken gipfelt im Tod seines Sohnes, der getötet wird, nachdem er Widerstandskämpfer geworden ist. Saeed ist überzeugt, dass er von Außerirdischen kontaktiert wurde, und schreibt seine Geschichte, während er in einer Irrenanstalt in einem ehemaligen britischen Gefängnis eingesperrt ist. Am Ende des Romans ist Saeed selbst verschwunden; vielleicht ist er gestorben, oder er versteckt sich in antiken Katakomben unter der Stadt Acre, oder vielleicht wurde er von seinen außerirdischen Freunden in den Weltraum verschleppt.

Saeeds ganze Familie trägt den Namen Pessoptimist, eine Rufnamen, den sie sich hart verdient haben. Die Familie trägt eine lange Tradition von ehelicher Untreuen und politischen Kompromissen mit sich; die Frauen waren immer untreu, und die Männer arbeiten für Diktatoren im Nahen Osten sowie für die israelische Regierung. Saeed erklärt stolz, dass „der erste Araber, der von der israelischen Regierung zum Vorsitzenden des Komitees für die Verteilung von Löwenzahn und Brunnenkresse in Obergaliläa ernannt wurde, aus unserer Familie stammt“, ohne zu reflektieren, dass sein Verwandter sich für eine absurd triviale Belohnung verkauft hat. Er kämpft weiter, aber nicht für Gerechtigkeit oder eine sinnvolle Beförderung: Er strebt „bisher erfolglos Vertriebsrechte auch für Niedergaliläa an“.

Als Beispiel für den Peptimismus der Familie zitiert Saeed die Antwort seiner Mutter, als einer seiner Brüder bei einem Arbeitsunfall getötet wird. Unbeabsichtigt wiederholte sie Voltaires Pangloss und sagte heiser: ‚Es ist am besten, dass es so und nicht anders passiert ist!‘ Ihre frisch verwitwete Schwiegertochter fragt wütend, was schlimmer hätte sein können, worauf die Mutter ruhig antwortet: „Dass du während seines Lebens weggelaufen bist, mein Mädchen, um mit einem anderen Mann davongelaufen zu sein.“ Saeed fügt trocken hinzu: „Man sollte sich natürlich daran erinnern, dass meine Mutter unsere Familiengeschichte nur allzu gut kannte.“ Bald darauf läuft die junge Witwe mit einem anderen Mann davon, der sich als unfruchtbar erweist. „Als meine Mutter hörte, dass er so war, wiederholte sie ihren Lieblingsspruch: ,Und warum sollten wir Gott nicht preisen?'“ Saeed schlussfolgert: „Also, was sind wir dann? Optimisten oder Pessimisten?“

Ein Kapitel ist der „erstaunlichen Ähnlichkeit zwischen Candide und Saeed“ gewidmet. Saeed wird von seinem außerirdischen Freund wegen der Nachahmung von Candide kritisiert und erwidert: „Gib nicht mir dafür die Schuld. Gib unsere Lebensweisedie Schuld, die sich seit Voltaires Tagen nicht geändert hat, außer dass El Dorado auf diesem Planeten existiert“ – eine optimistische Formulierung, die den zionistischen Utopismus naïv widerspiegelt. Habibis Satire lässt niemanden unberührt. Voltaire sah sich als Stimme und Schlichtungsrichter der Vernunft, und Candide war ein ehrenwerter Unschuldiger, Saeed jedoch ist gleichzeitig naiv und korrupt. 1948 klaut er als Chef der kollaborativen Palästinensischen Arbeitergenossenschaft in Haifa von fliehenden Arabern verlassenes Eigentum. Er krallt sich das, was noch übrig ist, nachdem die Häuser bereits von der Treuhandverwaltung für Verlassene Immobilien und dann von der neu eingesetzten arabischen Führung der Stadt ausgeräumt wurden. Dann, 1956, nach dem Sechs-Tage-Krieg, als er mittellose Menschen sieht, die ihr Hochzeitsgeschirr für ein britisches Pfund pro Set verkauften, schlussfolgert er peptimistisch: „Von gratis haben wir uns von ein Pfund bewegt. Die Dinge schreiten wirklich voran!”

Während des gesamten Romans sehen wir, wie eng der Widerstandsdrang und die zum Überleben notwendigen Kompromisse miteinander verflochten sind. Die Palästinenser, die dazu vereinnahmt wurden, für den Staat Israel zu arbeiten, haben sich an dem israelischen Programm mitbeschuldigt, „eine ganze Nation völlig und absolut vergessen zu machen“, ein Thema, das Habibi durch das detailreiche Erzählen internalisiert. So werden nach dem Krieg von 1948 in einem Schulzimmer, das die Besatzungsmacht übernommen hat, die Schultafeln für Tischtennisplatten verwendet. Der Staat Israel und die kooperierenden Palästinenser sind jedoch nicht die einzigen Ziele von Habibis Satire. Das Durchlaufen des Romans ist eine suchende Kritik an arabischen Eliten im Nahen Osten, die Palästinenser in Flüchtlingslagern gehalten und die Wut der Bevölkerung gegen Israel gefördert haben, um die Aufmerksamkeit von ihrem eigenen Autoritarismus und ihrer Gier abzulenken. Es ist kein Wunder, dass Saeeds stets kompromittierte Familie, die auf „alle noch nicht besetzten arabischen Länder“ verteilt ist, einen Kapitän in Syrien, einen Major im Irak, einen Oberstleutnant im Libanon und einen Verwandten umfasst, „die sich auf das Zigarettenanzünden für verschiedene Könige spezialisiert haben.“

Habibi adaptiert Voltaire, und verschärft seine Gesellschaftskritik. Wie wir sehen werden, wenn wir in einem Monat zu “Candide”kommen, verspottete Voltaire den religiösen Dogmatismus, kritisierte aber dezenter seine eigene aristokratische Klasse. Im Gegensatz dazu zeigt Habibi, dass sowohl mächtige Araber als auch Israelis in den Status Quo investieren, und, obwohl er unser ironisches Mitgefühl für seinen unglücklichen Helden Saeed zum Ausdruck bringt, suggestiert er, dass Machtlosigkeit und Macht korrumpieren können. Voltaires Heldin Cunégonde tut, was sie tun muss, um zu überleben, aber sie bewahrt ihre Haltung und eine grundlegende Integrität durch ihre wechselvolle Karriere. Saeeds Entscheidungen beinhalten eine weitaus beunruhigenderen Mix aus Feigheit und Verrat. Sein Sohn rebelliert schließlich gegen seine Passivität, und, obwohl er bei dem Versuch stirbt, weist er den Weg zu einem langanhaltenden Widerstand, der die einzige Hoffnung auf endgültigen Erfolg darstellt – einem Widerstand, mit dem gewissenhafte Araber und Juden, so will es Habibi, gleichermaßen gegen den Status Quo vorgehen. Saeed hofft, dass sich die Situation eines Tages ändern kann, aber nur, wenn die Menschen bessere Alternativen finden als Kollaboration oder Kugeln. Sie müssen zusammenarbeiten, um die Gesellschaft auf einer neuen Basis aufzubauen, etwas, das Saeed nicht selbst versuchen will. Am Ende der Geschichte sitzt Saeed wie ein heiliger Asket auf einer hohen c-förmigen Säule, anscheinend einer Fernsehantenne – und bekommt eine Vision seiner Vorfahren und seiner Lieben, die sich alle unter ihm versammelt haben. Yuaad blickt auf und erklärt: “Wenn diese Wolke vorbeizieht, wird die Sonne wieder scheinen!”

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-25-emile-habibi-secret-life-saeed-pessoptimist
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.
Emil Habibi:Deutsche Übersetzung von Ibrahim Abu Hashhash: Der Peptimist oder von den seltsamen Vorfällen um das Verschwinden Saids des Glücklosen. Basel: Lenos, 1995

24. Juni: Israel/Palästina: Dror Mishani, „Vermisst. Avi Avraham ermittelt“

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24. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard
[Deutsche Uebersetzung: Vermisst. Aus dem Hebräischen, Tik Ne’edar (2011), von Markus Lemke. Zsolnay, Wien 2013]

In der Eingangsszene von “Vermisst” wird ein müder Detektiv Avi Abraham am Ende des Tages von einer Frau aufgesucht, die möchte, dass er ihren Teenager-Sohn findet, der an diesem Nachmittag nie von der Schule nach Hause zurückgekommen ist. Avi versichert ihr, dass der Junge wahrscheinlich gerade weggegangen ist, um eine Freundin zu sehen oder etwas Gras zu rauchen, und dann bricht es aus ihm heraus: „Weißt du, warum es im Hebräischen keine Kriminalromane gibt?“ Er fährt fort:

„Weil wir solche Verbrechen nicht haben. Wir haben keine Serienmörder. Wir haben keine Entführungen. und es gibt nicht viele Vergewaltiger, die Frauen auf der Straße angreifen. Wenn hier ein Verbrechen begangen wird, ist es normalerweise der Nachbar, der Onkel, der Großvater, und es ist keine komplexe Investigation erforderlich, um den Verbrecher zu finden und das Rätsel zu lösen. Es gibt hier einfach kein Geheimnis.“

Überflüssig zu erwähnen, dass Mishani Avi das Gegenteil beweisen wird.

Avis Behauptung spiegelt die Situation wider, die Mishani in seiner Jugend in den 1980er Jahren widerfahren ist. Wie Chimamanda Adichie war er ein frühreifer Leser, und wie sie waren auch die Bücher, die er finden konnte – zumindest im Detektiv-Genre, zu dem er hingezogen wurde – britische Importe. Wie er in einem Artikel „The Mystery of the Hebrew Detective”, über das Mysterium um den hebräischen Detektiv ausführt, wurde er im Alter von acht Jahren ein begeisterter Leser von Conan Doyle, und als er zwölf Jahre alt war, las er alle Agatha Christies, die in seiner örtlichen öffentlichen Bibliothek in die Finger kriegen konnte. „Ich stand vor den Regalen der Bibliothek, in denen fast keine anderen Kriminalromane angeboten wurden, und fragte mich: Und was nun? Gibt es wirklich keine anderen Detektive auf der Welt, die ich lesen könnte?

Mishani fährt fort, dass Fragen und Probleme der ethnischen Zugehörigkeit, der Klasse und des Nationalismus das Genre in Israel unterdrückt hätten. Stattdessen gäbe es Thriller und Spionageromane, die oft mit dem arabisch-israelischen Konflikt verbunden waren, wo die eigentliche Aktion im Geheimdienst des Mossad und der staatlichen Sicherheitstruppe Shin Bet stattfand. Gewöhnliche häusliche Verbrechen würden von den örtlichen Polizeikräften untersucht, die größtenteils von Mizrahis – Juden nahöstlicher oder nordafrikanischer Abstammung – besetzt waren, und ihre Arbeit würde nicht als emblematisch für die Nation oder sogar als dramatischer Konflikt erachtet.

Mishanis Romane füllen diese Lücke, und die gewiefte Brillanz seiner Handlung sowie die emotionale Charaktertiefe in seiner Darstellung seiner Figuren haben seine Krimis zu Weltruhm erhoben. Wie Donna Leon nimmt er an den internationalsten der literarischen Genres teil, und wie Leon wird er dafür gelobt, dass er den Geschmack seines gewählten Schauplatzes, des rauen Vororts von Tel Aviv in Holon, vermittelt.

Wie wir beim Lukasevangelium gesehen haben, ändert sich die Bedeutung eines Werks, wenn es ins und im Ausland wandert. In Mishanis Fall hat seine Arbeit dabei sowohl lokaler als auch internationaler entwickelt, wie wir sehen können, wenn wir die hebräische Ausgabe (2011) mit der US-amerikanischen Ausgabe 2013 vergleichen:

Quelle: D-A- Mishani-Webseite
Quelle: HarperCollins
Quelle: Hanser-Verlag und Zsolnay

Das stark stilisiert Cover des Verlages Tik ne’edar zeigt den Teenager mit seinem Rucksack – ein Detail, das ein Wortspiel aus dem Hebräischen widerspiegelt, da das Wort „tik“ „Tasche“ oder „Akte“ bedeutet und somit auf die fehlende Schultasche des Jungen (ein Schlüssel zum Handlungverlauf) und den Fall des Verschwindens hinweist. Der Schwerpunkt liegt ausschließlich auf das zu lösende Rätsel ohne spezifischen lokalen oder internationalen Bezug. Im Gegensatz dazu wird die amerikanische Ausgabe für ihr internationales Publikum neu eingerahmt. Dror Mishani selbst wurde im britischen Stil zu „D. A. Mishani“ umbenannt, und das Cover ist mit einem leuchtenden Klappentext von HENNING MANKELL, INTERNATIONALER BESTSELLER-AUTOR DER MANKEL-WALLANDER-KRIMIREIHE, verziert. Während die Titelseite die internationale Anziehungskraft des Buches heraushebt, geht die Rückseite zurück zu den Wurzeln:

Quelle: HarperCollins



Die obige Beschreibung lokalisiert den Roman in einem „ruhigen Vorort von Tel Aviv“, während der zentrale Klappentext betont, dass „das Ortsgefühl hier faszinierend ist“, und das letzte Zitat verkündet, dass „Leser von andersartigen Krimis an ungewöhnlichen Schauplätzen seine geplante Fortsetzung kaum erwarten werden können.“

Ich habe mich zum ersten Mal für Mishani interessiert, als ich zusammen mit meinen europäischen Kollegen Louise Nilsson und Theo D’haen als Mitherausgeber von „Crime Fiction as World Literature“, eine Sammlung über Krimis als Weltliteratur (2017), fungierte. Wir haben einen hervorragenden Beitrag von Maayan Eitan aufgenommen, einer Doktorandin an der Universität von Michigan, die skeptisch gegenüber der Behauptung war, dass Krimis wirklich jede lokale Realität jenseits eines Lokalkolorits vermitteln. Als Beispiel zitierte sie eine Passage aus dem „Nordic Noir“, dem düsteren Norden, von Mishanis Bewunderer Henning Mankell:

„Der Himmel über der Polizeistation und dem Ystad-Krankenhaus war fast pechschwarz, als Wallander das Gebäude verließ. Es war nach sieben. Er bog rechts in Kristianstads-vägen und wieder rechts in Fridhems-gatan ab und wurde zwischen den Fussgängern verschluckt. […] Er versuchte, nicht von ihrem Schritttempo verschluckt zu werden. Langsam, langsamer. Es war ein angenehmer Abend Anfang September. In den kommenden Monaten würde es davon nicht viele geben.“

Dennoch bleiben lokale Unterschiede bestehen. Wie die Verweise der Apostel auf die Hebräische Bibel sind diese für das heimische Publikum oftmals deutlicher als für den Leser aus dem Ausland. Die ethnischen Spannungen zwischen Mizrahi-Einwanderern und zionistischen „Sabras“ israelischer Herkunft werden Mishanis Landsleuten durch den Unterschied ihrer Namen nahegelegt, da die Mizrahis typischerweise arabisch klingende Namen wie Sharabi und Mantsour haben. Dieser Unterschied zeigt sich in der bevormundenden Art und Weise, wie Avi von einem Shin-Bet-Beamten vom Sicherheitsdienst angesprochen wird: Er „,Uri vom Service‘ habe mit ihm gesprochen, als würde der Besitzer eines Restaurants wahrscheinlich mit seinem niedrigsten Tellerwäscher sprechen, obwohl er ihm gegenüber im Alter als auch im sozialen Rang niedriger angesiedelt wäre.“ Trotzdem wird der ethnische Unterschied für einen ausländischen Leser wahrscheinlich nicht ins Auge stechen.

Andere lokale Unterschiede wirken sich auch bei der Übersetzung stark aus. Avi hat komisch unangenehme Interaktionen mit seinem zerstreuten Vater und seiner knuffigen jüdischen Mutter. Auf einer Reise nach Brüssel zur Polizeiarbeit erhält er einen Anruf von seiner Mutter, die den belgischen Wetterbericht gecheckt hat und hofft, dass er sich gegen den Regen einmummele. Noch düsterer ist, dass sich die Mutter des vermissten Jungen als missbrauchte Frau entpuppt, die in den begrenzten Möglichkeiten gefangen ist, die ihr in ihrer Umgebung geboten werden: „Sie schien verloren zu sein. Sie war es nicht gewohnt, Entscheidungen zu treffen – oder darauf zu bestehen. ,Ich weiß nicht, ob ihm etwas passiert ist‘, sagte sie. ,Es ist überhaupt nicht seine Art, einfach so zu verschwinden.'“ Später, als sich die Situation verschlechtert, „war ihr Wimmern leise, unterdrückt, bruchstückhaft, wie das eines Hundes, der außerhalb des Hauses zurückgelassen wurde und versucht hereinzugelangen.“

„Vermisst“ ist gleichzeitig heimisch verwurzelt und global, nicht in einem festen Verhältnis, sondern eher auf einer gleitenden Skala, deren Gleichgewicht von verschiedenen Lesern unterschiedlich geeicht wird. Leser, die für das israelische Umfeld sensibilisiert sind, werden mehr von dieser Dimension wahrnehmen, während andere Leser Mishanis Engagement für die Krimiwelt genießen werden. Mein Lieblingsmoment in dieser Dimension ist die Eingangsszene in „Die Möglichkeit eines Verbrechens“, dem zweiten Roman von Avi Abraham. Er sitzt zusammen mit seiner slowenisch-belgischen Freundin Marianka auf einer Parkbank in Brüssel und macht eine Pause vom Lesen eines „Romans von Boris Akunin“, als sie plötzlich von einer geistig verwirrten Frau angesprochen werden. Was Avi nicht realisiert, ist, dass die Situation, in die er hineingeraten ist, eine Variation der Eröffnung von Boris Akunins The Winter Princess ist, der erste seiner Reihe mit seinem Sherlockischen Helden Erast Petrovich Fandorin. Avi glaubt die ganze Zeit, er sei in der Heimat von Agatha Christies belgischem Helden Hercule Poirot versetzt worden; er erkennt jedoch nicht, dass er gerade in Akunins zaristisches Russland transportiert wurde. Aber dann, wie wir aus der Inschrift zu „Vermisst“ erfahren haben, unübersetzt aus Diderots Jacques le fataliste: „Comment s’étaient-ils rencontrés? Par hasard, comme tout le monde.“ Nicht zufällig, sondern durch Autorenentwurf, da Mishani seinen israelischen Detektiv passgenau in den großen Rahmen der Weltliteratur einfügt.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-24-israelpalestine-d-mishani-missing-file
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

[„Drei“ ist im Diogenes-Verlag erschienen]

23. Juni: Israel/Palästina: Das Neue Testament

Hervorgehoben

23. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Trotz all ihrer Konflikte hatten die Kulturen des alten Nahen Ostens viel gemeinsam, einschließlich ähnlicher Schreibkulturen. Und trotz ihrer unterschiedlichen Schriftsysteme verbanden sich überlappende literarische Traditionen vom „Hohelied der Liebe“ mit der ägyptischen Liebeslyrik und der Geschichte Noahs mit den mesopotamischen Flutnarrativen, aus denen es entspringt. Als Index für eine zugrunde liegende nahöstliche Identität können wir das Personalpronomen „ich“ hernehmen, das auf Akkadisch anakum, auf Ägyptisch anek, auf Hebräisch ani und auf Arabisch ana heisst.

Den Israeliten war es gelungen, sich während der Wellen babylonischer, ägyptischer, assyrischer und persischer Invasionen zu behaupten, aber zum Zeitpunkt der Geburt Jesu war eine andersartige Herausforderung aufgetreten: die sanfte Kraft der hellenistischen Kultur, verstärkt durch die militärische Macht des expandierenden Römisches Reich. Im zweiten Jahrhundert v. Chr. benötigten Juden in Ägypten die ins Griechische übersetzte Bibel, und zu Jesu Zeiten verdrängte Griechisch Hebräisch und Aramäisch in der neu gegründeten römischen Provinz Judäa, zumindest innerhalb der oberen Gesellschaftsschichten.

Die Anziehungskraft der griechisch-römischen Kultur wurde mir bei einem Besuch in Masada, der Felsenfestung mit Blick aufs Tote Meer, die Herodes der Große in den 30er Jahren vor Christus erbaut hatte, gezeigt.

Masada wurde während des 1. Jüdisch-Römischen Krieges von 66-73 n. Chr. belagert und schließlich von römischen Truppen überrannt, und im modernen Israel wurde es zu einem Symbol des Widerstands gegen die Fremdherrschaft. Am beeindrucktendsten für mich dort war jedoch Herods Calidarium, in das Dampf für die letzte Phase seines Bades geleitet wurde:


Hier stand ich also mit Blick aufs Tote Meer, wo ein Tourist, der Masada besuchte, einige Tage zuvor an einem Hitzschlag gestorben war, und Herodes benötigte eine Sauna? Klar tat er das; zu seiner Zeit war Rom das Heim, Glück allein. Die Römer liebten es, aufwendige Foren und erfrischende Badekomplexe in den gottverlassensten Außenposten zu errichten, einschließlich der fernen, feuchten Kolonie Großbritanniens, die Conrad zu Beginn von “Herz der Finsternis” hervorruft. Das römische Bad kann immer noch besichtigt werden, nach dem die [englische] Kurstadt Bath benannt ist:

Unter dem unaufhaltsamen Druck der griechisch-römischen Kultur waren die Literaturen Ägyptens, Babyloniens und vieler kleinerer Kulturen zu Jesu Zeiten verschwunden. Ihre traditionellen Schriftsysteme wurden durch das griechische und dann das römische Alphabet ersetzt, und der Mittelmeerraum war in das römische Mare nostrum einverleibt worden. Doch genau diese neu integrierte Welt ermöglichte es einer religiösen Reformbewegung innerhalb der lokalen judäischen Gemeinschaft, sich viral zu verbreiten. Handelsschiffe und römische Triremen dienten als Hauptvektoren der Viralexpansion, so wie es die 747er heute tun.

Noch bevor sie ins Ausland reisten, konnten die Apostel ihren neuen Glauben an ein neu globalisiertes Jerusalem verbreiten. Wie wir in der Apostelgeschichte erfahren haben, „lebten in Jerusalem fromme Juden aus allen Nationen unter dem Himmel“, zusammen mit einer wachsenden Anzahl von Nichtjuden. Gott hatte Joseph befähigt, die Träume des Pharao auf ägyptisch zu interpretieren, aber zu Pfingsten verlieh er den Aposteln nun die wundersame Fähigkeit, in allen möglichen Sprache verstanden zu werden:

“Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen:

Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa?

Wie hören wir denn jeder seine eigene Muttersprache?”

Parther und Meder und Elamiter und die wir wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Einwanderer aus Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und Araber: wir hören sie in unsern Sprachen von den großen Taten Gottes reden.“

(Apg 2: 6-11, [Text nach der Lutherbibel, Apostelgeschichte des Lukas])

Mittels des Medium der griechischen Sprache konnten die Schreiber des Neuen Testaments die ganze Welt ansprechen.

Diese neue Gelegenheit stellte eine beispiellose literarische Herausforderung dar: Wie wird eine lokale Geschichte für ein globales Publikum erzählbar? Dies ist heute ein grundlegendes Problem für Schriftsteller, insbesondere wenn sie in Randgebieten leben und nicht davon ausgehen können, dass Leser anderswo etwas über türkische oder thailändische Literatur und Geschichte wissen. Das Neue Testament zeigt einen der frühesten Fälle des peripheren Schreibens, die für eine weite(re) Weltrezeption bestimmt war. Gerade dieses sich verändernde Publikum ist beispielsweise für die fortschreitende Umschreibung der erschütternden letzten Worte Jesu am Kreuz verantwortlich.

Das Markusevangelium (und Matthäus ihm folgend) gibt die Äußerung Jesu auf Hebräisch wider und übersetzt sie dann: „Eloï, Eloï, lema sabachtani?, das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34, Einheitsübersetzung EU). Moderne Leser haben diese Worte oft als Schrei existenzieller Verzweiflung verstanden, aber Markus hätte Jesus unmöglich als zweifelnd an Gottes ständiger Präsenz darstellen können. Jesus sagt seinen notwendigen Tod voraus und, kurz bevor er im Garten von Gethsemane verhaftet wird, ist er betrübt und unruhig, aber er bittet Gott nur: „Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst“ (Markus 14,36 EU). Durch die Aufzeichnung der letzten Worte Jesu am Kreuz erwartet Markus von seiner Leserschaft, dass sie ihre Quelle (wieder-)erkennen, denn Jesus zitiert Psalm 22,2

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.

Mein Gott, des Tages rufe ich,

doch antwortest du nicht,

und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.“

[Lutherbibel]

Dieser Psalm wurde traditionell als Gebet interpretiert, in dem David erfolgreich Gottes Schutz suchte, als sein Sohn Absalom versuchte, den Thron zu usurpieren. Nachdem der Dichter seine Angst geäußert hat, ruft er unmittelbar Gottes unerschütterliche Hilfe hervor:

„Aber du bist heilig,

der du thronst über den Lobgesängen Israels.

Unsere Väter hofften auf dich;

und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.

Zu dir schrien sie und wurden errettet,

sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden [= enttäuscht].“

Psalm 22,4-6

Da Gedichte im Nahen Osten durch ihre erste Zeile bekannt waren, können wir darauf schließen, dass Jesus sich in seiner Qual tröstete, indem er den gesamten Psalm rezitierte. Schon in der ersten Zeile würde ein jüdisches Publikum das Stichwort sofort verstehen, so als würde heutzutage jemand sagen: „Ein Stich zur rechten Zeit“, wenn er weiß, dass der Hörer reflexartig „erhält das ganze Kleid.“ antwortet.

Nun gut; aber was ist mit dem Lukas-Evangelium? Dort werden die letzten Worte Jesu weit weniger emotional belastet: „ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ (Lukas 23:46, Lutherbibel).

Doch anstatt die existenzielle Angst zu unterdrücken, spiegelt diese Veränderung das wachsende Publikum der jungen Religion wider. Lukas schrieb ungefähr dreißig Jahre nach Markus und formulierte sein Evangelium so, wie er einen griechischen Freund ansprechen würde, „den ausgezeichnetesten Theophilus“ (Gottlieb). Lukas hat ein gemischtes Publikum aus Juden und Nichtjuden im Blick, und er weiß, dass seine nichtjüdischen Leser den Hinweis in Psalm 22 nicht verstehen werden. Deshalb lässt er Jesus einen anderen Psalm zitieren, dessen Zitat ohne Verwirrung aus dem Zusammenhang gerissen werden kann:

Da Gedichte im Nahen Osten durch ihre erste Zeile bekannt waren, können wir darauf schließen, dass Jesus sich in seiner Qual tröstete, indem er den gesamten Psalm rezitierte. Schon in der ersten Zeile würde ein jüdisches Publikum das Stichwort sofort verstehen, so als würde heutzutage jemand sagen: „Ein Stich zur rechten Zeit“, wenn er weiß, dass der Hörer reflexartig „erhält das ganze Kleid.“ antwortet.

Nun gut; aber was ist mit dem Lukas-Evangelium? Dort werden die letzten Worte Jesu weit weniger emotional belastet: „ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ (Lukas 23,46, Lutherbibel).

Doch anstatt die existenzielle Angst zu unterdrücken, spiegelt diese Veränderung das wachsende Publikum der jungen Religion wider. Lukas schrieb ungefähr dreißig Jahre nach Markus und formulierte sein Evangelium so, wie er einen griechischen Freund ansprechen würde, „den ausgezeichnetesten Theophilus“ (Gottlieb). Lukas hat ein gemischtes Publikum aus Juden und Nichtjuden im Blick, und er weiß, dass seine nichtjüdischen Leser den Hinweis in Psalm 22 nicht verstehen werden. Deshalb lässt er Jesus einen anderen Psalm zitieren, dessen Zitat ohne Verwirrung aus dem Zusammenhang gerissen werden kann:

[Ein Psalm Davids,vorzusingen.]

“HERR, auf dich traue ich,

lass mich nimmermehr zuschanden werden,

errette mich durch deine Gerechtigkeit!

Neige deine Ohren zu mir, hilf mir eilends!

Sei mir ein starker Fels und eine Burg,

dass du mir helfest!

Denn du bist mein Fels und meine Burg,

und um deines Namens willen wollest du mich leiten und führen.

Du wollest mich aus dem Netze ziehen, das sie mir heimlich stellten; denn du bist meine Stärke.

In deine Hände befehle ich meinen Geist;

du hast mich erlöst, HERR, du treuer Gott.”

Psalm 31,2-6

Ein paar Jahrzehnte später sucht das Johannesevangelium überhaupt nicht nach einer Bibelreferenz, sondern lässt Jesus einfach sagen: „Es ist vollbracht“ (Joh 19,30). ([…] Was Jesus auf Griechisch sagt, ist „Tetelestai“, was das Erreichen eines Ziels oder eines Telos bedeutet.) Johannes zitiert immer noch regelmäßig die Hebräische Bibel, aber nur halb so oft wie die früheren Evangelien, und er fügt für den ausländischen Leser oftmals Erläuterungen hinzu. Sein Hauptaugenmerk liegt auf der Bedeutung des Lebens und der Lehre Jesu für die Leserschaft überall.

Jesus ist nur einmal gestorben, aber in den Evangelien wurde sein Tod auf drei verschiedene Arten wiedergeboren: erstens als entscheidender Eingriff ins Judentum, zuletzt in der universellen Literatur des Johannes. Zwischen diesen Extremen verfasst Lukas ein lokal verwurzeltes Werk, das so konzipiert und gestaltet ist, dass es im In- und Ausland gelesen werden kann – einen Lösungsweg, den viele Weltautoren heutzutage verfolgen. Der Bogen von Lukas‘ Erzählung in die Apostelgeschichte des Lukas erstreckt sich von Jesus von Nazaret bis zu Paulus in Rom, wo er in den Schlusszeilen der Apostelgeschichte „zwei ganze Jahre auf eigene Kosten“ lebt und allen Ankömmlingen kühn die Lehren Jesu verkündet, im Herzen des größten Weltreiches. Paulus war eine Schlüsselfigur bei der Übersetzung des Christentums in eine Weltreligion; Lukas seinerseits schrieb für vielerlei Zuhörerschaft im Mittelmeerraum und verfasste vielleicht den ersten Narrativ, der jemals als Werk der Weltliteratur ersonnen wurde.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-23-israelpalestine-new-testament
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

22. Juni: Israel/Palästina: Die Hebräische Bibel

Hervorgehoben

22. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Die Fragen und Folgen der imperialen Eroberung und der Kolonialherrschaft, die wir in Afrika südlich der Sahara untersucht haben, haben auch weiter nördlich eine tiefe Geschichte. In den letzten vier Jahrtausenden gab es in der Region Israel/Palästina besonders schwere Konflikte zwischen der lokal ansässigen Bevölkerung und einer Vielzahl ausländischer Mächte. Bei meiner ersten Reise nach Jerusalem vor einigen Jahren nahm ich ein Taxi, um einen Vortrag an der Hebräischen Universität zu halten, als wir an einem ungewöhnlich freien Grundstück vorbeikamen. Als ich den Fahrer fragte, warum ein so großes Grundstück leer stehe, antwortete er: „Jeder Meter dieses Landes ist mit Blut bedeckt.“ Es wurde keine weitere Erklärung gegeben, oder es bedarf allem Anschein nach auch keiner.

Die Hebräische Bibel offeriert eine transzendente Vision eines einzigen und allmächtigen Gottes, so barmherzig wie er gerecht ist. Er verkörperte seinen Bund mit seinem auserwählten Volk in einer lebenswichtigen rituellen Ordnung, die in der Geschichte verwurzelt und durch Psalmen, prophetische Poesie und eindrucksvolles Geschichtenerzählen verstärkt wird. Im Gegensatz zu den epischen Produktionen imperialer Mächte sind die Geschichten und Gedichte der Bibel zutiefst von den Traumata wiederholter Invasionen, internen Konflikten und den ständigen Bedrohungen durch Assimilation und den Verlust des kulturellen Gedächtnisses geprägt.

Diese Bedrohungen erreichten 597 v. Chr. ihren Höhepunkt, als der babylonische König Nebukadnezar Jerusalem eroberte und seine Führer und zahlreiche Volksangehörige ins Exil deportierte.

Einige der größten biblischen Schriften sind ein Produkt des babylonischen Exils, wie der eindringliche Psalm 137:

An den Gewässern Babylons

wir setzten uns und weinten

als wir uns an Zion erinnerten.

Auf den Weiden dort

haben wir unsere Harfen aufgehängt.

Da unsere Entführer dort

von uns Lieder suchten,

und unsere Peiniger freuten sich und sprachen:

„Sing uns eines der Lieder des Zion!“

Wie sollen wir das Lied des Herrn singen

in einem fremden Land? (Verse 1-4)

In dieser klimatischen Zeile, „eik nashir et-shir-Adonai al admath nekhar?“ wird er Begriff „nekhar“, „fremd“, passend für seine babylonische Umgebung gewählt: Er ist verwandt mit dem Akkadischem „nakarum“, das „Feind“ oder „Rebell“ bedeutet.

Die Bibelschreiber wurden oft, wenn ich es so sagen darf, zwischen allen Stühlen, dem Irak und einem weichen Ort gefangen [als Referenz zu „between a rock and a hard place“], wobei der weiche Ort für die verführerischen „Fleischtöpfe Ägyptens“ steht. Eines der Meisterwerke der biblischen Erzählung ist die Geschichte von Joseph in Genesis 37-50 und zeigt die gefährliche Anziehungskraft, die Ägypten für die Wanderarbeiter ausübte, die sich regelmäßig auf die Suche nach Arbeit im fruchtbaren Nil-Deltal machten. Zu Beginn der Geschichte bevorzugte Josephs Vater ihn, und seine eifersüchtigen älteren Brüder sind gerade dabei, ihn zu töten, als sie eine Karawane auf sich zukommen sehen, mit Gewürzen, um sie in Ägypten zu verkaufen. Diese vorbeikommenden Händler bieten ein Sicherheitsventil für den Familienkonflikt: Die Brüder verkaufen Joseph an die Händler, die ihn wiederum an den ägyptischen Beamten Potiphar verkaufen.

Ägypten stand für alles, was Israel nicht war: ein polytheistisches Land mit unzähligen Tempeln und magischen Transformationen, ein reiches und sicheres Land mit langjährigen kulturellen Traditionen und festen sozialen Hierarchien. Ein ausländischer Sklave hätte normalerweise keine Aussicht auf Erfolg in diesem Umfeld gehabt, aber Gott lässt alles, was Joseph anfasst, gedeihen, und Potiphar gibt ihm die Verantwortung für seinen Haushalt. Potiphars Frau versucht leidenschaftsvoll, ihn zu verführen. Als er sie zurückweist, behauptet sie, Joseph habe versucht, sie zu vergewaltigen, und sie betont seine Fremdheit: „Sehen Sie“, sagt sie zu ihren Dienern, „mein Mann hat einen Hebräer unter uns gebracht, um uns zu verspotten!“ (Genesis 39:14). Ihre Diener haben vielleicht mehr mit Joseph gemeinsam als mit ihrer hochmütigen Herrin, aber Potiphars Frau beruft sich geschickt auf ethnische Loyalität („um uns zu verspotten“, „l’zahak banu“), um jegliche Solidarität unter den Arbeitern außer Kraft zu setzen.

In dieser Episode wird Joseph nicht nur in ein fremdes Land gestoßen. Er wird auch in eine fremde Geschichte verwickelt, so wie eine Figur, die heute nach Prag geht, dort oft kafkaeske Erfahrungen macht. Eine ägyptische Geschichte, das „Zweibrüdermärchen“, hatte zuvor eine falsche Anschuldigung einer verschmähten Frau enthalten. Der Held der Geschichte, Bata, arbeitet für seinen älteren Bruder Anubis, als Anubis‘ Frau ihn ersucht, ihr Liebhaber zu werden. Bata weigert sich, daraufhin sagt sie ihrem Mann, dass er versucht habe, sie zu verführen.

Die zwei Geschichten entwickeln dieses Thema auf sehr unterschiedliche Weise. Die ägyptische Geschichte basiert auf einer Märchenlogik, die aus sprechenden Tieren und der Verwandlung des Helden in einen Stier und danach in eine Kiefer besteht. In Form eines Splitters schwängert er seine Schwägerin, die zur Geliebten des Pharaos geworden ist, und er wird als nächster Pharao wiedergeboren, woraufhin er seine Schwägerin-Leihmutter hinrichtet. Im Gegensatz dazu gedeiht Joseph, indem er den Haushalt des Pharao umsichtig verwaltet, ohne wundersame Fähigkeiten, ausser seine gottgegebene Fähigkeit der Traumdeutung, und er ist schließlich dazu fähig, seinen Brüdern großmütig dafür vergeben, ihn in die Sklaverei verkauft zu haben.

Josephs Erfolg hat einen ambigen Unterton. Während der sieben mageren Jahre der Hungersnot, die auf die fetten Jahre des Wohlstandes folgen, in denen er Getreide gelagert hat, verteilt Joseph das Getreide an die hungernden Ägypter als Gegenleistung für ihre Knechtschaft für den Pharao – tatkräftig die Heimsuchung der Sklaverei auf die gesamte Bevölkerung. Der Einwanderer kann die Aufgaben erfolgreich erledigen, aber seine eigenen Nachkommen würden keine Nutzniesser dieser Früchte der Arbeit sein. Kaum ist Joseph gestorben, „entstand in Ägypten ein neuer König, der Joseph nicht kannte“ (2. Mose, Exodus 1: 8), und er versklavt die gesamte Bevölkerung hebräischer Gastarbeiter.

Gott sieht nun einen großen Führer vor, Moses, um die Israeliten aus Ägypten herauszuführen – eine Geschichte, die afroamerikanische Sklaven später als Inspiriation aufsuchen würden –, aber Moses lebt kaum, um seine Geschichte zu beginnen. Nachdem er vor dem Tod gerettet wurde, als seine Mutter ihn auf den Nil aussetzt, wird er von der Tochter des Pharaos gefunden und erzogen, aber dann tötet er einen Aufseher, der einen hebräischen Sklaven schlägt. Er flieht aus Ägypten, wird aber nicht wie erwartet in seine angestammte Heimat zurückversetzt. Stattdessen lässt er sich in einem Zwischenraum nieder, dem Land Midian auf der Arabischen Halbinsel, wo die Einheimischen glauben, er sei ein Ägypter. Dort heiratet er eine Midianiterin und hat einen Sohn. Er gibt dem Kind einen bedeutsamen Namen: Gershon, abgeleitet vom Begriff ger, „Fremdling, ansässiger Fremder“. „Denn er sagte: „Ich war ein Fremder in einem fremden Land „(2. Mose, Exodus 2:22, in der eloquenten Formulierung aus der [englischsprachigen] King-James-Bibel).

Er steht kurz vor der dauerhaften Assimilation, bis Gott ihm in Form eines brennenden Busches erscheint und ihn dazu auffordert, sein Volk in die Freiheit zu führen. Gott beschreibt Israel als „ein Land, in dem Milch und Honig fließen“, aber er fügt etwas bedrohlich hinzu, dass es auch „der Ort der Kanaaniter, der Hethiter, der Amoriter, der Perizziter, der Hiviter und der Jebusiter“ ist. Von Joseph aus der Bibel bis zu Joseph K. aus Kafka haben sich Charaktere in Rand- oder Minderheitenkulturen oftmals als Fremde in einem fremden Land wiedergefunden, selbst wenn sie sich zu Hause befinden.

Für viele Israeliten würde es nicht lange zu Hause sein. Die zwölf Stämme Israels wurden ein vereintes Königreich unter Saul ca. 1047 v. Chr., aber nach dem Tod Salomos im Jahr 930 spaltete sich das Königreich im Norden in Israel und im Süden in Juda auf. Im Jahr 750 wurde das nördliche Königreich von den Assyrern überrannt, die einen erheblichen Teil der zehn dort lebenden Stämme deportierten und verschiedene Gruppen in Mesopotamien herum umsiedelten:

Es ist dieser verheerende Verlust, der den Anweisungen in Exodus 28 für die kunstvollen Gewänder zugrunde liegt, die Aaron als Hohepriester tragen soll, wenn er vor Gott kommt, mit Onyxsteinen auf seinen Schultern, in die die Namen der zwölf Stämme eingraviert sind, sechs auf jeder Schulter, „als Denkmal vor dem Herrn.“ Er wird auch einen Brustpanzer tragen, der mit vier Reihen Edelsteinen verziert ist:

“Die erste Reihe besteht aus Karneolstein, Chrysolith und Beryll. Die zweite Reihe besteht aus Türkisgestein, Lapislazuli und Smaragd. Die dritte Reihe soll Zirkon, Achat und Amethyst sein. Die vierte Reihe besteht aus Topas, Onyx und Jaspis. Fügt sie auf filigranen Goldfassungen ein. Es sollen zwölf Steine sein, einer für jeden Namen der Söhne Israels, jeder wie ein Siegel mit dem Namen eines der zwölf Stämme eingraviert. … Immer wenn Aaron den Heiligen Ort betritt, wird er die Namen der Söhne Israels über seinem Herzen im Brustton der Entscheidung als fortwährendes Denkmal vor dem Herrn tragen.”

Diese Passage spiegelt die enge Verbindung von Ritual und Poesie in der Hebräischen Bibel wider und findet sich in den klimatischen Zeilen des Hoheliedes der Liebe wieder:  

Setze mich als Siegel auf dein Herz,  

und als Siegel auf deinem Arm;  

denn die Liebe ist stark wie der Tod,

die Leidenschaft so grausam wie das Grab.

So bekräftigen es die Liebenden; aber der priesterliche Schriftsteller, der die zwölf Juwelennamen als Siegel auf Aarons Herz setzte, verfasste dies zum Zeitpunkt von zwei oder drei Jahrhunderten nach der Zerstörung des Nordreichs im Wissen, dass zehn dieser zwölf Stämme längst von der Welt verschwunden waren. Sie leben heutzutage in Gottes Erinnerung und, dank der Poesie und Prosa der Bibel, ebenfalls in unserer weiter.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-22-israelpalestine-hebrew-bible
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

19. Juni: Chimamanda Ngozi Adichie, „Heimsuchungen“

Hervorgehoben

19. Juni 2020 von Prof. David Damrosch, Harvard

Es ist eine angemessene kalendarische Konvergenz, dass der heutige „Juneteenth“ -Posting, dem Gedenktag zur Emanzipation von der Sklaverei in den USA, der brillanten nigerianisch-amerikanische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie gewidmet ist. Geboren in Enugu im Südosten Nigerias, unweit von Chinua Achebes Geburtsort entfernt, ging sie zum College-Studium in die USA und hat seitdem ihre Zeit zwischen den beiden Ländern aufgeteilt. Tief, wenn auch etwas ambivalent Achebe verpflichtet, entwickelt sie vergleichbare Themen aus der Perspektive einer Frau und als Schriftstellerin in der voll globalisierten Welt, die Soyinka und Ngal gerade erst in der Mitte der 1970er Jahre zu porträtieren begannen. Sie war erst zweiunddreißig Jahre alt, als sie 2009 ihre Kurzgeschichtensammlung The Thing Around Your Neck, zu Deutsch „Heimsuchung“, veröffentlichte, aber ihre beiden vorherigen Bücher – Blauer Hibiskus („Purple Hibiscus“) (2003) und („Die H’lfte der Sonne“) („Half of a Yellow Sun“, (2006) über den Nigerianer – Biafran Bürgerkrieg – waren bis dahin in bereits dreißig Sprachen übersetzt worden.

Adichie ist vielleicht am bekanntesten für einen TED-Vortrag von 2010, “The Danger of a Single Story,”, „Die Gefahr einer einzelnen Geschichte“, der kurz nach der Veröffentlichung von „Heimsuchung“ gehalten wurde. Zum Zeitpunkt dieses Schreibens wurde ihr Vortrag mehr als zweiundzwanzig Millionen Mal angesehen:

Dort betont sie die Bedeutung der vielfältigen Perspektiven, die Fiktion uns geben kann – wenn wir verschiedene Arten des Schreibens entdecken können. Als Tochter eines Professors und eines Universitätsverwalters war sie eine frühe Leserin.

Und was ich las, waren britische und amerikanische Kinderbücher. Ich war auch früh Schriftstellerin. Und als ich ungefähr im Alter von sieben Jahren anfing, Geschichten mit Bleistift und Buntstiftillustrationen zu schreiben, die meine arme Mutter lesen musste, schrieb ich genau die Arten von Geschichten, die ich las. Alle meine Charaktere waren weiß und blauäugig. Sie spielten im Schnee. Sie aßen Äpfel. … Dies trotz der Tatsache, dass ich in Nigeria gelebt habe. Ich war noch nie außerhalb von Nigeria gewesen. Wir hatten keinen Schnee. Wir haben Mangos gegessen.

Ihr Gespür für das, was sie schreiben konnte, änderte sich, als sie afrikanische Fiktion entdeckte (sie nennt Chinua Achebe und die frankophone Schriftstellerin Camara Laye). Sie sagt, dass „ich eine mentale Veränderung in meiner Wahrnehmung von Literatur erfahren habe“ und angefangen habe, „über Dinge zu schreiben, die ich wiedererkannt habe. Die Entdeckung afrikanischer Schriftsteller hat für mich Folgendes bewirkt: Es hat mich davor bewahrt, eine einzige Geschichte darüber zu haben, was Bücher sind.“ Ihre eigenen Geschichten bieten multiple Perspektiven. Sie finden sowohl in Amerika als auch in Nigeria statt, und oft zeigt eine einzelne Geschichte einen entscheidenden Perspektivwechsel.

Adichies Schreiben verbindet Offenbarung und Zurückhaltung, und in der Eröffnungsgeschichte “Zelle eins” („Cell One“) zeigt der Bruder des Erzählers seinen Charakter, indem er keine Geschichte über seine Behandlung durch brutale Wachen im Gefängnis erzählt: „Nnamabia hat nicht gesagt, was mit ihm in Zelle Eins passiert war. … Es wäre so einfach für ihn, meinen charmanten Bruder, gewesen, aus seiner Geschichte ein schnittige Drama zu machen, aber er tat es nicht.“ Die Geschichten erproben die moralischen und psychologischen Konsequenzen von Entscheidungen, die getroffen oder nicht getroffen wurden, wenn Frauen mit enttäuschenden Ehen zu tun haben oder ein Ehemann um den Tod seiner Frau trauert, deren Geist ihn nachts tröstet. Der kleine Sohn einer Frau wird versehentlich von maskierten Polizisten erschossen, die in ihr Haus kommen und nach ihrem Ehemann suchen, der regimekritische Aufsätze verfasst hat. Die Hinterbliebene ist jetzt in der amerikanischen Botschaft und ersucht nach einem Visum, um sich ihrem Ehemann anzuschließen, der ins Ausland geflohen ist. Die Geschichte dreht sich um ihre Weigerung, die Tragödie des Mordes an ihrem Sohn zu hochzuspielen, um einen skeptischen Konsularbeamten zu gewinnen. Sie beschließt, in Nigeria zu bleiben, um das Grab ihres Jungen zu pflegen.

Adichies Geschichten besitzen einen starken politischen Guss sei, es in Bezug auf die nationale oder die Geschlechterpolitik. In einem Interview von 2005 sagte sie: „An einem Ort knapper Ressourcen, die durch künstliche Maßnahmen knapper werden, ist das Leben immer politisch. Indem man über dieses Leben schreibt, übernimmt man eine politische Rolle. “ Aber sie wollte nicht nur durch eine politische Perspektive gelesen werden. Einige Jahre später bemerkte sie: „Was auch immer ich schreibe, jemand wird irgendwie aufzeigen, dass ich eigentlich über politische Unterdrückung in Afrika schreibe. Oft werde ich gefragt: „Haben Sie versucht, das als Metapher für die Politik Ihres Landes zu verwenden?“ Und ich denke: „Nun, nein. Nein, es war eine Geschichte über eine Frau und einen Mann. Es ging nicht um die verdammte politische Unterdrückung.“

Eine Geschichte mit dem Titel „Jumping Monkey Hill“ zeigt die repräsentativen Anforderungen, die an afrikanische Schriftsteller gestellt werden. Die Heldin Ujunwa nimmt an einem zweiwöchigen Schriftstellertreffen auf einem noblen südafrikanischen Anwesen teil, das von einem älteren weißen Mann, Edward, geleitet wird, der die attraktiven Frauen in der Gruppe angräbt. Während ihres Aufenthalts schreibt jeder Teilnehmer eine Geschichte, die er der Gruppe präsentieren soll. Edward hält einer simbabwischen Schriftstellerin vor, dass ihre Geschichte nicht „authentisch“ sei, da sie nicht politisch genug sei: „Das Schreiben war sicherlich ehrgeizig, aber die Geschichte selbst warf die Frage auf:„ Na und? “Es war etwas schrecklich passé, wenn man an all die anderen Dinge dachte, die in Simbabwe unter dem schrecklichen Mugabe passieren. “ Er bekräftigt sein Privileg, indem er es leugnet, und besteht darauf, dass er nicht „als in Oxford ausgebildeter Afrikanist spricht, sondern als jemand, der sich für das wahre Afrika interessiert und nicht dafür, westliche Ideen afrikanischen Orten aufzuzwingen“. Als Ujunwa ihre Geschichte von einem Bankier vorliest, der gerade versucht, zwei Frauen zu verführen, die sein Geld brauchen, lehnt Edward dies als „unplausibel“ ab und erklärt: „Dies ist Agenda Writing, es ist keine echte Geschichte von echten Menschen.“ Ujunwa erwidert, dass es direkt aus ihrem Leben genommen wurde. Sie kehrt unter Tränen in ihr Zimmer zurück, und, im metafiktionalen Schlusssatz der Geschichte: „Als sie zu ihrer Kabine zurückging, fragte sie sich, ob dieses Ende in einer Geschichte als plausibel angesehen werden würde.“

Chinua Achebe schrieb einen begeisterten Klappentext für „Die Hälfte der Sonne“, „Half of a Yellow Sun“, und nannte Adichie „eine junge Schriftstellerin, die mit der Gabe alter Geschichtenerzähler ausgestattet ist“. Im Jahr 2010 schrieb sie ihrerseits die Einführung in die Everyman-Ausgabe seiner afrikanischen Trilogie. Bis dahin war ihr Schreiben jedoch erheblich über seine Umlaufbahn hinausgeschossen. In „Jumping Monkey Hill“ streiten sich zwei der Autoren über seine Arbeit: „Der Simbabwer sagte, Achebe sei langweilig und macht nichts mit Stil, und die Kenianerin sagte, dies sei ein Sakrileg und schnappte sich das Weinglas des Simbabwers, bis sie widerrief und lachte. Natürlich war Achebe großartig.“

Die letzte Geschichte in der Sammlung, „Die eigenwillige Historikerin“, „The Headstrong Historian“, schreibt Alles zerfällt subtil, aber stark um. Während die anderen Geschichten in der Gegenwart spielen, beginnt diese Geschichte mit der Protagonistin Nwamgba, die sich an ihr Leben in einem Igbo-Dorf im späten 19. Jahrhundert erinnert. Jahre später erinnert sie ihren verstorbenen Ehemann Obierka – den Namen von Okonkwos engstem Freund in Achebes Roman. Dies scheint nur Zufall zu sein, aber dann wird die Verbindung direkt hergestellt. Nwamgba konnte kein Kind bekommen und hatte beschlossen, eine zweite Frau für ihren Ehemann zu finden. Ihre beste Freundin “schlug für Obierkas zweite Frau prompt das junge Mädchen aus der Familie Okonkwo vor; Das Mädchen hatte schöne breite Hüften und war respektvoll, nicht wie die jungen Mädchen von heute mit ihren Köpfen voller Flusen.“

Dann gelingt es Nwamgba, einen Sohn zu bekommen, und Adichie greift erneut die Hauptthemen von „Alles zerfällt“ auf, einschließlich der Bekehrung des Sohnes zum Christentum und seiner Entfremdung von seiner Familie. Aber anders als in Okonkwos hypermaskuliner Welt gibt es in Adichies Dorf einen starken Frauenrat, der Nwamgbas Cousins davon abhält, ihr Land nach dem Tod ihres Mannes zu stehlen. Schließlich heiratet ihr Sohn und hat eine Tochter, die Nwamgba als wiedergeborene Obierka erachtet; sie nennt ihre Afamefuna „Mein Name wird nicht verloren gehen.“

Jahre später wird eine sterbende Nwamgba von Afamefuna besucht (jetzt unter ihrem Taufnamen Grace, die Würdevolle). In einer kulminierenden Umschreibung von „Alles zerfällt“ trägt Grace ein britisches Lehrbuch mit dem Kapitel, “The Pacification of the Primitive Tribes of Southern Nigeria”, wortwörtlich: „Die Befriedung der primitiven Stämme im Süden Nigerias“. Achebes Kolonialgeschichte der Befriedung des „unteren Niger“ ist jetzt auf „Südnigeria“ neo-nationalisiert, aber ansonsten scheint sich im männlichen Diskurs wenig geändert zu haben. In einer Vorausdeutung erfahren wir dann, dass Grace eine preisgekrönte renommierte Professorin für Geschichte werden wird. Sie wird zu Archiven in London und Paris reisen, „moderige Akten in Archiven durchforschen und das Leben und den Geruch der Welt ihrer Großmutter vorstellen, für das Buch mit dem Titel „Pacifying with Bullets: A Reclaimed History of Southern Nigeria“, wortwörtlich: „Befrieden mit Gewehrpatronen: Eine zurückeroberte Geschichte von Südnigeria“. Die Geschichte einer nigerianischen Frau ersetzt den neokolonialen Lehrbuchtext, auch wenn Adichies Geschichte selbst „Alles zerfällt“ neu schreibt.

Dann endet die Geschichte und die Sammlung mit einer Rückkehr in die Gegenwart, wobei Wiederbeschreibungen zurückbleiben, um die Enkelin neben ihrer sterbenden Großmutter zu zeigen: „Aber an diesem Tag, als sie im schwindenden Abendlicht am Bett ihrer Großmutter saß, dachte Grace nicht über die Zukunft nach. Sie hielt einfach die Hand ihrer Großmutter, deren Handfläche durch jahrelange Töpferei verdickt war.“ Eine menschliche Verbindung und das alltägliche Kunsthandwerk einer Frau, eine perfekte Vorwegnahme von Adichies eigenem Handwerk.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-19-chimamanda-adichie-thing-around-your-neck
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

[Deutsche Übersetzung von Reinhild Böhnke: Heimsuchungen. Zwölf Erzählungen. Frankfurt: S. Fischer, 2012.]

[Hier ist ihre bahnbrechende TED-Talk-Rede „We should all be feminists“
Deutsche Untertitel von Sarah Braun, lektoriert von Nadine Hennig, sind verfügbar.]

18. Juni: Mbwil a M. Ngal, “Giambatista Viko: ou Le viol du discours africain”

Hervorgehoben

18. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

[Anm. d. Übersetzerin: Es gibt noch keine deutsche Übersetzung … hoffentlich bald? Kontaktieren Sie mich doch direkt unter annemarie.fischer@binghamton.edu]

„Giambatista Viko“ wurde 1975 veröffentlicht, im selben Jahr wie „Death and the King’s Horseman“. Er erforscht miteinander verwandte Fragen von Sprache und Identität, jedoch eher im satirischen als im tragischen Modus. Ngals von sich Selbst besessener Antiheld ist ein afrikanischer Intellektueller, der sich auf der Weltbühne einen Namen machen will. Viko gehört einem Institut für Afrikanistik an, das zwischen europazentrierten Kosmopoliten und xenophoben, die westliche Kultur ad hoc ablehnenden Afrozentristen zerrissen ist. Seit zwei Jahren müht er sich damit ab, den großen afrikanischen Roman zu verfassen; einem Werk, nach dem er sich sehnt, es zu Ende zu bringen, um zu Konferenzen nach Paris und Rom eingeladen werden zu können. Doch anstatt zu schreiben, verbringt er seine Zeit am Telefon mit seinem Student und Kumpan Niaiseux („Simpleton“), plant Intrigen gegen seine Kollegen in der Afrikanistik, entwickelt eine noch-nie-dagewesene Theorie des Schreibens, und sucht nach Möglichkeiten, seinen Lebenslauf aufzupeppen.

Viko weiß, dass er ein großes Werk produzieren muss, um sein Ziel zu erreichen, „der Napoleon der afrikanischen Briefe“ zu werden, doch wie Achebe und Soyinka ist er sich bewusst, dass es kein einfaches Unterfangen ist, afrikanische und europäische Kulturen zu verblenden. Auf der Suche nach Inspiration erinnert sich an die Scienza Nuova, die Neue Wissenschaft seines Namensvetters, des italienischen Humanisten Giambattista Vico, dessen Abhandlung von 1725 behauptete, dass jede Sprache mit den poetischen Schreien primitiver Menschen begann. Inspiriert beschließt Viko, Mündlichkeit als seine Eintrittskarte für den internationalen Ruhm zu benutzen, indem er einen extravagant-experimentellen Stil verwendet: „Plötzliche Trübungen hier, tiefergehende Transparenz dort. . . . Interpunktion? Denk nicht mal dran!“

Sein Ziel ist zum Greifen nahe; aber dann schlägt das Schicksal zu. Die Afrozentristen gewinnen an seinem Institut die Oberhand und gehen mit einer Reihe von Vorwürfen gegen ihn an die Öffentlichkeit: des Plagiats; von sexuellen Indiskretionen mit einer gerade besuchenden italienischen Feministin; und vor allem, der Verrat an Afrika mit seinem Plan, die Geheimnisse der mündlichen Überlieferung für die westliche Ausbeutung zu prostituieren. Empört verhaftet eine Gruppe von Stammesältesten Viko und Niaiseux. Sie veranstalten einen Schauprozess, der mit dem Urteil endet, durch Zentralafrika zu wandern und ihre Verbindung zum Leben der Ureinwohner wiederherzustellen.

„Giambatista Viko“ ist eine bahnbrechende Satire aus Identitätsproblemen in einer sich globalisierenden Welt und eine wegweisende Erkundung einer Welt von verworrenen Beziehungen zwischen metropolischen Zentren und peripheren ehemaligen Kolonien. Ngals eigenes Leben hat die ganze Welt umspannt, mit Aufenthalten in Afrika, Europa und Nordamerika. Er wurde 1933 im damaligen Belgisch-Kongo geboren und wurde zu Zeiten des Kampfes im Land um die Unabhängigkeit erwachsen. Zweisprachig in Französisch und in einer der verschiedenen Bantu-Sprachen studierte er Philosophie und Theologie an Jesuitenschulen. In einem Interview aus dem Jahr 1975 sagte er, dass seine Lehrer „einen liberalen und humanistischen Geist besaßen. Bei ihren Schülern entwickelte sich ein kontroverser, kritischer und anti-konformer Geist; etwas Außergewöhnliches unter dem kolonialen Himmel.“

Nach seiner Promotion in der Schweiz mit einer Dissertation über den karibischen Dichter Aimé Césaire kehrte er 1968 als Professor für frankophone Literatur an seine Alma Mater und anschließend an die Universität von Lubumbashi zurück. Dort war einer seiner Kollegen der Schriftsteller und Kritiker Valentin-Yves Mudimbe, mit dem er eine rivalisierende Freundschaft unterhielt. Von 1973 bis 1975 bereitete Ngal Lesungen und unterrichtete zwei Jahre im Ausland. Zu diesem Zeitpunkt begann er mit der Arbeit an seinen Roman, den er nach seiner Rückkehr nach Lubumbashi fertigstellte.

Während Ngal an seinem Roman arbeitete, nahm der Charakter von Viko verschiedene persönliche Merkmale von Mudimbe an, sowohl im Aussehen als auch in seiner Vorliebe, sich mit seiner Studentenschaft zu umgeben. Mudimbe selbst hatte zwei Jahre zuvor einen bekannten Roman veröffentlicht, „Entre les eaux“ (wortwörtlich: „Zwischen den Gezeiten“), dessen Held ebenfalls zwischen afrikanischer und westlicher Kultur, Katholizismus und revolutionären Aktionen gefangen ist.

Quelle: Mudimbé, Valentin Yves: Entre les Eaux. Paris: Editions Présence Africaine, 1999.

Jedoch weit davon entfernt, Ngals satirische Behandlung ähnlicher Themen zu würdigen, nahm Mudimbe das Buch persönlich und reichte tatsächlich eine rechtliche Beschwerde gegen Ngal ein, in der er ihn der Verleumdung beschuldigte. Bemerkenswerterweise fanden sich Ngal wie sein eigener Held als Opfer der rechtlichen Verfolgung seitens seiner Universitätsrivalen wieder. Dies könnte als die Kunst imitierendes Leben bezeichnet werden, obwohl Ngals Kunst beschuldigt wurde, das Leben zu genau widerzuspiegeln.

Die akademischen Konflikte in den siebziger Jahren spiegeln die turbulente Politik des gesamten Landes wider. Nach der Entkolonialisierung im Jahr 1960 wurden die Führer der neuen unabhängigen Demokratischen Republik Kongo zwischen Westlern und afrikanisch zentrierten Nationalisten gespalten, die mit der Kolonialzeit brechen und die kulturelle Identität Afrikas betonen wollten. Mehrere chaotische Jahre folgten, nachdem der marxistische Premierminister Patrice Lumumba von Gegnern ermordet wurde, die von Belgien und der amerikanischen CIA unterstützt wurden. Schließlich wurde 1965 die Macht vom Stabschef der Armee, Joseph-Désiré Mobutu, übernommen, der über dreißig Jahre lang an der Macht festhielt und zahlreiche Oppositionelle ermorden ließ und seine Gefolgschaft bereicherte. Er nannte das Land in Zaire um und förderte die „Zaïrisierung“,

„indem seine Bürger afrikanische Namen annehmen mussten, anstelle der europäischen Namen, die sie oft bei der Geburt erhalten hatten. Er legte seinen eigenen Namen Joseph-Désiré ab und wurde Mobutu Sese Seko Nkuku wa za Banga („alles erobernder Krieger, der von Triumph zu Triumph geht.)“

Infolge dieser Politik hörte Ngal in den 1970er Jahren auf, unter seinem Taufnamen Georges zu schreiben, und wählte den symbolischen Namen Mbwil a Mpang, „spiritueller Führer aus Mpang“.

Giambatista Viko erwähnt nichts über die nationale Politik, aber der Schauprozess der Stammesältesten und ihre brutalen Bestrafungsmethoden spiegeln eindeutig die Praktiken des Regimes wider. Ngals scharfzüngige Satire erstreckt sich besonders auf seinen eigenen Protagonisten und zerlegt auf urkomische Weise Vikos Eitelkeit, seine Eigenwerbung, und seine instabile Mischung aus Unsicherheit und Größenwahn. Ironischerweise wird Viko als überraschend sympathischer Charakter präsentiert, der sehr reale Spannungen verkörpert, die Menschen zwischen zwei verschiedenen Kulturen erleben, einem Thema, das mit einer Doppelmaske auf dem Titel der neuesten Ausgabe gut dargestellt wird:

Vikos Suche nach einem auf dem Mündlichen infundierten Französisch entspricht Achebes Forderung nach einer Neuerfindung der alten Kolonialsprachen im afrikanischen Rahmen. Ngal teilte mit Achebe und Soyinka eine tiefe Faszination für indigene mündliche Stile und performative Erzählweisen, und sein Held versucht, seinen eigenen Weg zwischen Konformismus und Kreativität, französischem Strukturalismus und Stammesüberlieferung, Unabhängigkeit und Autoritarismus zu finden, und seinen afro-italienischen Namen zu wirklich zu seinem eigenen zu machen.

Die Übersetzung ist ein Schlüsselelement von Vikos Strategie, weltweite Bekanntheit zu erlangen. Wie er Niaiseux erzählt,

“Kein Gelehrter kommt heute ohne Kenntnisse mehrerer internationaler Sprachen aus. Englisch – ganz zu schweigen von Französisch, das versteht sich von selbst – Spanisch, Russisch, gut. Japanisch, noch besser. Chinesisch ist zehnmal besser, da die Zukunft, der Schlüssel zur Zukunft, Asien gehört, insbesondere China. Die Westler haben schreckliche Angst vor der Gelben Gefahr, aber wie lange können sie noch hoffen, durchzuhalten? Sie wissen, wie man Gelbfieber bekämpft und seine Ausbreitung hemmt. Aber sie können nichts gegen die Gelbe Gefahr unternehmen. Übersetzungen! Das wird die Liste meiner Veröffentlichungen auffüllen.”

Es ist nicht so, dass Viko selbst Japanisch oder Chinesisch kann; er plant jedoch, seine Gastkollegen Sing-chiang Chu und Hitachi Huyafusia-yama zu bitten, einige seiner Artikel zu übersetzen. Er hofft, sie mit unterdrücktem Namen der Übersetzer veröffentlichen zu können, um so den Eindruck zu erwecken, sein eigener Übersetzer sein zu können. Als Marxist hat Viko zwar ein vorübergehendes Problem mit der ethischen Frage, die Arbeit seiner Kollegen auf diese Weise auszubeuten, aber Niaiseux versichert ihm, dass dies „deontologisch gesehen überhaupt keine intellektuelle Unehrlichkeit“ darstelle, sondern simple Kollegialität.

„Giambatista Viko“ ist eine überzeugende Meditation über die Tücken des künstlerischen Schaffens in einer Welt ungleicher Machtverhältnisse, in der Eitelkeit, Selbstverteidigung und der Wille zur Macht jede Gruppe durchdringen. Als solches gab Ngals Novelle keiner Seite Trost in den Entkolonialisierungs- und postkolonialen Debatten der siebziger und achtziger Jahre, und war bisher nur auf Französisch erhältlich. Ich habe lange darauf beharrt, dass sie übersetzt werden sollte, und beschloss schlussendlich, meinen Worten Taten Folgen zu lassen. „Giambatista Viko: or, The Rape of African Discourse“ (wortwörtlich: „Giambatista Viko: oder Die Vergewaltigung des afrikanischen Diskurses“) befindet sich gerade im Druck; und wird nächstes Jahr sowohl in englischer als auch in französischer Sprache in der Reihe „Texte und Übersetzungen“ der Modern Language Association erscheinen. Ein Roman, dessen Zeit gekommen ist.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-18-mbwil-m-ngal-%E2%80%9Cgiambatista-viko-ou-le-viol-du-discours-africain%E2%80%9D
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

17. Juni: Wole Soyinka, „Death and the King’s Horseman“

Hervorgehoben

17. Juni 2020 von Prof. David Damrosch, Harvard
[Anm. d. Übersetzerin: Es gibt noch keine deutsche Übersetzung des Dramas.]
1961, ein Vierteljahrhundert bevor er Afrikas erster Nobelpreisträger für Literatur wurde, trug ein junger Wole Soyinka zu einer Hörspielversion von „Alles zerfällt“ bei. Ein Jahr später nahm er an der Konferenz am Makarere University College in Uganda teil, wo Achebe seinen Vortrag zum Thema „The African Writer and the English Language“ hielt. „Death and the King’s Horseman“ wurde 1975 geschrieben und bringt viele von Achebes Themen auf die Bühne, und konzipierte sie neu für die sich schnell globalisierende postkoloniale Welt der 1970er Jahre.

Wie in „Alles zerfällt“ zentriert sich Soyinkas Drama um einen mächtigen, fehlerhaften Helden, der in Konflikt mit einer Kolonialverwaltung gerät, die den lokalen religiösen Bräuchen feindlich gegenübersteht, und die patriarchalischen Obsessionen des Helden widersprechen den Perspektiven der Frauen um ihn herum. Wie Achebes Roman dramatisiert das Stück einen von Generationen- wie auch Kulturenkonflikt, der vom schockierenden Tod eines Sohnes abhängt. Jedoch vereint „Death and the King’s Horseman“ zahlreiche, verschiedene literarische Stränge, und basiert auf einem historischen Ereignis. Als 1946 ein Yoruba-König starb, bereitete sich der Gefährte und Ratgeber des Königs, Elesin, bekannt als der Reiter des Königs, auf den Selbstmord vor, wie es die Tradition vorgibt, um seinen König ins Jenseits zu begleiten. Nigeria war immer noch eine britische Kolonie, und der koloniale Distriktbeamte verhaftete Elesin, um den rituellen Selbstmord zu verhindern. Dieser Akt der Barmherzigkeit schlug fehl, als Elesins ältester Sohn an der Stelle seines Vaters Selbstmord begeht.

Ein Freund von Soyinka, Duro Ladipo, hatte bereits in Yoruba ein Stück zu diesem Thema unter dem Titel Oba Waja, „The King Is Dead“ geschrieben. Dieses kurze, polemische Stück (das in der kritischen Ausgabe, Critical Edition, des Norton-Verlages von „Death and the King’s Horseman“ mit abgedruckt ist) gibt den englischen Imperialisten eindeutig die Schuld an der Tragödie, die Elesin seine eigene Rolle in der uralten sozialen und kosmischen Ordnung verweigert haben. Wie Elesin in sexualisierter Sprache beklagt:

„Meine Reize wurden impotent gemacht /
von den Europäern; /
Meine Medikamente sind in ihrer Kalebasse abgestanden.“

Soyinka entwickelte ein weitaus komplexeres Stück, das auf einer weiten Bandbreite von Weltliteratur basierte, aber auch auf das traditionelle Yoruba-Drama, in dem Musik, Gesang und Tanz einen Großteil der Bedeutung eines Werks vermitteln. Soyinka greift auch auf die Traditionen der griechischen Tragödie zurück, und eine Gruppe von Marktfrauen, angeführt von dem lebhaften Iyaloja, dient als seine Version eines griechischen Chorus.

Zwei Jahre vor der Fertigstellung seines Stücks hatte Soyinka eine Adaption von Euripides, “The Bacchae: A Communion Rite”, veröffentlicht. Seine Version verbindet wagemutig die griechische Tragödie und das christliche Opfer: Das Zerreißen von König Pentheus durch die ekstatischen Bacchanten wird zu einer Version des christlichen Sakraments der Abendmahls.

Soyinkas Elesin hat viel mit Sophokles‘ Ödipus gemeinsam. Beide sind mit der Notwendigkeit konfrontiert, ein Ahnenmuster durchzusetzen, das wiederum andere Figuren – Jocasta in Sophokles, der Bezirksoffizier Pilkings in Soyinka – in die alte Geschichte verbannen möchten. In beiden Stücken fordert das Leben der Gemeinschaft jedoch die Selbstaufopferung des Helden. „Death and the King’s Horseman“ endet auch mit einer Sophokleischen Kombination aus Umkehrung und Anerkennung, einschließlich eines Dialogs über Vision und Blindheit: Als Elesins Sohn Olunde entdeckt, dass es seinem Vater nicht gelungen ist, Selbstmord zu begehen, wie er sollte, reagiert Elesin auf Olundes spürbaren Ekel durch Aufschrei: „Oh mein Sohn, lass dich nicht vom Anblick deines Vaters blind machen!“ Der verblendete Einblick des Sohnes in das Versagen seines Vaters wird dann mit der umgekehrten, erschütternden Vision des Vaters vom Erfolg seines Sohnes verdoppelt, als ihm der Körper seines Sohnes in der letzten Szene gezeigt wird.

Soyinka-ProzessionSoyinkas Stück kann auch mit Shakespeares Dramen verglichen werden. Elesin hat seinen Selbstmord verschoben, um eine Ehe in letzter Minute zu vollziehen; unfähig, sich von irdischen Anhängseln zu befreien, wie er sollte, so wie König Lear versucht, die Kontrolle über ein beträchtliches Gefolge zu behalten, selbst nachdem er das Königreich seinen drei Töchtern übergeben hat. Echos von „Hamlet“ sind ebenfalls zu hören. Soyinka lässt Olunde von der medizinischen Fakultät in England zurückkehren –  ein modernes Äquivalent zu Hamlets Philosophiestudium in Deutschland –, um zu versuchen, das mörderische Chaos zu heilen, das zu Hause vorherrscht. Wie der junge Hamlet verliert Olunde dabei das eigene Leben.

Soyinka trägt auch Conrads Überlagerung von Afrika und England weiter. Im „Herzen der Finsternis“ verbindet Marlow den Kongo-Fluss und die Themse; nun fragt eine der Marktfrauen: „Ist es nicht derselbe Ozean, der dieses Land und das Land des weißen Mannes wäscht?“ Ganz allgemein unterstreicht Soyinka die Verflechtung von Zivilisation und Barbarei, indem er die Geschichte von ihrem tatsächlichen Auftreten im Jahr 1946 zurück in die Mitte des Zweiten Weltkriegs beamt. Als Jane ihr Entsetzen über Elesins rituellen, bevorstehenden Selbstmord zum Ausdruck bringt, entgegnet Olunde: „Ist das schlimmer als Massenselbstmord? Miss Pilkings, wie nennen Sie das, wozu diese jungen Männer von ihren Generälen in diesem Krieg geschickt werden?

Soyinka trägt auch Conrads Überlagerung von Afrika und England weiter. Im „Herzen der Finsternis“ verbindet Marlow den Kongo-Fluss und die Themse; nun fragt eine der Marktfrauen: „Ist es nicht derselbe Ozean, der dieses Land und das Land des weißen Mannes wäscht?“ Ganz allgemein unterstreicht Soyinka die Verflechtung von Zivilisation und Barbarei, indem er die Geschichte von ihrem tatsächlichen Auftreten im Jahr 1946 zurück in die Mitte des Zweiten Weltkriegs beamt. Als Jane ihr Entsetzen über Elesins bevorstehenden rituellen Selbstmord zum Ausdruck bringt, entgegnet Olunde: „Ist das schlimmer als Massenselbstmord? Miss Pilkings, wie nennen Sie das, wozu diese jungen Männer von ihren Generälen in diesem Krieg geschickt werden?

Wie in „Alles zerfällt“ zeigt Soyinkas Stück die Tragödie einer Gemeinschaft, die angesichts der kolonialen Herrschaft darum kämpft, ihre Traditionen aufrechtzuerhalten. Die Ausgangssituation in Nigeria im Jahr 1975 war jedoch eine ganz andere als im Jahr 1958, als Achebe an der Schwelle zur Unabhängigkeit 1960 schrieb. Eine kurzlebige parlamentarische Regierung wurde 1966 durch einen Militärputsch gestürzt, und wachsende ethnische und wirtschaftliche Konflikte führten zum Biafra-Krieg von 1967-1970. Soyinka wurde wegen Unterstützung der Biafra-Seite zu zwei Jahren Haft verurteilt und ging danach ins Exil nach England, wo er sein Stück schrieb. Obwohl er die Handlung in die späte Kolonialzeit zurückversetzte, besitzt Elesins Versuch, seine individuellen Begehren durch die Heraufbeschwörung traditioneller Bräuche zu befriedigen, eine klaren Verbindung zu vergleichbaren Bemühungen der nigerianischen Militärführer in den 1970er Jahren – eine Gemeinsamkeit zu Mbwil Ngals Werk, wie wir morgen sehen werden.

Basierend auf Achebes Appell an afrikanische Schriftsteller, die englische Sprache neu zu erschaffen, nutzt Soyinka Englisch sowohl als Ressource, als auch als Waffe. Pilkings und seine weiteren Verwalter benutzen eine plump-schroffe Sprache gegenüber ihren afrikanischen Untergebenen, die oft in einem kreolischen Englisch („Mista Pirinkin, Sir“) sprechen, das ihren niedrigeren Status in der kolonialen Hierarchie signalisiert. Aber Soyinka spielt auch mit der Politik der Sprache unter seinen afrikanischen Charakteren. Als der nigerianische Sergeant Amusa Elesin festnimmt, um seinen Selbstmord zu verhindern, blockieren die Marktfrauen seinen Weg. Nachdem sie ihn sexuell verspottet haben, nehmen sie britische Akzente an: „Was für eine Backe! Was für eine Zumutung! “ Dann inszenieren sie ein kleines Stück innerhalb des Stücks und spielen die Rolle selbstzufriedener Kolonialisten: „Ich habe einen ziemlich treuen Ochsen namens Amusa“; „Ich habe nie einen Eingeborenen gekannt, der die Wahrheit sagt.“ Amusa wird unterdessen auf ein stotternde Behelfssprache, Pidgin, reduziert: „Wir jetzt gehen, aber Sie nicht sagen, dass wir nicht warnen Sie.“

Besonders interessant in diesem Krieg der Rassen, Geschlechter und Worte ist die Position von Jane Pilkings. Obwohl sie ihrem oft begriffsstutzigen Ehemann loyal gegenüber bleibt, bemüht sie sich darum, die Geschehnisse wirklich zu verstehen, und im Verlauf des Stücks wird sie sich der Parallelen zwischen den Eingeborenen und ihrer Stellung als Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft bewusst. Am Ende des zweiten Aktes, als sie zu einem Tanz aufbrechen wollen, deutet sie ihrem Ehemann gegenüber an, dass er das Problem von Elesin möglicherweise nicht „mit der üblichen Brillanz behandelt hat – zunächst einmal“. Pilkings antwortet: „Halt die Klappe und zieh deine Sachen an“,  worauf sie ihm in der Sprache eines einheimischen Dieners antwortet: „Okay Boss, komme schon.“

Sobald Olunde ankommt, versucht er Jane zu helfen, die Logik der beabsichtigten Selbstaufopferung seines Vaters zu erkennen, aber hier sehen wir die Grenzen ihres Verständnisses: „Wie klug Sie auch versuchen, es auszudrücken“, sagt sie, „es ist immer noch ein barbarischer Brauch . Es ist noch schlimmer – es ist feudal! “ Ihre Verlagerung von der Anklage der Barbarei zum Feudalismus ist bezeichnend: Genauso wie Marlow den modernen Kongo mit dem römischen Großbritannien vergleicht, verbindet Jane das heutige Nigeria mit dem mittelalterlichen Europa. Conrad jedoch suggeriert niemals , dass eine solch anachronistische Sicht auf Afrika problematisch wäre, während der zutiefst modernisierte Medizinstudent Olunde uns zeigt, dass afrikanische Bräuche nicht als mittelalterliche Barbarei eingestuft werden können. In Soyinkas Werk sehen wir eher die tiefe Vernetzung von antiker und moderner, afrikanischer und westlicher Kultur, verkörpert in einem Meisterwerk lokal und heimisch verwurzelter Weltliteratur.

PS: Wie Harmony Devillard gerade in einem Kommentar bemerkt hat, nimmt der globale Fußabdruck von „Death and the King’s Horseman“ heute zu. Vor fünf Tagen wurde ein Vertrag für einen Netflix-Film des Stücks angekündigt, zusammen mit einer Serie, die auf dem Debütroman einer nigerianischen Frau basiert. Soyinka wird zitiert, dass er sich besonders darüber freut, dass es eine Produzentin ist, Mo Abudu, die dies zusammengebracht hat: „In einer Kreativbranche, die selbst in Pionierländern so von Männern dominiert wird, ist es immer eine Freude, toughe Herausforderungen vom weiblichen Geschlecht aus in attestierter Qualität zu sehen. Mo Abudus Durchbruch in diesen Bereich als Film- und Fernsehproduzent war besonders stimulierend. Es wird Teil des Erfolgserlebnisses, wenn man, wenn auch nur geringfügig, zur Schaffung eines ermächtigenden Umfelds beigetragen hat.”

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-17-wole-soyinka-death-and-kings-horseman
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

16. Juni: Chinua Achebe, „Alles zerfällt“

Hervorgehoben

16. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Das bei Weitem und mit Abstand berühmteste Werk der afrikanischen Literatur — mit zwanzig Millionen verkauften Exemplaren in siebenundfünfzig Sprachen übersetzt — wurde von seinen zahlreichen Lesern auf sehr unterschiedliche Weise gelesen. Djelal Kadir zufolge behandelt der Roman „die Aufhebung der traditionellen afrikanischen Ordnung durch das Unheil der Kolonialisierung, die religiöse Bekehrung und der auferlegte politische Übergang von der traditionellen Gesellschaft zu einer modernisierten Ordnung“. Während die ersten zwei Drittel des Romans Spannungen im Dorfleben von Ibo vor dem Ankommen der Europäer beschreiben, beginnen die Strukturen mit der Ankunft protestantischer Missionare in Umuofia auseinanderzufallen. Der sich daraus ergebende religiöse Konflikt führt zu einem brutalen Durchgreifen Europas, und der Roman endet bedrohlich mit der Entscheidung des Distriktkommissars, den Konflikt in sein geplantes Buch „The Pacification of the Primitive Tribes of the Lower Niger“, wortwörtlich übersetzt die „Befriedung“ der „primitiven“ Stämme des unteren Niger, aufzunehmen.

In deutlichem Gegensatz dazu offeriert meine Ausgabe von Random House aus dem Jahr 1994 die bemerkenswerte Leistung, das Buch ohne eine einzige Erwähnung von „Rasse“ oder „Imperium“ zu präsentieren. Die Titelseite enthält ein Zitat von Nadine Gordimer, die Achebe als „glorreich begabt mit dem Zauber eines überschwänglichen, großzügigen, großartigen Talents“ lobt, während auf der Rückseite uns folgendes gesagt wird:
Alles zerfällt ist eine einfache Geschichte eines „starken Mannes“, dessen Leben von Angst und Wut dominiert wird. Geschrieben mit bemerkenswerter Sparsamkeit und subtiler Ironie beschrieben, ist sie einzigartig und reich afrikanisch, und offenbart gleichzeitig Achebes scharfes Bewusstsein für die menschlichen Qualitäten, die Männern aller Zeiten und Orte gemeinsam sind.

Die sprachliche Ebene offeriert die dritte Lesart. Dieses Verständnis bezieht sich auf Achebes Aufsatz „The African Writer and the English Language“, „Der afrikanische Schriftsteller und die englische Sprache“, aus dem Jahr 1962. Dort argumentierte er für den Wert des Schreibens auf Englisch oder Französisch aus, anstelle der weniger verbreitet gelesenen, indigenen Sprachen:

„Geben wir dem Teufel die Schuld: Der Kolonialismus in Afrika hat viele Dinge unterbrochen, aber. . . Im Großen und Ganzen brachte es viele Völker zusammen, die bisher verschiedene Wege gegangen waren. Und er gab ihnen eine Sprache, mit der sie miteinander sprechen konnten. Falls er ihnen kein Lied gab, gab es ihnen wenigstens eine Zunge zum Seufzen.“

Er sagt: „Ich habe keine andere Wahl. Mir wurde diese Sprache gegeben, und habe die Absicht, sie zu benutzen. “ Gleichzeitig betont er die Notwendigkeit, dabei Englisch und Französisch neu zu erschaffen. In „Alles zerfällt“ ist seine Darstellung der afrikanischen Gesellschaft von innen eng mit seinem Projekt verbunden, eine englische Prosa, erfüllt mit mündlich überlieferten Erzählungen und Sprichwörtern, zu kreieren. Seine Mischung aus Standard-Englisch mit afrikanischer Oralität hatte einen großen Einfluss auf spätere Schriftsteller, wie wir in den nächsten zwei Tagen bei Soyinka und Ngal sehen werden.

Eine Lesart von „Alles zerfällt“ vereint die koloniale, die universelle und die sprachliche Dimension, aber einzelne Leser könnten auch zusätzliche Perspektiven einbringen. In meinem Fall nähere ich mich Achebes Roman nicht nur als Scholar der Weltliteratur und Sprachenliebhaber, sondern auch mit einer sehr speziellen Identität: als Sohn eines anglikanischen Missionars. „Alles zerfällt“ spielt in den 1890er Jahren, aber die missionarische Evangelismus hörte noch lange nicht auf, und die Bedingungen des Dorflebens, die Achebe beschreibt, stimmen oft mit der Beschreibung des Lebens meines Vaters unter den Igorot-Bergbewohnern auf den Philippinen in den späten 1930er und 1940er Jahren überein.

Aus einer informellen Biographie, die mein Vater am Ende seines Lebens ergestellt hat, geht hervor, dass sein Motiv, nach dem Abschluss des Priesterseminars im Alter von 25 Jahren quer über den Pazifik zu reisen, weniger religiöser Eifer war, als der Wunsch, seinem nutzlosen Vater und seiner herrschsüchtigen Mutter zu entkommen, verstärkt durch „einen romantischen Zug in meinem Charakter, der an weit entfernten Orten ein Gefühl der Faszination findet.“ Er erwähnt „das Geräusch der großen Pfeifen der Ozeandampfer, die in der Nähe des Seminars liegen“, und sagt, dass „sie in mir ein starkes Fernweh geweckt haben, das nach Erfüllung verlangte.“ Seine Aufregung zu Beginn seiner Reise ist auf einem Foto zu spüren, das sein Cousin Leopold Mannes — ein altkluger Wissenschaftler und talentierter Musiker — mit dem neuen Kodachrome-Film aufgenommen hat, den er bereits während der Gymnasialzeit erfunden hatte. Siebentausend Meilen von der Ostküste entfernt konnte mein Vater möglicherweise sowohl zu seinem eigenen Leopold als auch zu seinem sein eigenen Damrosch werden.

Für meine Mutter, die von Seattle aus per Schiff aufbrach, um ihn zu treffen und dann zu heiraten (arrangiert von gemeinsamen Familienfreunden), boten die Philippinen eine neue Freiheit und eine neue Sicht auf starke Frauen unter den Dorfbewohnern in der Bergprovinz. Als aufstrebende Künstlerin liebte sie es, Igorot-Frauen in ihren kunstvoll gewebten Röcken zu skizzieren, die Bergpfade entlang schritten, eine mit einem Korb auf dem Kopf und einer Pfeife im Mund.


Diese elterliche Geschichte mag für einen weißen Leser eine anachronistische und sogar politisch zweifelhafte Möglichkeit sein, heute in den Roman einzutauchen, und doch genau diese Dimension des Romans ist Achebes eigener Erfahrung am nächsten. Er wurde 1930 geboren und war der Sohn eines begeisterten Konvertiten, der an einer Missionsschule unterrichtete. Sein erste Anstellung nach der Universität – wo er vom Medizinstudium zu Englisch und zur Theologie wechselte – bestand darin, an einer evangelischen Schule in der Region zu unterrichten, wo der Schauplatz seines Romans spielte, unweit von seinem Geburtsort in Ogidi. Genau wie im Roman hatten die Dorfbewohner zugelassen, dass die Schule in einem „schlechten Busch“ gebaut wurde, einer Region voller Krankheiten und bösartiger Geister. Nach einigen Monaten zog er nach Lagos, um eine Stelle beim nigerianischen Rundfunk anzutreten, wo er Skripte für die mündliche Übermittlung vorbereitete.

Achebes Erfahrung an der Merchants of Light School spiegelt sich in der vom guten Evangelisten Mr. Brown etablierten Mission wider. Im Gegensatz zu seinem weitaus starreren Nachfolger Mr. Smith ist Brown tolerant gegenüber lokalen Bräuchen und spielt seine Machtstellung nicht zu sehr aus, da er das bekämpft, was er als primitiven Aberglauben und Stammesgewalt ansieht. Wie mein Vater in seinen Memoiren sagt, da den Bergstämmen bereits „das unvermeidlich Schlimmste unserer Zivilisation“ hinterlassen wurde – er erwähnt Schnaps und Ausbeutung durch die Tieflandbewohner -, „haben wir versucht, ihnen das zu bringen, was wir davon für das Beste hielten.“ Auf den Philippinen wie in Nigeria ging der Bau von Kirchen Hand in Hand mit dem Bau von Schulen und Kliniken. In „Alles zerfällt“ fällt die christliche Botschaft der universellen Gemeinschaft besonders bei dem vom Dorfleben ausgegrenzten Menschen auf fruchtbaren Boden, und zu den frühen Konvertiten gehören Frauen, die Zwillinge zur Welt gebracht hatten, die traditionell als böse angesehen und im Wald ausgesetzt wurden, um zu sterben.

Achebes Held Okonkwo ist ein großer Mann mit einem tragischen Fehler, ebenso freudianisch wie griechisch: Okonkwo schämt sich für seinen nichtsnutzigen Vater. Er ist besessen von Männlichkeit und verachtet jedes Verhalten, das er als verweiblicht oder weibisch ansieht. Er verprügelt seine Frauen und Kinder aus den nichtigsten Anlässen, und nimmt in einer schockierenden Szene an der Hinrichtung seines eigenen Pflegesohnes teil:

„Sobald der Mann, der sich geräuspert hatte, seine Machete hob, schaute Okonkwo weg. Er hörte den Schlag. Das Gefäss fiel und zerbrach im Sand. Er hörte Ikemefuna schreien: „Mein Vater, sie haben mich getötet!“ als er auf ihn zulief. Benommen vor Angst zog Okonkwo seine Machete und mähte ihn nieder. Er hatte Angst, für schwach gehalten zu werden.“

Dieses Ereignis ist ein Moment für die Bekehrung seines geliebten ältesten Sohnes Nwoye, der seinen Namen in Isaac ändert und sich von seinem Vater entfremdet. In einem Interview aus dem Jahr 2008 sagte Achebe: „Okonkwo zahlt die Strafe für seine Behandlung von Frauen. … alle seine Probleme, all die Dinge, die er falsch gemacht hat, können als Verbrechen gegen die Weiblichkeit angesehen werden.“

Okonkwos Ablehnung des Weiblichen hat sowohl literarische als auch moralische Konsequenzen. Er achtet kaum auf die Geschichten und Sprichwörter, die Frauen gerne erzählen. Stattdessen wollte er, dass seine Söhne als harte Männer aufwachsen, und „ermutigte die Jungen, mit ihm in seinem Obi zu sitzen, und erzählte ihnen Geschichten über das Land – männliche Geschichten über Gewalt und Blutvergießen“. Aber sein erstgeborener Sohn ist sich nicht so sicher. „Nwoye wusste, dass es richtig war, männlich und gewalttätig zu sein, aber irgendwie bevorzugte er immer noch die Geschichten, die seine Mutter immer erzählte.“ Die Geschichten seiner Mutter ebnen den Weg für seine zukünftige Offenheit für Bekehrung. In Achebes Fall werden die Geschichten, die seine Mutter und seine Großmutter ihm als Junge erzählten, zur Grundlage seiner revolutionären Praxis als Schriftsteller, selbst wenn er seine Fähigkeiten des Dialogs durch ein ganz anderes mündliches Medium verbessert hatte: das Radio.

In seiner Kunst wie in seinem Leben suchte Achebe ein komplementäres Zusammenspiel von Kulturen und Perspektiven. Er zitierte oft ein Sprichwort der Ibo: „Wo auch immer etwas steht, steht etwas anderes daneben.“ In einem Interview sagte er: „Es gibt nicht nur einen Weg. Die Ibo-Leute, die dieses Sprichwort kreiert haben, bestehen sehr darauf — es gibt nichts Absolutes. Sie sind gegen Exzess — ihre Welt besteht aus Dualitäten … Wenn es einen Gott gibt, gut. Es wird auch andere geben. Wenn es einen Standpunkt gibt, ist das in Ordnung. Es wird einen zweiten Standpunkt geben. “ Und, seinem wegweisenden Roman folgend, wie wir in den kommenden Tagen sehen werden, wird ein dritter Standpunkt, ein vierter und ein fünfter und viele weitere folgen.

[2002 bekam er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die Laudatio von Theodor Berchem kann hier eingesehen werden.
http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/2002 Friedenspreis Reden.pdf
Es gibt zwei deutschsprachige Übersetzungen.
Okonkwo oder Das Alte stürzt. Erschienen als deutschsprachige Erstausgabe bei edition suhrkamp Frankfurt 1983/2002, ISBN 3-518-1113. Übersetzung von Richard Moering bei Goverts, Stuttgart 1959.
Alles zerfällt. Neuausgabe, übersetzt von Uda Strätling und Reinhild Böhnke. Fischer, Frankfurt am Main 2012.]

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-16-chinua-achebe-things-fall-apart
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

15. Juni: Joseph Conrad, „Herz der Finsternis“

Hervorgehoben

15. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Nachdem Conrad, [geboren Józef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski] 1874 mit 16 Jahren das Haus seines Onkels in Krakau verlassen hatte, um zur See zu fahren, begann er seine berufliche Karriere bei der französischen und danach bei der britischen Handelsmarine, bevor er sich Mitte der 1890er Jahre endgültig entschied, Schriftsteller in Englisch, seiner dritten Sprache, zu werden. Er ließ sich dauerhaft in England nieder, aber sein Adoptivland blieb ihm in vielerlei Hinsicht ein fremder Schauplatz, und, obwohl er schlussendlich britischer Staatsbürger wurde, war er immer in erster Linie ein Weltautor. Conrad lebte sowohl im Englischen als auch in England als eine Art vertrauter Ausländer. Rudyard Kipling bemerkte, dass „er der erste unter uns war mit einem Stift in der Hand“, fügte aber hinzu: „Wenn ich ihn lese, habe ich immer das Gefühl, eine gute Übersetzung eines ausländischen Schriftstellers zu lesen.“ Wie Virginia Woolf 1923 in einer Notiz zu „Mr. Conrad: Ein Gespräch” formulierte: 

“Sicherlich war er eine seltsame Erscheinung, die in der letzten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts an diese Ufer gelangte – ein Künstler, ein Aristokrat, ein Pole. . . . Denn nach all den Jahren kann ich ihn nicht als einen englischen Schriftsteller betrachten. Er ist zu formell, zu höflich, zu gewissenhaft im Umgang mit einer Sprache, die nicht seine eigene ist.”

Zu diesem Zeitpunkt hatte Conrad Englisch natürlich bereits schon lange zu „seinem eigenen“ gemacht, obwohl es vielmehr sein eigenes Englisch war.

In „Herz der Finsternis“ webt Conrad ein dichtes, halluzinatorisches Sprachennetz, um seine rohe Erfahrung einer Flussreise in eine zutiefst beunruhigende Darstellung des Niedergangs imperialer Ideale in den Wahnsinn zu verwandeln. Er hatte 1890 den Auftrag erhalten, ein Dampfschiff auf dem Kongo für die Gesellschaft zu steuern, die König Leopold II. von Belgien gegründet hatte, um die natürlichen Ressourcen des Kongo mit Hilfe potenzieller Sklavenarbeit auszubeuten. 1885 erlangte sein Kongo-Freistaat internationale Anerkennung, unterstützt durch die Öffentlichkeitsarbeit des Journalisten und Entdeckers Henry Morton Stanley, der seine afrikanischen Abenteuer in Bestsellern wie „Im Dunkelsten Afrika“ (1890) dramatisierte, reichlich illustriert mit Karten und dramatischen Gravuren des großen weißen Mannes inmitten seiner einheimischen Diener (hier in einer farbenfrohen chromolithographischen Version gezeigt)

Quelle: In Darkest Africa.

Stanley diente ein Jahrzehnt lang als Hauptbeauftragter von König Leopold bei der Schaffung von Handelsstationen entlang des Kongo und beim Aufbau von Beziehungen zu Stammeshäuptlingen. Er beschrieb seinen Erfolg als Erbauer eines Kolonialimperiums in „Der Kongo und die Gründung des Kongostaates. Arbeit und Forschung“ (1885), die voll des Lobes auf den „großartigen und königlichen Gründer der Association Internationale du Congo“ ist. Dieser Satz erscheint in einem Kapitel, das sich mit den Schwierigkeiten befasst, mit einheimischen Zwischenhändlern im Elfenbeinhandel umzugehen, der für die wirtschaftliche Ausbeutung der Kolonie von zentraler Bedeutung war.

1899 bezog sich Conrad auf Stanleys Werke, sowie auf seine eigenen Erfahrungen als Dampfschiffkapitän für „Herz der Finsternis“. Sein Held Charlie Marlow sagt, als er sein Stellenangebot erhielt, wurde ihm „eine große leuchtende Karte gezeigt, mit allen Farben eines Regenbogens markiert … Ich ging ins Gelbe. Genau in die Mitte.“ Genau so beschreibt Stanley den Freistaat Kongo in der großen, ausklappbaren Karte am Ende meiner eigenen Ausgabe der [englischsprachigen] Ausgabe von „In Darkest Africa“ von 1890.

Quelle: Heart of Darkness.

Marlow wagt sich flussaufwärts, „genau in der Mitte“ der Karte, um den mysteriösen Elfenbeinhändler Kurtz zu treffen, und findet ihn schließlich sterbend, inmitten grausamer Szenen der Brutalität, und des Zusammenbruchs europäischer Ideale.

Die Leser waren sich jedoch sehr uneinig darüber, was wir finden, wenn wir Marlow flussaufwärts begleiten. Sehen wir wirklich Afrika oder sehen wir Marlows existenzielle Vision einer dunklen Nacht der Seele? Sehen wir die essenzielle Korruption des europäischen Imperialismus oder, ambivalenter, das Versagen eines fehlgeschlagenen Imperialismus, oder wird uns ein Primitivismus gezeigt, der so hemmungslos und unlösbar ist, dass Conrad die rassistische Basis des Imperialismus verstärkt, selbst wenn er ihn kritisiert? Dieser letzte Standpunkt wurde von Chinua Achebe in einem Aufsatz von 1977 mit dem Titel “An Image of Africa: Racism in Conrad’s Heart of Darkness.“, zu deutsch: „Ein Bild von Afrika: Rassismus in Conrads „Herz der Finsternis““ denkwürdigerweise vertreten. Conrad, so klagt er an, präsentiere Afrika als nichts anderes als ein

„Kulisse und Schauplatz, die den Afrikaner als menschlichen Faktor eliminiert. Afrika als metaphysisches Schlachtfeld, ohne erkennbare Menschlichkeit, in das der umherwandernde Europäer auf eigene Gefahr eintritt. Natürlich ist es absurd und pervers arrogant, Afrika auf die Rolle von Requisiten zum Zerbrechen eines kleingeistigen europäischen Geistes zu reduzieren. Aber das ist noch nicht einmal der Punkt. Die eigentliche Frage ist die Entmenschlichung Afrikas und der Afrikaner, die diese jahrhundertealte Haltung in der Welt gefördert hat und weiterhin fördert. Und die Frage ist, ob ein Roman, der diese Entmenschlichung zelebriert und einen Teil der Menschheit entmenschlicht, als großes Kunstwerk bezeichnet werden kann. Meine Antwort lautet: Nein, kann es nicht.“

Achebes Vortrag war eine wichtige Korrektur für die allgemeine Beschönigung der Leser zur Mitte des Jahrhunderts über die Behandlung des afrikanischen Volkes durch den Text, die eine so bedrohliche Kulisse für Marlows Abenteuer darstellen. Gleichzeitig spiegelt Achebes Kritik auch die Ungeduld eines realistischen Schriftstellers mit Conrads modernistischen Ambiguitäten wider. Conrad zwingt uns, Afrika mit Marlows Augen in einer Art literarischem Impressionismus zu erleben, doch Marlow ist von einem objektiven Beobachter in der Art von Kiplings Kim weit entfernt. Conrad destabilisiert Marlows narrative Autorität an vielen Stellen, und untergräbt zutiefst jede einfache Bestätigung der rassistischen Stereotypisierung, der sich Marlow und Kurtz so oft hingeben.

Ein Schlüsselmerkmal der Novelle ist Conrads zutiefst zweideutige Rahmengeschichte. Die Geschichte beginnt nicht in Afrika, sondern auf einer Vergnügungsboot, der Nellie, die an der Themse außerhalb von London vor Anker liegt, und Marlows „nicht schlüssige Geschichte“ wird uns von einem nebulösen Erzähler präsentiert, der Marlow mit einem Unterton von ironischen Unglaubens beschreibt. Als die Dämmerung hereinbricht, ist Marlow in wachsende Dunkelheit gehüllt, obwohl er den Zuhörern fälschlicherweise mitteilt, dass „Sie natürlich darin mehr sehen, als ich damals könnte.“ Auch wenn er Kurtz dafür kritisiert, dass er Elfenbein als Götzenbild für die Anbetung aufgestellt hat, stellt sich Marlow, so der skeptische Erzähler, in der „Pose eines Buddha auf, der in europäischer Kleidung und ohne Lotusblume predigt“. Conrad stellt etwas Gewieftes mit seinem Helden an: Marlow sieht sich als eine Art Humphrey Bogart-Avantgarde, aber er scheint der Illusion zu verfallen zu sein, alle seine Illusionen verloren zu haben.

Während der gesamten Novelle verspottet Conrad auf subtile Weise Marlows eigenen imperialen Machismo, und bringt mit Marlow früh in Verlegenheit, als er eine gut vernetzte Tante darum bitten musste, ihm seinen Kongo-Auftrag zu erteilen (wie es Conrad tatsächlich selbst getan hatte): „Ich, Charlie Marlow, bringe die Frauen zur Arbeit – um eine Arbeit zu bekommen. Himmel! “ Am Ende, zurück in England nach Kurtz ‚Tod, spricht Marlow Kurtz‘ Verlobter sein Beileid aus. Als sie ihn darum bittet, die letzten Worte ihrer Geliebten zu sagen, sieht Marlow nicht mehr wie eine gebieterische Gestalt desillusionierten Wissens aus: „Ich fühlte mich wie ein kalter Griff auf meiner Brust. „Nicht“, sagte ich mit gedämpfter Stimme.“ Anstelle der Stimme der Autorität klingt Marlow wie das Opfer eines Sitten-Verbrechens. Unter diesem Druck kann Marlow es nicht ertragen, seinen üblichen Standard der Wahrheitsfindung aufrechtzuerhalten: anstatt Kurtz ‚wahre letzte Worte zu enthüllen – „Der Horror! Der Horror!“ – behauptet er, Kurtz habe am Ende ihren Namen gesagt. Sobald Kurtz ‚Verlobte – von deren Namen wir nie erfahren – bekommen hat, was sie von ihm will, stößt sie einen Triumphschrei aus und entlässt ihn.

Conrad beutet die rassistischen Stereotype von Afrikas im Europa seiner Zeit aus, nicht, um ihnen wie Achebe entgegenzuwirken, sondern um zu zeigen, wie schmal die Grenze zwischen dem angeblich aufgeklärten europäischen Selbst und dem afrikanischen Anderen, „Other“, sein kann. Zu Beginn der Geschichte untergräbt Conrad das imperiale Unternehmen, indem er das römische Großbritannien zu einem frühen Afrika macht: „Und auch dies war einer der dunklen Orte der Erde“, sagt Marlow zu Beginn der Geschichte, als Sonne über London untergeht. Er erinnert an das verbissene Erlebnis eines imaginären römischen Legionärs, der die Themse hinauf reist

„diesen Fluss hinaufschippernd mit Vorräten oder Ware oder was auch immer. Sandbänke, Sümpfe, Wälder, Wilde – herzlich wenig zu essen für einen zivilisierten Mann, nichts als das Wasser der Themse zum Trinken. . . . Kälte, Nebel, Stürme, Krankheit, Exil und Tod – der Tod lauernd in der Luft, im Wasser, im Busch. Sie müssen hier wie Fliegen gestorben sein.“

England spiegelt das „dunkelste Afrika“ wider und die Finsternis bricht erneut herein, als Marlow seine Geschichte erzählt. Marlows Rückkehr von einem fremden Kontinent hat ihm die untrennbare Mischung aus Zivilisation und Barbarei im Herzen des britischen Empire offenbart.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-15-joseph-conrad-heart-darkness
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

12. Juni: Jokha Alharthi, „Celestial Bodies“/“Sayyidat el-Qamar“

Hervorgehoben

Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard
[Anm. d. Übersetzerin: Es gibt noch keine deutsche Übersetzung des Romans.]

Falls Naguib Mahfouz Recht damit hatte, dass sein Nobelpreis eigentlich für die arabische Sprache vergeben wurde, so kann man auch sagen, dass der Man Booker International Prize 2019 für arabisches Schreiben in englischer Sprache verliehen wurde – buchstäblich, da der Preis in Höhe von 50.000 Pfund paritätisch zwischen Jokha Alharthi und ihrer Übersetzerin Marilyn Booth aufgeteilt wurde. Diese doppelte Auszeichnung ist umso passender, da “Celestial Bodies” das Leben in einem vollständig globalisierten Oman darstellt, auch wenn die Charaktere die Anziehungskraft des Dorflebens und seiner anhaltenden vormodernen Muster spüren, in einem Land, in dem die Sklaverei erst 1970, acht Jahre vor Alharthis Geburt, abgeschafft wurde.

Derzeit wird Alharthis Roman in mehr als zwei Dutzend Sprachen übersetzt. Der plötzliche und unerwartete Erfolg im vergangenen Jahr spiegelt die wichtige Rolle internationaler Preise bei der Bildung der gegenwärtigen Weltliteratur wider. Der arabische Titel des Romans lautet, wortwörtlich übersetzt, “die Frauen des Mondes” und, es scheint, passenderweise, auf dem Cover der amerikanischen Ausgabe der Booker-Insignien, als würde der Vollmond auf die Erde niederkommen:

Quelle Catapult-Verlag

Ebenso zeigt der Erfolg des Romans die entscheidende Rolle, die einzelne Übersetzer bei der Förderung eines Werks spielen können. In den frühen 2000er Jahren lebte Jokha Alharthi mit ihrem Mann und ihrem kleinen Kind in Edinburgh. Zum damaligen Zeitpunkt, mit Ende zwanzig, hatte sie einen Roman und eine Sammlung von Kurzgeschichten veröffentlicht, aber angesichts des kleinen omanischen Literaturmarktes benötigte sie einen sicheren Beruf, und so begann sie eine Promotion in klassischer arabischer Poesie. Dennoch empfand sie es nicht als gleichwertig, akademische Prosa auf Englisch zu schreiben. Wie sie in einem Interview bemerkte:
“Von mir wurde erwartet, dass ich fließend Englisch schreibe und fließend Essays schreibe, und ich dachte, das habe ich nie getan! Ich habe das nie getan. Also kam ich eines Nachts in die Wohnung zurück und legte das Baby zum Schlafen. Ich saß nur da und dachte an meinem Laptop darüber nach – nicht gerade Oman, aber ein anderes Leben und eine andere Sprache. Gerade weil ich meine Sprache so sehr liebe, hatte ich das Bedürfnis, in meiner eigenen Sprache zu schreiben.”

Gleichzeitig habe das Studium des Arabischen außerhalb der Heimat es ihr ermöglicht, „eine andere Perspektive“ auf ihre Kultur zu bekommen. Sie vermisste die „Wärme“ ihrer eigenen Sprache und begann, einen neuen Roman zu schreiben. Dann zog sich ihre Beraterin zurück und Marilyn Booth trat ein, obwohl sie Spezialistin für moderne arabische Literatur war. Alharthi zeigte das Manuskript Booth, die es liebte und anbot, es zu übersetzen. Es gestaltete sich als schwierig, einen Verlag für ein Werk einer jungen Frau aus dem Oman zu finden, und, obwohl Sayyidat al-Qamar einen Preis für den besten Roman aus Oman 2010 gewann, erschien die Übersetzung als “Celestial Bodies” erst 2018 in einem kleinen unabhängigen schottischen Verlag. Das Schicksal des Buches änderte sich dramatisch, als es ein Jahr nach Olga Tokarczuks Unrast mit dem den Booker-Preis ausgezeichnet wurde.

Alharthis Roman setzt die arabische Tradition verschachtelter Geschichten fort, nun mit mehreren narrativen Perspektiven, ähnlich dem Perspektivismus von Pamuks mehreren Erzählern. Ihre kurzen Kapitel (58 in ihrem Fall, 59 in Rot ist mein Name) konzentrieren sich auf drei Schwestern und die Mitglieder ihrer Familien. Wie die drei Schwestern in „Die Geschichte des Lastträgers und der drei Damen von Bagdad“ sind Alharthis Heldinnen starke Frauen, aber sie leben in der zeitgenössischen omanischen Realität. Ihre Fantasiewelten sind in ihrer Vorstellung, und ihre Träume werden in der Realität selten wahr.

In der Romaneröffnung schien „Mayya, für immer in ihre Singer-Nähmaschine eingetaucht, für die Außenwelt verloren zu sein. . . . Aber Mayya hat alles auf der Welt gehört, was es zu hören gab.“ Sie verliebt sich, mit nur einem kurzen Augenblick, in einen gutaussehenden jungen Mann, nachdem er nach Jahren des Studiums in London ohne Abschluss zurückgekehrt ist. Aber er scheint sie nicht zu bemerken, und sie akzeptiert widerwillig eine arrangierte Ehe, und nennt dann in einer Geste stiller Rebellion ihre Tochter „London“. Die Dorffrauen sind baff: „Nennt irgendwer seine Tochter London? Dies ist der Name eines Ortes, Liebes, ein Ort, der sehr weit entfernt ist, im Land der Christen. Wir sind alle sehr überrascht!“. Ihr Mann liebt sie sehr, aber sie lacht, als er fragt, ob sie ihn auch liebe: “Aus welcher TV-Show hast du das denn aufgeschnappt? fragte sie. Oder vielleicht ist es die Satellitenschüssel da draußen. Sind es die ägyptischen Filme, die deinen Verstand aufgefressen haben?“

Mayyas Schwestern verzeichnen ebenso ambige Erfolge in ihrem Leben. Asma heiratet aus Pflichtgefühl einen egozentrischen Künstler und widmet sich ihren vielen Kindern; die dritte Schwester, Khawla, sehnt sich nach ihrer ersten Liebe, die nach Kanada ausgewandert ist. Sie lehnt Heiratsangebote ab, sicher darüber, dass er eines Tages zurückkehren und sie heiraten wird. Überraschenderweise tut er das, aber dann fliegt er zwei Wochen nach der Hochzeit zurück nach Montreal, um mit seiner Freundin zusammen zu sein. Ein Jahrzehnt später wirft ihn die kanadische Freundin endgültig raus. „Er kam zurück. Er fand einen guten Job in einer Firma und lernte seine Frau und seine Kinder kennen.“ Aber sobald ihre fünf Kinder erwachsen sind, besteht Khawla darauf, sich scheiden zu lassen: „Es war nur so, dass sie die Vergangenheit nicht ertragen konnte. Jetzt war alles ruhig und ordentlich. … Sie war in Frieden, also hörte ihr Herz auf zu vergeben.“

Wie Naguib Mahfouz und Orhan Pamuk schreibt Jokha Alharthi in einem literarischen Rahmen, der gleichzeitig lokal und global, glocal, ist. Ihre Figuren zitieren arabische Dichter von Imru al-Qays und al-Mutanabbi bis Mahmoud Darwish, aber die meisten in ihrer Welt wissen wenig von ihnen. Als der Vater der Schwestern von einer freigeistigen Beduinenfrau verführt und fasziniert wird, zitiert er einen Vers aus al-Mutanabbi, in dem der Dichter des 10. Jahrhunderts seine geliebte Beduine als Gazelle der Wüste beschreibt. Sein Geliebter lacht – „Ist das ist dein Freund, der al-Mutanabbi heißt, von dem du mir erzählt hast?“ Der Vergleich gefällt ihr gar nicht: „Sie klang verärgert. Beisse ich denn auf meinen Worte herum, als würde eine Gazelle ihren Schwanz kauen?“

In Interviews zitiert Alharthi eine Vielzahl von Lieblingsautoren zu, darunter Gabriel García Márquez, Milan Kundera, Yukio Mishima, Yasunari Kawabata und Anton Tschechow. Ihre persönliche Website hat zwei Versionen, auf Arabisch und auf Englisch. Die Welt des globalen Englisch schwebt im Hintergrund einer Region mit einer langen englischen Kolonialvergangenheit. Mayyas Ehemann Abdallah hat dem Druck, Englisch zu lernen, widerstrebend nachgegeben: „,In meinem eigenen Land! Mein arabisches Land, in dem Restaurants, Krankenhäuser und Hotels angekündigt haben, dass hier nur Englisch gesprochen wird.’” Später, als seine inzwischen erwachsene Tochter London von einer romantischen Geste ihres Verlobten begeistert ist, antwortet ihre Freundin Hanan auf Englisch: „Na und?“ Spät im Roman, als ein desillusioniertes London die Verlobung abbricht, fordert Hanan sie auf, über ihn hinwegzukommen: „London, komm schon!, sagte Hanan zu ihr. Das Leben geht weiter. Wenn Ahmad betroffen ist, drücke einfach Löschen, okay? Lass es los, sagte sie auf Englisch, um ihren Standpunkt zu unterstreichen. “ Hier verwendet Hanan Englisch, parallel zum jetzigen Computerjargon.

Alharthi ist die erste arabische Schriftstellerin, die den Booker-Preis gewonnen hat, und sie ist auch die erste Frau aus dem Oman, die ins Englische übersetzt wurde; sie lebt in beiden Welten. Die Homepage ihrer persönlichen Website, http://jokha.com/, enthält einen Epigraph von Celestial Bodies:

„في الغربة، كما في الحب، نتعرف على أنفسنا بشكل أفضل“

[fi algharbat, kama fi alhub, nataearaf ealaa ’anfusina bishakl ’afdal –

In der Entfremdung, wie in der Liebe, lernen wir uns selbst besser kennen.]


Das Zitat stammt aus Ein Zimmer für sich allein, wo Woolf schreibt: „Schließ deine Bibliotheken ab, wenn du willst, aber es gibt kein Tor, kein Schloss, keinen Riegel, mit denen du die Freiheit meines Geistes einsperren kannst.“

Wie Woolf ebenfalls sagt: „Fiktion ist wie ein Spinnennetz, vielleicht so zart befestigt, aber immer noch an allen vier Ecken mit dem Leben verbunden.“ Entfremdung und Freiheit, Poesie und Prosa, Oman und die ganze Welt sind in Alharthis Netz von Geschichten miteinander verwoben.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-12-jokha-alharthi-celestial-bodies

Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

11. Juni: Orhan Pamuk, “Rot ist mein Name”

Hervorgehoben

11. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Ein Hauptindiz für die Identifikation eines Schriftstellers mit einer Stadt ist ein Museum, das dem Leben und der Geschichte des Autors gewidmet ist. Solche Museen befinden sich normalerweise in der Nachbarschaft des Autors, wie dies beim Mahfouz-Museum der Fall ist, das zwei Stockwerke eines historischen Gebäudes in seiner ehemaligen Nachbarschaft Al-Azar einnimmt. Oft befinden sich solche Museen im ehemaligen Haus des Schriftstellers, wie im Goethehaus in Weimar. Im Fall von Conan Doyle wurde der Autor zuweilen von seiner berühmtesten Schöpfung übertroffen, die ihm unter seiner imaginären Adresse 221B Baker Street ein Museum widmete. Das James-Joyce-Museum in Dublin verbindet Leben und Fiktion: Es befindet sich im Martello Tower in Sandycove am Stadtrand von Dublin, wo Stephen Dedalus im Ulysses lebt. Der junge James Joyce hatte 1904 ganze sechs Tage im Turm gelebt.

Photo: Masumiyet Müzesi

Orhan Pamuk hat diese literarischen Museen mit seinem Museum der Unschuld, übertroffen, das er beim Schreiben seines gleichnamigen Romans tatsächlich konstruierte.
In dem Roman hat Pamuks Held Kemal sein Zuhause in ein Museum verwandelt, um an seine verlorene Liebe, seine Cousine Füsun, zu erinnern. Er hat alle möglichen Alltagsgegenstände gesammelt, die er mit ihrer gemeinsamen Zeit in Verbindung bringt, und der Roman besteht aus einem Rundgang durch die Exponate des Museumshauses. Als er mit dem Roman begann, kaufte Pamuk ein heruntergekommenes Gebäude in seiner Nachbarschaft und renovierte es im Laufe eines Jahrzehnts, als er das 2008 veröffentlichte Buch schrieb. Das resultierende Museum, das 2012 eröffnet wurde, ist mit surrealistischen Vitrinen ausgestattet, die die 83 Kapitel des Romans symbolisieren.

Quelle: IWL 2012 Istanbul, Photo von Annemarie Fischer


In der obersten Etage, auf dem Dachboden, befindet sich Kemals Schlafzimmer, dessen Wände mit Seiten aus dem Manuskript des Romans tapeziert sind. Im Erdgeschoss findet man einen Museumsladen, in dem man Reproduktionen der Schmetterlingsohrringe der Heldin sowie Ausgaben von Pamuks Romanen in vielen Sprachen kaufen können. Pamuk wurde als Architekt ausgebildet, und wollte während seiner Jugend Maler werden, bevor er plötzlich zum Schreiben von Romanen überging. Das Museum der Unschuld vereint all diese Seiten seiner Persönlichkeit.

Pamuks langjährige Faszination mit der Kunst fand ihren vollendeten Ausdruck in Rot ist mein Name (1998), dem Buch, das ihn zu einem weltweit bekannten Autor machte. Es spielt in den 1590er Jahren und konzentriert sich auf das Ringen zwischen osmanischen Miniaturisten, die den stilisierten Traditionen der persischen Kunst treu geblieben sind, und denen, die einen westlichen Modus des perspektivischen Realismus anstreben. Konstantinopel balanciert angespannt zwischen Asien und Europa, wie die Stadt Octavia von Italo Calvino, die an einem Netz zwischen zwei Abgründen hängt. Die Menschen sitzen auf Teppichen aus Indien und trinken Tee aus von Portugal importierten, chinesischen Bechern, drapiert zwischen einer nahöstlichen Vergangenheit und einer westlichen Zukunft.

In dieser wirbelnden Matrix aus konkurrierenden Kulturen beginnt die Malerei im italienischen Stil, die großen Traditionen der islamischen Kunst zu verdrängen, da die Menschen von der Idee fasziniert sind, dass Porträts ihre Individualität (einem neuen, westlich beeinflussten Wert) anstelle allgemeinerer Qualitäten von Charakter und Status vermitteln können. Traditionalisten protestieren. Ein Geschichtenerzähler skizziert einen Baum, und drückt damit seine Zufriedenheit aus, dass er nicht im neuen realistischen Stil gezeigt wird: „Ich danke Allah, dass ich, der bescheidene Baum vor Ihnen, nicht mit solcher Absicht gezeichnet wurde. Und nicht, weil ich befürchte, wenn ich so dargestellt würde, würden alle Hunde in Istanbul annehmen, dass ich ein echter Baum bin und auf mich pinkeln: Ich möchte kein Baum sein, ich möchte seine Bedeutung darstellen.“

Die Geschichte steht auf der Seite der verwestlichenden Realisten, und dennoch werden die Miniaturisten niemals Erfolg beim Versuch haben, italienischer zu sein als die italienischen Maler, die sie bewundern. Rot ist mein Name beinhaltet die Suche nach einem Mörder unter den Miniaturisten des Sultans. Er erweist sich als Westler, der Rivalen tötet, die sich dem neuen Stil widersetzen. Am Ende des Buches erkennt er jedoch, dass sein geheimes Meisterwerk – ein Selbstporträt von sich selbst als Sultan im italienischen Stil – ein Misserfolg ist, eine ungeschickte Nachahmung einer schlecht verstandenen Technik. „Ich fühle mich wie der Teufel“, gesteht er, „nicht, weil ich zwei Männer ermordet habe, sondern weil mein Porträt auf diese Art und Weise gemacht wurde. Ich vermute, dass ich damit davonkam, damit ich dieses Bild machen kann. Aber jetzt erschreckt mich die Isolation, die ich fühle. Die Nachahmung der fränkischen Meister, ohne ihr Fachwissen erlangt zu haben, macht einen Miniaturisten noch mehr zu einem Sklaven.“

Der mörderische Miniaturist ist zum Ausgestoßenen geworden, der zwischen zwei Welten hin- und hergerissen ist, denen er niemals vollständig beitreten kann. Mein Name ist Rot ist ein überschäumendes Buch, gefüllt mit hoher und niedriger Komödie inmitten der schmerzhaften Einsamkeit aus unerfüllten romantischen und kulturellen Wünschen. Pamuks Roman ist in der Tat die beste Antwort auf das Problem, das er so scharf stellt: eine lebendige Mischung, die eine verschwundene osmanische Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke nachbildet. Wie Pamuk gesagt hat, schrieb er über seine eigene Kindheit, indem er die Ziffern umkehrte, und die 1950er Jahre in die 1590er Jahre verwandelte. Pamuk verwendet alle Techniken des westlichen Romans und formt sie ebenfalls neu um; sein Buch ist in neunundfünfzig kurze Kapitel unterteilt, die jeweils den Titel „Ich bin schwarz“, „Ich bin Shekure“ und „Ich bin ein Baum“ tragen. Diese Miniatur-Selbstporträts nehmen die dreiundachtzig Vitrinen des Museums der Unschuld vorweg und verbinden sich zu einem umfassenden historischen Roman.

Wie Naguib Mahfouz nähert sich Pamuk der westlichen Kultur und seiner eigenen Nation mit souveräner Freiheit. Ein Aufsatz über „Mario Vargas Llosa und die Literatur der Dritten Welt“, “Mario Vargas Llosa and Third World Literature”, liest sich wie ein Porträt von Pamuk selbst. „Wenn es etwas gibt, was die Literatur der Dritten Welt auszeichnet“, schreibt er, „ist es das Bewusstsein des Schriftstellers, dass seine Arbeit irgendwie von den Zentren entfernt ist, in denen die Geschichte seiner Kunst – die Kunst des Romans – beschrieben wird, und er reflektiert diese Distanz in seiner Arbeit.” Doch, weit davon entfernt, ein Nachteil für den Schriftsteller zu sein,

“Dieses Gefühl, ein Außenseiter zu sein, befreit ihn von der Angst vor Originalität. Er muss nicht mit Vätern oder Vorläufern in einen besessenen Wettbewerb treten, um seine eigene Stimme zu finden. Da er neues Terrain erkundet, berührt er Themen, die in seiner Kultur noch nie diskutiert wurden, und spricht häufig entfernte und aufstrebende Leserschaften an, die in seinem Land noch nie zuvor gesehen wurden – dies verleiht seinem Schreiben eine eigene Art von Originalität, seine Authentizität.” (aus: Other Colors, S. 168-9)

Mein Name ist Rot besitzt starke Verbindungen zu Mahfouz‘ Werken, einschließlich wiederkehrender Szenen in einem Kaffeehaus, in denen sich die Einheimischen versammeln, um den Tag zu besprechen, und in denen ein Geschichtenerzähler seine Geschichten erzählt und sie mit schnell gezeichneten Skizzen illustriert, wie die des Baumes, der die Bedeutung eines Baumes sein will. Zusammen mit persischer Poesie und Kunst bildet Die Nacht der tausend Nächte eine häufige Resonanz. Die Heldin des Buches, Shekure, ist eine Scheherazade-Figur, die sich bewusst ist, dass sie eine Geschichtenerzählerin in einer Geschichte ist. Wie sie uns sagt: “Sei nicht überrascht, dass ich mit dir spreche. Seit Jahren habe ich die Bilder in den Büchern meines Vaters nach Bildern von Frauen und großartigen Schönheiten durchsucht.” Normalerweise haben die Frauen, die sie findet, ihre Augen schüchtern niedergeschlagen, aber einige von ihnen sehen den Leser kühn an. Shekure sagt dass

“ich habe mich lange über diesen Leser gefragt. … Genau wie diese schönen Frauen, die ein Auge auf das Leben im Buch und ein Auge auf das Leben außerhalb haben, sehne auch ich mich danach, mit Ihnen zu sprechen, die Sie mich beobachten, aus irgendwelchen fernen Zeiten und irgendwelchenwelchen fernen Orten. Ich bin eine anziehende und intelligente Frau, und ich geniesse es, beobachtet zu werden. Und wenn ich von Zeit zu Zeit vielleicht ein oder zwei Lügen erzähle, so geschieht dies, damit Sie keine falschen Schlussfolgerungen über mich ziehen.”

Mein Name ist Rot untersucht die Herausforderungen an Identität und kulturelles Gedächtnis, die durch die Verwestlichung hervorgerufen werden, und dabei überschreitet Pamuk die Entweder-Oder-Entscheidungen, die der verwestlichende Mörder und der traditionalistische Baum wahrnehmen. Er lebt gleichzeitig in der osmanischen Vergangenheit und in der postmodernen Gegenwart, so wie er sowohl in Istanbul als auch darüber hinaus innerhalb und außerhalb der Seiten seiner Fiktion lebt. In einem direkten Ausdruck dieser doppelten Identität enthält der Roman einen Jungen namens Orhan, Sohn von Shekure, der auch der Name von Pamuks Mutter ist. In den Schlusszeilen des Romans hinterlässt Shekure ihre Geschichte ihrem Sohn in der Hoffnung, dass er daraus eine illustrierte Geschichte machen wird, aber sie warnt uns, das Ergebnis nicht zu wörtlich zu nehmen, denn: „Für eine köstliche und überzeugende Geschichte gibt es keine Lüge, die Orhan nicht gerne erzählen würde.“

Damrosch und Pamuk beim IWL 2012 Istanbul, Photo von Annemarie Fischer

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-11-orhan-pamuk-my-name-red

Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

10. Juni: Naguib Mahfouz, “Die Nacht der tausend Nächte”

Hervorgehoben

10. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Geboren im Jahr 1911, verfasste Naguib Mahfouz 34 Romane, 350 Kurzgeschichten, Dutzende von Drehbüchern, und zahlreiche journalistische Texte, in einer siebzig Jahre währenden Karriere bis zu seinem Tod im Alter von 94 Jahren im Jahr 2006. An dieser Stelle muss ich meine Behauptung, dass P. G. Wodehouse und Czeslaw Milosz den Rekord für künstlerische Langlebigkeit unter unseren achtzig Autoren innehaben, etwas modifizieren, obwohl Mahfouz wenig schrieb, nachdem er 1994 von ein paar Fundamentalisten, die ihn der Blasphemie bezichtigten, fast getötet wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich schon lange als der wichtigste ägyptische Schriftsteller – und sogar als der bedeutendste arabische Schriftsteller – seiner Generation etabliert, und übte einen enormen Einfluss auf die ihm nachfolgende Generation aus.

Als lebenslanger Einwohner von Kairo, wo der Schauplatz fast aller seine Werke spielt, wurde er zum berühmtesten Aufzeichner des Lebens seiner Stadt.
Als großer Loyalist für Kairo und ägyptischer Nationalist war Mahfouz ein künstlerischer Internationalist. Sein Werk bezieht sich sowohl auf die Tradition des ägyptischen Romans, wie sie sich auch während seiner Jugendjahre und aufgrund seiner Liebe für die russische Literatur und der Modernisten wie Proust, Joyce, and Kafka entwickelte. Das Attentat auf sein Leben erfolgte im Kontext der Kontroverse von Salman Rushdies Satanischen Verse (1988),im selben Jahr in dem Mahfouz mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Obwohl er die Darstellung des Islams im Roman kritisierte, verteidigte Mahfouz Rushdies Recht auf künstlerische Freiheit und stellte sich der iranischen Fatwa auf Rushdies Leben entgegen, und ging sogar soweit, Ayatollah Khomeini als Terroristen zu bezeichnen. Seine Einstellung führte zu brodelndem Ärger unter Islamisten über seinen 1959 erschienenen Roman Die Kinder unseres Viertels, der das Judentum, Christentum und Islam als gleichwertig betrachtete, und eine säkulare Wissenschaft über den Islam befürwortete. Viele Jahre lang hatte Mahfouz die doppelte Auszeichnung inne, dass einige seiner Werke in der arabischen Welt aus religiösen Gründen verboten waren, während andere Werke aus politischen Gründen verbannt wurden, zuerst für seine Kritik am Nasser-Regime, und dann für seine Unterstützung von Anwar Sadats Friedensvertrag mit Israel.

Mahfouz’ kultureller und politischer Einsatz begründet sich im intensivsten von allen seinen Engagements: die der arabischen Sprache. Seine Ansprache anlässlich der Verleihung des Nobelpreises beginnt nicht (wie die vieler Laureaten) mit der Anerkennung seiner literarischen Vorgänger zu Hause und in der Welt, noch mit der Aussage, dass die Auszeichnung tatsächlich sein Land erhält, wie eine Rezipienten gesagt haben. Stattdessen stellt er besonders heraus, dass er der erste arabische Gewinner dieses Preises sei (leider ist er bis jetzt der einzige arabische Schriftsteller), und er bemerkt, dass es die arabische Sprache ist die

„die echte Gewinnerin dieses Preises ist. Es ist daher bedeutsam, dass ihre Melodien zum ersten Mal in Ihre Oase der Kultur und Zivilisation fliessen. Ich hege grosse Hoffnung, dass dies auch nicht zum letzten Mal geschehen wird, und das literarische Autoren meiner Nation verdienstvoll mit Pläsier zwischen Ihren internationalen Schriftstellern sitzen werden, die den Duft der Freude und der Weisheit in diese unsere trauervolle Welt versprüht haben.“

Mahfouz’ Werk umfasst einen Durchlauf der antiken und modernen ägyptischen Geschichte, von seinen früheren Romanen, die den umfassenden Zeitrahmen zu den pharaonischen Zeiten spielen, zum sozialistischem Realismus der Kairoer Trilogie (1956-1957) und der existenzialistischen und postmodernistischen Metafiktionen in den 1960er bis in die 1980er Jahre. Wie Salman Rushdie und Orhan Pamuk nach ihm beschäftigt er sich mit dem westlichen Modernisierungsdruck auf seine Kultur, obwohl sich die Gefühlswelt seiner Figuren wenig mit einer Zerrissenheit zwischen Ost und West beschäftigt. In seiner Nobel-Rede beschreibt sich Mahfouz als Produkt zweier Kulturen: nicht Ost und West, sondern von der Antike und vom Islam geprägt:

“Ich bin der Sohn zweier Zivilisationen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte eine glückliche Ehe geführt haben: Die erste davon, sieben tausend Jahre alt, ist die pharaonische Zivilisation; die zweite, eintausendvierhundert Jahre alt, ist die islamische. Mein Schicksal gebar mich in den Schoß dieser beiden Zivilisationen, und ließ mich ihre Milch aufsaugen, und nährte mich mit ihrer Literatur und Kunst.”

Er erwähnt nun die Kulturen des Westens als dritte, sogar untergeordneten, Strand in seinem Werdungsprozess: “Dann trank ich den Nektar von Ihrer reichhaltigen und faszinierende Kultur. Von all diesen Inspirationsquellen – wie auch aus meinen eigenen Ängsten – benetzten mich Worte.”

Mahfouz’ Talent, politische und philosophische Fragen miteinander zu verweben, Komödie mit Tragödie, ein vormodernes Erbe und das gegenwärtige Leben, zeigt sich nirgendwo deutlicher als in seinem 1979 erschienenen Roman – eigentlich eine Sammlung von miteinander verbundenen Erzählungen – Nacht der tausend Nächte. Er beginnt am tausendundersten Tag, als der Wesir, Scheherazades Vater, ängstlich zum Palast hoch geht, und sich fragt, was schlussendlich aus seiner Tochter und aus dem Königreich werden wird. Er ist überglücklich, als Shahryar ihm seine Entscheidung mitteilt, Scheherazade als seine Frau zu behalten: “Ihre Geschichten sind weiße Magie,” frohlockte er. “Sie öffnen Welten, die zum Reflexion einladen.”

Mahfouz scheint uns ein leuchtendes Porträt der therapeutischen Kraft des Erzählens zu geben, es stellt sich jedoch heraus, dass Scheherazades selbst eine viel weniger positive Sicht innehat. Als der Wesir zu ihr geht, um ihr zu ihrem erstaunlichen Erfolg zu gratulieren, findet er sie bitter vor: “‘Ich habe mich selbst geopfert’ sagte sie voller Trauer, ‘um das Blutvergießen zu stoppen.’” Sie fährt fort: “Immer wenn er sich mir nähert, rieche ich Blut … Wie viele Jungfrauen hat er getötet! Wie viele fromme und gottesfürchtige Menschen hat er ausgemerzt! Nur noch Heuchler sind übrig im Reich.”

Das ist nicht die freudige (und immer noch patriarchale) Fantasie wie im Werk von John Barths Geschichte “Dunyazadiad” (1972), in der eine Begegnung mit der strahlend sexuellen Scheherazade und ihrer gewieften Schwester Dunyazad die Midlife-Crisis des Schriftstellers heilt, und seine literarische wie sexuelle Potenz erneuert. Shahryar selbst deckt auf, dass Scheherazades Geschichten nur einen begrenzten Wert für ihn besitzen: wie er niedergeschlagen seinem Wesir mitteilt: “Ich wurde ein wenig depressiv … haben Shahrazads Geschichten mir etwas außer dem Tod gelehrt? … Menschen von Menschen verschlungen, mit einem einzigen zielstrebigen, der schlussendlich an ihre Tür klopft Richter: der Zerstörer der Lust.” Der Wesir realisiert dass “sein Meister sich nur an der Oberfläche verändert hatte.” Shahryar bleibt ein gewalttätiger Autokrat, und ernennt einen korrupten Strohmann nach dem anderen, um die Leute auszubluten und seinen Griff an der Macht zu zementieren. Sein eigener Polizeichef fragt sich: “Woher bekam Shahryar diese Gouverneure?”Innerhalb von wenigen Seiten wird deutlich, dass wir uns in einer Welt befinden, die mittelalterliche Fantasie mit zeitgenössischer Realität verblendet, vergleichbar mit Techniken in Calvinos Unsichtbaren Städten. Shahryar regiert über ein sehr jetzig-scheinendes Kairo, und wir begegnen einer surrealen Mixtur von Figuren im Café of the Emirs, wo sich die Leute treffen, um das Tagesgeschehen zu diskutieren. Die Gäste sind beispielsweise Ibrahim al-Attar der Drogist, Galil al-Bazzaz der Tuchhändler, Ugr der Barbier und seinen Sohn Aladdin, Ragab der Lastenträger und sein Kumpan Sindbad – der ermüdet von der Stadt ist, und sie gerade zum Meer verlässt. Zu Beginns sind sie alle froh darüber, dass ihre Töchter verschont wurden, dank Shahrazad und “dank dieser wundervollen Geschichten.

Aber die Erzählung verdunkelt sich schnell. Ein Geist verleitet einen Kaufmann, Sanaan, dazu, ein politisches Attentat für ihn auszuführen; verzweifelt über die Aufgabe, die er ausführen muss, irrt Sanaan nachts durch die Straßen, aber, anstatt mit einer Heilsgeschichte fortzufahren, trifft er auf ein zehnjähriges Mädchen, das er missbraucht und tötet. Durch die Erzählung wird die scharfzüngige politische Kritik mit dem Bedürfnis, dem Anpassungsdruck in einem korrupten System zu bewältigen, entgegengesetzt. Am Ende gelingt es einigen Charakteren, sich erfolgreich dem Diktat der Macht zu widersetzen, wenn es sein muss, unter der Zerstörung ihrer selbst. Am Ende des Buches legt Shahryar mit Verachtung seine Krone ab: “Er entthronte sich selbst, gezwungen vor der Revolte seines Herzens, als seine Missetaten schon längst bei den Leuten in Vergessenheit geraten waren, hatte seine Entwicklung lange Zeit gedauert.” Als er sich von Kairo abwendet, trifft er auf ein engelsgleiches junges Mädchen, das nach seinem Namen und Beruf fragt. Seine Antwort: “Ein Flüchtender vor seiner Vergangenheit.”

Die Nacht der tausend Nächte ist eine außergewöhnliche Meditations über die Grenzen und die ultimative Kraft des Erzählens. Wie Tausendundeine Nacht erfordert unsere Bildung von Geschichtenerzählen etwas Zeit – im Falle von Ägypten, fünftausend Jahre, und die Geschichte ist noch lange nicht vorbei. Morgen werden wir Orhan Pamuks anspruchsvolle Integration der osmanischen Geschichte mit seiner eigenen Kindheit durch die Brille von Nacht der tausend Nächte betrachten.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-10-naguib-mahfouz-arabian-nights-and-days
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

9. Juni: Kairo: Tausendundeine Nacht

Hervorgehoben

9. Juni 2020, von Prof. David Damrosch

Es gibt tausendundeine Tausendundeine Nacht. Keine zwei Manuskripte gleichen sich, sie weichen sogar zwischen Übersetzungen innerhalb einer Sprache extrem voneinander ab, und verschiedene LeserInnen lesen sie auf verschiedene Weise. Seitdem Antoine Gallands bahnbrechender Übersetzung von Les mille et une nuits (1704-1717) den Nächten zu weltweitem Ruhm verhalf, haben hunderte von Schriftsteller und Künstlern sich die Nächte zu ihren eigenen Zeiten und für ihre eigenen Zwecke reimaginiert, von Balletts zu Gemälden bis hin zu einem kürzlich veröffentlichten kuwaitischen Comicbuch.

Vielen von uns ist die Tausendundeine Nacht aus der Kindheit bekannt – und einer sehr zensierten Version – und sogar Erwachsene sind sich gewahr, dass wir in eine magische Welt rund um Bagdad eintreten, die es so nie gab. Ich möchte hier herausstellen, wie verwurzelt die Nächte in der Realität, besonders in Kairo, sind. Die Kerngeschichten wurden zuerst in Persien erstellt (deswegen die persischen Namen für die Figuren in der Rahmenerzählung, und Shahryar als der sassanidische König identifiziert). Diese verlorene Sammlung ging wahrscheinlich auch auf indische und arabische Traditionen zurück, aber die Nächte, die wir heute kennen, haben sich hauptsächlich zu zwei Zentren des Erzählens entwickelt: Damaskus und Kairo. Die relativ kurzen syrischen Versionen präsentierten eigentlich nie ein tausend und eine Nacht; der Begriff könnte schlicht auf “eine hohe Anzahl” hinweisen. Einige präferieren diesen Weg. In der Einführung seiner im Norton-Verlag erschienenen Übersetzung (The Arabian Nights, 1990) lobpreist Husain Haddawy sein favorisiertes syrisches Manuskript aus dem 14. Jahrhundert als “glücklicherweise im Wachstum gehemmt”. Im Gegensatz dazu verwirft er die spätere und mehr elaborierte Kairoer Überlieferung (entdeckt in Manuskripten aus dem 18. und 19. Jahrhundert) als diejenigen, die “eine Masse von vergifteten Früchten hervorbrachten, die sich als fast fatal für das Original erwiesen”.

Die Kairoer Überlieferung verkörpert jedoch in vollem Ausmass die weitläufige und fruchtbare Ausdehnungskraft von Tausendundeiner Nacht, und ihre Wucht und ihr Einfluss haben längst jegliches literarisches oder historisches Original übertroffen. Wie Jorge Luis Borges scharfsinnig in seinem Essay “Die Übersetzer der Märchen von Tausendundeiner Nacht” bemerkte, dass die Erzählungen keinen Ausschnitt aus dem Bagdader Leben vermitteln, sondern “eine Adaptierung von althergebrachten Geschichten auf die unbedarften oder derben Geschmäcker der Kairoer Mittelstandes” sind. Über die Jahrhunderte hinweg wurden neue Erzählungen und Gedichte eingefügt. Eine der bekanntesten, inklusive des Aladdin und Ali Baba, wurden von Galland selbst hinzugefügt, ob mit oder ohne dem Beitrag seines Informanten Hana Diab, einem Erzähler aus Aleppo.
Als Galland die Manuskripte in Konstantinopel und Syrien erworben hatte, lebte der einflussreiche englische Übersetzer Edward Lane im Kairo der 1820er Jahre. Wie Sir Richard Burton nach ihm fügte er seiner Ausgabe unzählige ethnografische Notizen hinzu, und versetzte seine Leserschaft in den Schauplatz, wie er ihn erlebte. Lane war Künstler wie auch Übersetzer, und seine Skizze zeigt eine Karawane, wie sie den Souk von Khan el-Khalili betritt:


Der Shisha-rauchende Herr links ist, als Insider-Joke, niemand anderer als Lane selbst, gekleidet in türkisches Gewand. Ich stelle mir gern vor, dass, sobald er seine Skizze fertiggestellt hatte, für einen Tee ins Café el-Fishawi aufgebrochen wäre.
Viele Details in den Nächten suggestieren dass die Erzählungen, wie sie vor uns liegen, gleichermaßen ein Produkt der osmanischen Ära von Damaskus und Kairo wie des sassanidischen Persien oder abbasidischen Bagdad darstellen. In der bekannten Erzählung “Die Geschichte des Lastträgers und der drei Damen von Bagdad”, in der eine Frau einen Träger für die vielerlei Bandbreite an Gütern sucht, das sie auf dem Markt erwirbt, darunter türkische Quitten, Pfirsiche aus Hebron, Lilien aus Damaskus, Rosinen aus Aleppo und Gebäck aus Kairo, der Türkei und dem Balkan – die Art von Auswahl, die der geneigte Zuhörer des Erzählers in einem Souk in Damaskus oder Kairo um sich herum sichten könnte.

Sogar das Fantastische fußt auf kultureller Konstruktion. In “Die Geschichte des Lastträgers und der drei Damen von Bagdad” lädt die Frau, die den Lastenträger angeworben hatte, ihn in das Haus ein, das sie mit ihren zwei Schwestern teilt. Dort entkleiden sie sich, um ein Bad in einem Brunnen zu nehmen, und spielen ein frivoles Ratespiel, bevor sie zusammen speisen, während sie sich Geschichten erzählen und Verse rezitieren.

Ein Klopfen an ihrer Tür unterbricht sie: drei Wander-Derwische, jeder von ihnen blind in einem Auge, fragen nach Almosen. Die Damen laden sie zu sich ein, unter der Bedingung, dass sie sie mit ihren wunderbaren Geschichten unterhalten, aber keine Fragen über irgendetwas stellen, das sie nichts angeht. Ein erneutes Klopfen an der Tür stellt sich als der Kalif Haroun al-Rashid heraus, der in der Stadt verkleidet in Gesellschaft seines Wesirs Jafar  und seines Masrur, der “Träger des Schwertes seiner Rache”, umherwandelt. Sie werden ebenfalls herein gebeten, und ein Festessen des Geschichtenerzählens geht los. Paulo Horta, der an der NYU Abu Dhabi unterrichtet (und der Autor von Marvellous Thieves ist, einem exzellenten Buch über die englischen Übersetzer von Tausendundeiner Nacht), erzählte mir, dass, als er die Geschichte in Nordamerika unterrichtete, seine Studierenden bezweifelten, dass ein Lastenträger auf Frauen träfe, die sich in Hunde verwandelten, und dass die Derwische auf Ifrits mit übernatürlichen Kräften träfen. Im Gegensatz hierzu hielten seine Studierenden in Abu Dhabi viele dieser Details für ziemlich plausibel, aber wundern sich über ein anderes Detail: “Drei allein lebende Frauen ohne Mann? Wie kann das sein?”
Ich habe an früherer Stelle Boccaccios Dekameron als die weltweit erste Sprechtherapie beschrieben, basierend auf der Gesellschaft seiner Freunde, ihm beim Kurieren seines Liebeskummers behilflich zu sein. Aber Shahrazad kam ihm vielleicht noch zuvor, als sie König Shahyrar während ihres drei Jahre währenden Kursus der Erzähltherapie von seinem mörderischen Wahn kuriert. In der syrischen Version des Abschlusses der Rahmenerzählung preist der Herrscher einfach ihre Keuschheit, Weisheit, und Eloquenz, und stellt fest, dass, (in der N.J.-Dawood-Übersetzung, erschienen im Penguin-Verlag) “die Busse ist zu mir durch sie gekommen”, die ausführlichere und später erschienenen Kairoer Version ist jedoch explizit psychologisch. “Oh Weise und Bescheidene,” deklariert Sharyar,
“Ihr habt mir einiges erzählt, das merkwürdig war, und einiges, das nachdenkenswert war. Ich habe Euch für eintausend Nächte zugehört, und meine Seele ist verändert und voller Freude, es schlägt mit einem Appetit fürs Leben. Ich danke Ihm, der Euren Mund mit so viel Eloquenz parfümiert hat, und Euch die Weisheit auf die Stirn geschrieben hat.”

Die fantastischsten Märchen können für einen politischen Willen wie auch psychologische Wirkung mobilisiert werden. Noch mehr als das: das physische Buch selbst kann eine politische Aufgabe erfüllen, wie wir in der beeindruckenden Museumsinstallation , “Materials for a Film (Performance),” [Stoff für einen Film, (Performance)], erschaffen im Jahr 2007 von der palästinensischen Künstlerin und Aktivistin Emily Jacir.

Die melancholische Inspiration für ihr Projekt war die Ermordung von Wael Zuaiter, einem palästinensischen Übersetzer und Repräsentanten der italienischen PLO, der von Israel beschuldigt wurde (zu Unrecht, gemäss seinen Unterstützer), am Attentat an den israelischen Athleten während der Olympischen Spiele in München beteiligt zu sein. Er war gerade dabei, Tausendundeine Nacht ins Italienische zu übersetzen, als die Agenten des Mossad ihn töteten, auf seiner Leiche lag eine Ausgabe Alf Lyalah wa Laylah – durchbohrt von einer Kugel.

Quelle: Emily Jacir

Jacir hatte genau dieses Buch in die Hände bekommen, und sie machte daraus ein Kunstprojekt, und später einen Film über dieses Projekt. Zuerst liess sie eintausend Bücher mit weissen Seiten herstellen, und, mit einer Pistole derselben Marke, wie sie die Mossad benutzten, schoss sie selbst eine Kugel durch jedes von ihnen. Auf der Biennale in Venedig 2007 erschuf sie eine Installation, und eine weitere Version im nächsten Jahr im Whitney Museum in New York, wo sie eintausend von einer Kugel durchschossene Bücher in einem Zimmer aufreihte, als Symbol für die Bücher, die es nie erleben würden, von Zuaiter übersetzt oder geschrieben zu werden. Um den Zimmereingang am Whitney zeigte eine wand fotografische Aufnahmen von jeder Seite der von der Kugel heimgesuchten Ausgabe von Alf Laylah wa Laylah.

Quelle: Emily Jacir.


Jacirs Installation ist ein bewegendes Tribut an ein zu kurzes, angehaltenes Leben – und ein Zeugnis des weitergehenden Lebens von Tausendundeiner Nacht heute, zur Wirkung in neue politische Umstände gebracht von einer modernen Shahrazad – Emily Jacir selbst. Morgen sehen wir, wie der Nobelpreisträger Naguib Mahfouz seine eigene zeitgenössische, literarisch-politisierte Version von Shahrazads Geschichten in seinen Die Nacht der tausend Nächte erschafft.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-9-cairo-thousand-and-one-nights
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

8. Juni: Kairo: Liebeslieder aus dem Alten Ägypten

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8. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Venedig hinter uns lassend, und drei Tage ostwärts reisend, erreichen wir nun Kairo, das Calvino zu Eusapia inspiriert haben muss, eine seiner “Städte und die Toten”. Die Bewohner von Eusapia haben ihrerseits, das Leben liebend und den Sorgen entfliehend, Nekropolis erbaut, das pulsierende Leben oberhalb des Grundes widerspiegelnd. Die Nekropolis ist ausgestattet mit “allem Handel und allen Berufen der Lebenden” – genau so wie die Wände der ägyptischen Gräber und die Figurine die königlichen Toten emsig mit khet nefret nebet – “Allem Guten” versorgen. In Calvinos Version ist jedoch dieses lebhafte künstlerische Leben nach dem Tod Fluch und Segen zugleich: “das Eusapia der Lebenden ist dazu übergegangen, ihre Kopie des Untergrundes zu kopieren”, und “in den Zwillingsstädten kann man nicht mehr wissen, wer lebendig und wer tot ist”.

Kairo steht, in meiner Erfahrung, für eine Doppel-Stadt, in der der Besucher in den Schätzen des Ägyptischen Museums versinken kann, nachdem er eine Nahtoderfahrung beim Durchschlängeln auf den achtspurig-wuseligen Straßen erlebt hat, nur um genau dorthin zu gelangen. Viele Jahre lang war Ägypten ein zeitloses Land der transzendentalen Kunst, dem ich als Teenager beim Metropolitan Museum verfallen war, nur ein paar Straßenzüge vom Viertel meines Vaters entfernt. Also studierte ich Mittelägyptisch, nicht Arabisch, und wusste wenig über die gegenwärtige ägyptische Kultur. Als ich endlich nach Kairo reiste, um einen Gedenkvortrag für meinen langjährigen Kollegen Edward Said zu halten, standen sowohl moderne als auch historische Sehenswürdigkeiten auf meinem Plan. Nach dem Besuch der großartigen Nekropolis und des Pyramidenkomplex bei Sakkara am Rande der Stadt (unterhalb sehen Sie ein Zeichen für eine hellenistische Gruppierung aus griechischen Philosophen dort), ging ich in die geschäftige Midaq-Gasse, der Schauplatz von einem von Naguib Mahfouz‘ größten Romanen. Danach ging ich einen Tee trinken, im el-Fishawy Café im Khan el-Khalili Souq, in dem Mahfouz für gewöhnlich schrieb, während er grünen Tee trank.

Die beiden Kairos könnten verschiedener nicht sein, aber sie sind untrennbar miteinander verbunden, und, anders als Calvinos totes Eusapia, charakterisiert die Lebhaftigkeit der Märkte das Alte wie auch die Moderne. Die Alten Ägypter widmeten dem Leben nach dem Tod so viel Aufmerksamkeit, weil sie das Leben nie enden sehen wollten. Die Lebhaftigkeit ihrer Kultur wurde von den europäischen Orientalisten nicht immer geschätzt, die als Erste die ersten Papyrus-Rollen ausgruben, die in die Gräber platziert wurden, um die Toten zu unterhalten und sie ins Leben nach dem Tod zu führen. Die Sammlung der Sprüche, die heute als Buch der Toten bekannt ist, heisst eigentlich Sesh en Peret em Herew, Das Buch der Bewusstseinserlangung bei Tag. Die Reliefs, die in die Wände der Gräber eingeritzt wurden, sind mit Beschwörungen ans irdische Leben erfüllt, und deren Künstler erfassten mit Vergnügen einen flüchtigen Augenblick für alle Ewigkeit:

In diesem Relief der Fünften Dynastie, eingeritzt vor viereinhalbtausend Jahren, haben ein Wächter und sein Wach-Pavian einen Dieb gefangen, der versucht, Korn zu stehlen. Über dem Kopf des Diebes sehen wir seine flehentliche Bitte an den Wachmann. Von rechts nach links lesend ist der 1. Charakter eine Feder, ein Halbvokal “y”, während der Geier ein Glottisschlag ist, der Vorgänger von alif im Arabischen und aleph im Hebräischen. In diesem Kontext sollte es übersetzt werden als “Ah!”. Der Dieb fährt fort: “Schlag den Pavian! Hol den Pavian von mir runter!”

Einige Dutzend überlebende Liebesgedichte haben mich zuerst zur ägyptischen Literatur hingezogen. Diese erquicklichen Gedichte, die im biblischen Hohelied der Liebe wieder erhallen, sind mit Bezeugungen der Freuden der Liebe erfüllt:
Warum Deinem Herz entgegenhalten?

Dem Umarmen gilt all meine Lust.

Wie Amun lebt, komme ich zu Dir,

Mein Lendenschurz über meiner Schulter.

In einem Gedicht verkündet eine Frau:

Mein Herz erinnert sich gut Deiner Liebe.

Die eine Hälfte meines Tempels war durchgekämmt,

Ich kam, Dich zu sehen,

und ich vergaß mein Haar.

(Übersetzungen adaptiert von W.K. Simpsons exzellenter Anthologie The Literature of Ancient Egypt, publiziert von der Yale University Press, erschienen 1972, 2. Ausgabe 2003.)

Die Gedichte wurden wahrscheinlich von Männern verfasst, aber diejenigen mit einer Frauenstimme wurden wahrscheinlich von Frauen anlässlich von Banketten gesungen.

In einem Gedicht trifft das lyrische Ich auf ihren attraktiven Liebhaber am Rande des Nils, Symbol von Fruchtbarkeit und Erneuerung:
Ich fand meinen Liebenden am Rande

Seine Füße im Wasser stehend;

Wo er die Tische für die Festessen baut,

Und mit Bier löscht.

Er bringt meine Haut zum Erröten,

Da er groß gewachsen und schlank ist.

Die Götter selbst sichern sich die irdische Leidenschaft der Liebenden. In einem Gedicht wird eine gesamte Landschaft mit Göttlichkeit erfüllt, beginnend mit den großen Gott von Ptah, der Schutzherr der Handwerker und Architekten, und Gott der Hauptstadt Memphis, ein paar Meilen südlich vom heutigen Kairo entfernt:

Ich segle flussabwärts in der Fähre (..)

ein Bündel Schilf in meinen Armen.

Ich werde in Memphis ankommen

und Ptah, dem Hüter der Wahrheit sagen:

Gebt mir meine Liebste heut Abend!

Der Fluss ist Wein, Ptah seine Reben,

Sekhmet dessen Blätterwerk,

die Dew Gottheit dessen Knospen,

Nefertum dessen Blüten.

Die Güldne Gottheit frohlockt, 

und das Land leuchtet hell ihrer Schönheit.

Da Memphis eine Flasche voller Alraunen,

gestellt vor einen schönen Gott.

Diese Gedichte wurden in die Gräber gelegt, in Sammlungen betitelt mit “Die Gedichte der Großen Gelüste”. Man hat nicht gelebt, wenn man nicht im Alten Ägypten gestorben ist.

Die Literatur des Alten Ägypten umschließt, neben der Liebe zur Lyrik, einen Korpus von Weisheitsliteratur, und die frühesten, je verfassten Prosafiktionen. Die Geschichte des Schiffbrüchigen (ca. 2000 v. Chr.), das die möglicherweise älteste verschachtelte Erzählung, schichtet sozusagen Geschichten.

Ein Kommandant kehrt zur Hauptstadt nach einer erfolglosen Nil-Expedition zurück, und macht sich zutiefst über den Empfang, den er vom König bekommen wird, Sorgen. Im Hauptteil der Geschichte beruhigt ihn sein Leutnant, dass er sich nicht zu sorgen bräuchte, da sich die sich die Ergebnisse meist besser als erwartet entwickeln; und beginnt ihm daraufhin die Geschichte eines Schiffbrüchigen auf einer geheimnisvollen Insel, wahrscheinlich im Roten Meer, zu erzählen. Dort trifft er auf eine grosse Schlange, die den verängstigten Seemann beruhigt, “Fürchte dich nicht, fürchte dich nicht, kleiner Mann, erblasse nicht. Gott hat dich doch am Leben gelassen. Er hat dich hierher auf diese Insel des Ka gebracht, wo es an nichts gibt, am dem es fehlt.” (wortwörtlich, “Nichts gab es, das es dort nicht gab”, eine faszinierende Aussage in einem fiktionalen Werk). Die Schlange beruhigt den Seemann, indem sie ihre eigene Geschichte von Verlust und Wiedergewinn preis gibt; wiederum eine Geschichte in der Geschichte, eingebettet in eine Rahmenerzählung. Die Schlange repariert auf magische Weise das Schiff, erweckt die Mannschaft zurück zum Leben, und schickt sie weg auf ihrem Weg. Der Kapitän wird von dieser erquicklichen Erzählung jedoch nicht selbst aufgeheitert, und faucht zurück: “Wer tränkt denn eine Ziege an dem Morgen, an dem sie geschlachtet wird?”

Also ist die älteste, bekannte Rahmenerzählung auch die Geschichte, die die Macht des Erzählens per se in Frage stellt – einem Thema, dem wir uns morgen in Tausendundeiner Nacht widmen.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-8-cairo-love-songs-ancient-egypt

Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

5. Juni: Italo Calvino, „Die unsichtbaren Städte“

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5. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Die Unsichtbaren Städte, veröffentlicht 1972, geht zurück in die Zeit von Donna Leon, bildet jedoch einen passenden Rahmen für diese Woche von Marco Polo, mit dem diese Woche begann – überdies gebraucht die Geschichte selbst eine ausführliche Rahmenerzählung. In seinem magischen, ungewöhnlichen Buch stellt sich Calvino eine Reihe von tiefergehenden Gesprächen zwischen Polo und Kublai Khan im Garten des Herrschers zur Dämmerung vor, während der Jahre, in denen Polo ein ausländischer Botschafter (wie er behauptete) für den mongolischen Herrscher war. Der Venezianer erzählt von den Städten, die er in China besucht hatte, mit Titelbeschreibungen wie “Die Städte und die Zeichen”, “Die Städte und die Augen”, und “Die Städte und die Augen”. Die Titel scheinen zufällig, aber bei näherem Hinsehen kann man eine verdeckte mathematische Folge erkennen. Jeder Titel erscheint fünf Mal, fortlaufend spiralförmig neun Abschnitte lang, neun Städte pro Abschnitt, in einem Muster von Städten und: Erinnerung 1, Erinnerung 2, Wunsch 1, Erinnerung 3, Wunsch 2, Zeichen 1, Erinnerung 4, Wunsch 3, Zeichen 2, Die fragilen Städte 1, das an das Thema erinnert, wie Boccaccios Erzähler ihre Zehnerreihe von Novellen verbinden.

[Hier ist ein französischsprachiger Podcast zum Thema der mathematischen Literatur bei Oulipo:
https://www.ifmparis.fr/en/podcasts/ou-li-po-contraintes-mathematiques-et-creation-litteraire]

Calvina war zuvor 1967 nach Paris gezogen. Er wurde rasch ein Mitglied der experimentellen OuLiPo-Gruppe, uns bereits aus dem Werk von Georges Perec bekannt. In einer Aufnahme der Oulipians sehen wir Calvino links, und Perec steht mit Bart am Tisch in der Mitte:

Quelle: https://www.oulipo.net/

Die mathematische Struktur der Unsichtbaren Städte folgt dem oulipianischen Muster, gegossen in eine literarische Form. Jedes Kapitel ist edelsteinartige, lyrische Prosa, das eine emblematische Stadt beschreibt, komplettiert mit Bebilderung aus Polos Reisen und aus Tausendundeiner Nacht. Viele dieser Städte sind ungeheuerlich fantastische Schauplätze. Eine Stadt ist gänzlich aus Rohren und Installationszubehör gemacht, in denen Nymphen jeden Morgen ein Bad nehmen. Eine andere Stadt wird von einem gigantischen Netz gestützt, das zwischen zwei Klippen gespannt wurde. “Hängend über dem Abgrund ist das Leben der Bewohner von Octava weniger unsicher als in anderen Städten. Ihnen ist bewusst, dass das Netz nicht ewig halten wird.” Eine andere Stadt, Valdrada, wurde entlang eines Flusses erbaut, was Venedig mit seinen Lagunen und Kanälen widerspiegelt. Hier ist eine Illustration von Valdrada der peruvianischen Architektin und Grafikerin Karina Puente Frantzen:

Quelle: http://karinapuente.com/


[Karina Puentes Arbeiten zu den Unsichtbaren Städten können hier eingesehen werden.]

Polo sagt Kublai dass

“Valdradas Bewohner wissen dass jede ihrer Handlungen, gleichzeitig, diese Handlung und das Spiegelbild ist, das eine Hoheit des Bildes innehat, und dieses Wissen hält sie davon ab, auch nur einen Augenblick dem Zufall und der Vergesslichkeit zu verfallen. Selbst, wenn die Liebenden ihre nackten Körper drehen, Haut an Haut, die Stellung suchend, die ihnen die meiste Lust in dem anderen verschafft, selbst wenn Mörder das Messer in die schwarzen Venen des Halses stecken, und mehr geronnenes Blut herausfließt, je mehr sie ihre Klinge drücken, die gegen die Sehnen gleitet; was nicht zählt ist der Akt der Kopulation oder des Mordens, sondern das Abbild des Kopulierens und des Mordens, klar und kalt im Spiegel.“

Er schließt ab: “Die beiden Valdradas leben füreinander, ihre Augen sind ineinander versunken; aber es gibt keine Liebe zwischen ihnen.”

Alle Städte besitzen Frauennamen, und “Wunsch” – im Männerhirn – durchziehen zahlreiche davon. (Das einzige weibliche Mitglied der 14er Gruppe von OuLiPo ist die Dichterin Michèle Métail.) Frauen führen Pumas an der Leine durch die Straßen; eine Gruppe aus Männern erbaut eine Stadt auf der Männerphantasie, dass eine nackte Frau auf der Flucht vor ihnen ist; ausgewählte Reisende dürfen sich in Odalisques Bädern verlustieren. Der Leser versinkt in eine orientale Phantasie, die an Burton erinnert, aber einige sind einige merkwürdig moderne Pflänzchen sind in diese mittelalterliche Landschaft verpflanzt: Luftschiffe, Radar-Antennen, Wolkenkratzer. Mehr und mehr Modernität dringt im Verlauf des Buches hinein, und einige der späteren Städte verkörpern sehr gegenwärtige Probleme, vergleichbar mit Donna Leons ökologischem Fokus. Eine Stadt ist so übervölkert, dass niemand sich auch nur ein kleines Stückchen bewegen kann, eine andere Stadt wird von und unter den um sie aufgetürmten Müllbergen bald erdrückt; New York und Washington DC (unter ihrem Klarnamen erwähnt) verschmelzen zu einer “kontinuierlichen Stadt”, wie Tokio, Kyoto und Osaka. Calvinos Text überschreitet die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Ost und West, Utopia und Dystopia, die die moderne Welt durch vielerlei Linsen aus anderen Welten betrachtet. Wie Calvino später bemerkt: “Die unsichtbaren Städte [città invisibili] sind ein Traum, geboren im Herzen der unlebbaren Städte” [città invivibili], “diese fortlaufenden, gleichförmigen Städte, die die Erdkugel weiter und weiter bedecken.”

Als Komparatist betrachtet Calvinos Marco die Städte niemals isoliert; alle sind kettenartig in Bedeutung und Sinnhaftigkeit miteinander verbunden. Er wird jedoch still, als Kublai ihn fragt, ob er jemals eine Stadt gesehen habe, die der altchinesischen Hauptstadt Kin-sai ähnelt, das bekannt für “die Brücken, die sich über die Kanäle wölben, die Prinzenpalaste, deren Marmortreppen ins Wasser eingelassen sind, (..) lange Boote, die Gemüsekisten an den Marktplätzen abladen, die Balkone, Podeste, (…) Dome, die Inselgärten, die grün in das Graue der Lagunen leuchten.” Wie jeder italienische Leser (und Touristen aus dem Ausland) sofort erkennt, ist Kin-sai ein Doppelgänger von Venedig.

Marco insistiert, dass er so einen Ort noch nie gesehen habe, aber Kublai hakt nach, warum er nie über seine Geburtsstadt spricht. “Marco lächelte. ‘Was dachten Sie denn, über was habe ich mit Ihnen denn die ganze Zeit gesprochen?’” Am äußersten Ende ihres europäischen, imperialen Abenteuers sind Xanadu und Kin-sai sind nicht länger exotische Außenwelten, wo eine junge Abyssinierin einen jungen Reisenden betört, genau so wie Abyssinien (Aethiopien) nicht länger eine Kolonie des faschistischen Italien ist. Kublais Reich wird stattdessen zum Bild eines post-imperialen Europa: “eine endlose, formlose Ruin”, versinnbildlicht durch Venedigs sich neigende Kirchentürme und langsam versinkende Paläste.

Marcos geliebte Stadt zerfällt noch schneller in meiner Erinnerung: “Die Bilder werden in der Erinnerung, sobald sie in Worte gefasst sind, gelöscht,” sagt er Khan. “Ich befürchte, Venedig auf einmal ganz zu verlieren, wenn ich davon spreche. Oder es beim Sprechen von anderen Städten schon verloren zu haben, Stück für Stück.” Sein Verlust ist jedoch der Gewinn seiner Leserschaft: “Nur in Marco Polos Berichten konnte Kublai Khan die Spuren eines Musters erkennen, durch die Mauern und Türme, deren Schicksal es ist, zusammenzufallen, so subtil, dass es ihm entfallen könnte.”

Wie Donna Leons Venedig sind Polos unsichtbare Städte Palimpseste, die die versteckten Geschichten und Schichten der Bedeutung für denjenigen enthüllen, der die Spur ihrer subtilen Muster erkennen kann. Venedig sinkt gerade, das Ökosystem kollabiert, die Gewalt steigt, aber wie Dantes Commedia und Boccaccios Dekameron offeriert uns Calvinos Roman einen Weg nach vorn.

Bescheidener im Umfang als Boccaccios 10-Tages-Werk sind Calvinos neun Abschnitte umso sorgfältiger arrangiert, und ihre geordnete Darbietung sind der beschriebenen chaotischen Welt entgegengesetzt. Wie Polo Khan im letzten Absatz des Buches mit direktem Verweis auf Dante mitteilt:

„Die Hölle der Lebenden ist nichts, was sein wird; wenn es eine gibt, dann ist sie schon hier, die Hölle, in der wir jeden Tag leben, das wir formen, indem wir zusammen sind. Es gibt zwei Wege, dem Leiden zu entfliehen. Der erste ist für viele einfach: die Hölle akzeptieren, und so ein Teil von ihr zu werden, so dass man sie nicht länger sehen kann. Der zweite ist riskant und erfordert konstante Wachsamkeit und Vorstellungskraft: zu erkennen suchen und lernen, wer oder was, in der Mitte der Hölle, nicht das Inferno ist, und diese dann durchleiden, und ihnen Raum zu geben.“

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-5-italo-calvino-invisible-cities
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

4. Juni: Donna Leon, „Tod zwischen den Zeilen“

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4. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Seit den Zeiten von Marco Polo war Venedig eine Stadt der Reisenden, und war lange ein Reiseziel für Reisende, von Aristokraten im 18. Jahrundert, die hier einen Haupt-Halt auf ihren Europa-Rundreisen einlegten, zu Schriftstellern wie Byron und Goethe bis Henry James und Marcel Proust. Die US-amerikanische Kriminalautorin Donna Leon hat über dreissig Jahre lang in Venedig gelebt, und machte die Stadt zum Schauplatz ihrer Bestsellerreihe über den nachdenklichen Commissario Guido Brunetti. Donna Leon observiert ihre Adoptivstadt aus Aussenperspektive und Innensicht, und, wie Georges Perec’ Versuch einen Platz in Paris zu erfassen, deckt sie für uns das alltägliche Venedig auf, das Touristen verborgen bleibt.

In Donna Leons Venedig plätschert das Leben im ruhigen Rhythmus dahin. In einem Essay über ihr Venedig, “My Venice”, hebt sie die Abwesenheit von Automobilen hervor, und, in dem Werk, das ich heute besprechen werde, Tod zwischen den Zeilen (By Its Cover), benutzt überhaupt niemand überhaupt keine öffentlichen Transportmittel für die gesamte erste Hälfte des Romans. Brunetti springt erst unter Zeitdruck auf eines der Polizeimotorboote.

Ein Schlüsselort in der Geschichte ist eine heruntergekommene Ecke im ruhigen Wohnviertel von Campo Ruga:

Brunettis Stadt ist ein Ort von Proustischen Erinnerungen, mit dem Unterschied, dass die vergangene Zeit niemals in Venedig verloren war:

“Für Brunetti bestand der Frühling aus aneinandergereihte Düften: Die Flieder im Hof bei Madonna dell’Orto, die Blumensträuße aus Lilien des Tals, die von einem alten Mann aus Mazzorbo reingebracht wurden, der sie jedes Jahr auf den Stufen der Jesuitenkirche verkaufte … und der Geruch von frischem Schweiss auf frisch geduschten Körpern, die sich auf den jetzt-überfüllten Vaporetto-Booten zusammenrückten, eine willkommene Abwechslung zum muffigen Gestank von zu oft getragenen Jacken und Mänteln, und zu lange ungewaschenen Pullovern.” Anstelle der raren Erfahren von Marcels die Sinne reizenden Madeleines trifft Brunetti immer auf seine Lieblingsgericht – die ersten Krabben des Jahres, ein Teller Fusilli-Pasta mit frischem Thunfisch, Kapern und Zwiebeln. Wenn er nach einem langen Tag voller anstrengender Nachforschungen nach Hause kommt, hat ihm seine Frau eine Portion mit Wachteln, Erbsen, und gerösteten Jungkartoffeln übrig gelassen. Und er denkt dankbar nach: “Die Frau macht zwar Ärger, aber sie kann kochen. ”
Doch Venedig ist bedroht. Bestechung, Korruption, und das Festhalten an alte, patriarchale Hierarchien zäunen die Venezianer an allen Seiten ein. Beamte erpressen Bestechungsgelder von Kasinobesitzern, die damit wiederum Steuerzahlungen vermeiden; pädophile Priester werden heimlich von einer Kirchengemeinde zur nächsten versetzt. Brunetti selbst hat aber einen sozialen Aufstieg erfahren, dank seiner glücklichen Fügung der Heirat mit Paola, der Tochter eines Conte und einer Contessa. Doch sogar nach zwanzig Jahren akzeptieren seine Schwiegereltern ihn nur widerwillig und allmählich im Kreis der Familie, und sein Chef ist neidisch darauf, “dass Brunetti, dank seiner Heirat, in den Adelsstand geschlittert ist.”

Neben seinen inneren Bedrohungen wird Venedig gerade von einer äußeren Bedrohung überwältigt, die in die Stadt wie die Pest in Boccaccios Florenz überschwappt. Der Tourismus ist die moderne Pest. Zu Beginn gehen Brunetti und ein Kollege gerade zu einer historischen Bibliothek, aus der seltene Bücher gestohlen worden waren. Plötzlich halten sie an sich, und schnappen nach Luft: “ihre menschliche Reaktion auf das Außerweltliche und das Unmögliche. Vor ihnen lag das Hinterschiff eines der neuesten, größten Kreuzfahrtschiffe. Sein gigantisches Hinterteil starrte sie plump an, und forderte sie zu einer Antwort heraus.”

Aus einem von Leon mit “Tourists” betiteltem Essay,

„Sie haben, zu unzähligen Millionen, den Stoff des Lebens effektiv zerstört, die die Bewohner der Stadt für tausende Jahre kannten, haben das Leben für die Bewohner unerträglich für viele Phasen im Jahr gemacht, haben Shops wuchern lassen, die Masken, Plastik-Gondolas, gefärbtes Papier, zerschnittenes Papier, vulgäre Narrenhüten, und Eiscreme verkaufen; all dies, außer das Letztere, was die Einwohner nicht wollen, und keiner auf dem Planeten braucht.“

Die inneren und äußeren Bedrohungen verstärken einander, da die lokalen Behörden aus der Zerstörung ihrer Stadt finanzielle Vorteile ziehen. Ökologische Probleme werden in Leons zuletzt erschienen Romanen immer stärker thematisiert, und sie treten sogar bei der Beschreibung einer Figur zum Vorschein: “Groß und dünn, sah sie auf den ersten Blick wie eine dieser dünnen Watvögel aus, wie es sie einst häufig in der Laguna gab. Wie sie war ihr Kopf silber-grau … Wie diese Vögel hatte sie breite schwarze Füße am Ende dieser langen Beine.” Die humorvolle Beschreibung wird vom Unterton des Verlustes überschattet, den Watvögeln, die einst so häufig gesehen wurden.

In Tod zwischen den Zeilen fokussiert Leon diese Probleme auf den Schaden, der zuvor historischen Buckdrucken in der Biblioteca Merula zugefügt wurde, ein fiktionaler Schauplatz, der wahrscheinlich auf der realen Biblioteca Querini basiert.

Quelle: http://www.querinistampalia.org/ita/home_page.php


Jemand hat Illustrationen aus alten Büchern gerissen – ein Prozess, den Brunetti mit der Vergewaltigung vergleicht. Ein seltener Druck der Delle Navigationi et Viaggi wurde besonders schwer beschädigt, der in sechs Teilen in den 1550s von Giovanni Battista Ramusio gedruckt wurde, “dem bedeutendsten Drucker in der bedeutendsten Druckstadt.” Ramusios Buch enthielt die erste kritische Ausgabe von Marco Polos Die Wunder der Welt, zusammen mit einer grossen Sammlung von Reiseberichten von Venezianern über ihre Reisen nach Nord-, Mittel- und Südamerika.

Es zeigt sich, dass der Verbrecher interne und externe Bedrohungen vereint: Er ist ein Italiener mit gefälschten Papieren, der vorgibt, ein amerikanischer Wissenschaftler zu sein. Bei einem Gespräch über das Verbrechen – und über einen Mord, der fast en passant Erwähnung findet – bemerkt Brunetti Paola, dass: “Wenn man all diese Bücher zerstört, dann zerstört man die Erinnerung” – und zitiert dabei Ray Bradburys Fahrenheit 451, obwohl er, ironischerweise, sich nicht an den tatsächlichen Namen des Buches oder seines Autors erinnern kann. Paola fügt hinzu: “Und Kultur, und Ethik, und Vielfalt, und jedes Argument das dem, was man gewählt hat zu denken, entgegen steht.” Paola ist Professorin, eine Expertin für Henry James, und das Cover der englischsprachigen Ausgabe By Its Cover selbst ist das Portrait of a Lady einer amerikanischen Frau, in dem das alte und neue Italien, lokal verwurzelte und ausländische Figuren, Unschuld und Korruption, eng verwoben sind.

Donna Leons Bücher tragen, ironischerweise, passenderweise genau zu den Problemen bei, die sie in ihren Büchern seziert, da ihre Leserschaft in Heerscharen nach Venedig schwärmen, um Brunettis Wohnhaus und das Viertel zu sehen, wo er arbeitet – oder, wo er arbeiten würde, wenn er denn tatsächlich existierte. Seine eigene Leserschaft zu einer der Touren hinführend, die für diesen Zweck geschaffen wurden, hinführend, informiert der Lonely Planet: “Wenn Sie ein Fan von Donna Leon und ihren Krimiromanen mit Commissario Brunetti in Venice sind, werden sie diese Tour mit einem eigenen Guide, der oder die Sie durch die repräsentativsten und faszinierendsten Seiten der Serie führt und entdecken lässt, lieben.”

Dieses “Falsch” zu be-richtig-en liegt wahrscheinlich außerhalb der Macht des Commissario, aber ein auswärtiger Besucher kommt hierbei zum Assistieren: COVID-19. Am selbten Tag, als ich diesen Blogpost verfasse, macht die The New York Times mit einem Artikel über Venedig auf. Dessen Titel? “Stellen Sie sich Venedig wieder voller Leben vor, aber Nicht mit Touristen, sondern Italienern: Eine post-pandemische Vision davon, Was sein könnte.”

Meine Worte.

https://www.veneziatoday.it/politica/grandi-navi-via-laguna-venezia-interventi-politici.html

Anmerkung der Übersetzerin: Es dürfen neuerdings keine Kreuzfahrtsdampfer mehr im historischen Hafen anlegen, sondern nur noch im Industriehafen.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-4-donna-leon-its-cover

Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

Die Deutsche Ausgabe des 23. Falles von Donna Leon ist übrigens hier erschienen: Tod zwischen den Zeilen. Commissario Brunettis dreiundzwanzigster Fall. Diogenes, Zürich.

3. Juni: Giovanni Boccaccio, “Das Dekameron”

Hervorgehoben

3. Juni 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Im Jahr 1348 arbeitete Giovanni Boccaccio (wenn er denn musste) gerade als Steuergutachter in Florenz,  in dem er in die Juristerei abgedriftet war, und nachdem er den Beruf seines Vaters, das Bankwesen, aufgegeben hatte. Seine echte Leidenschaft war das Schreiben, und er machte sich einen Ruf als Dichter und Verfasser von prosaischen Romanzen, insbesondere Fiammetta (1343), der als der erste psychologische Roman galt, und der auf seiner Romanze mit einer verheirateten neapolitanischen Adeligen basiert. Geschrieben in der 1. Person nach der Ende der Affäre, versucht Fiammetta, einen Sinn in ihrer Verliebtheit mit Florentine zu finden. Genau in diesem Jahr 1348, im Altern von 35 Jahren – Dantes Alter im Jahr 1300, als die Göttliche Komödie spielt – befand sich Boccaccio inmitten seines Lebensweges, bereit für etwas Neues.

Dann kam der Schwarze Tod nach Florenz. Die Pest tötete drei Viertel der Stadtbewohner, auch Boccaccios Stiefmutter, und sein Vater starb im nächsten Jahr. Boccaccio begann die Arbeit am Dekameron, an dem er von 1349 bis 1352 arbeitete. Zusammen mit Daniel Defoes Die Pest zu London (Journal of the Plague Year) und Albert Camus’ Die Pest (La Peste), wird Boccaccios Meisterwerk regelmäßig dann referiert, wenn die Menschen sich einen Sinn darauf zusammenreimen, wenn die Welt Kopf steht – ein Thema, das ebenfalls eine eigene prämoderne Geschichte besitzt.

Boccaccio begann sein Buch mit einem erschütternden Bericht über die Pest, mit vielen Details, die aus der heutigen The New York Times entstammen könnten. Zwischen März und Juli, so Boccaccio, starben 100.000 Menschen in Florenz – derselben Anzahl an Toten in den USA zwischen diesem März und Mai. Die Pest verbreitete sich oftmals asymptomatisch. Die Leute versuchten vergeblich, soziale Distanz zu praktizieren, und die Leichen türmten sich in den Straßen. Ärzte trugen Schutzmasken, mit langen Nasen, gefüllt mit medizinischen Kräutern. Deren Masken lebten danach in Venedig weiter, und wurden beliebte Verkleidungen für den Carnevale.

Während der Pest wendeten sich viele Florentiner dem Gebet zu, einige praktizierten Selbst-Isolation, wieder andere ließen alle Vorsicht außer Acht, und behaupteten dass, “der einzige Schutz gegen das Böse heftiges Saufen, und das Leben in vollen Zügen geniessen … das Ganze als großen Witz abzutun” sei. Die Stadt verschloss ihre Tore vor Besuchern, aber die Pest verbreitet sich weiter wie ein Lauffeuer, dass binnen kurzer Zeit “jeglicher Respekt vor den Gesetzen Gottes und den menschengemachten zusammengebrochen und ausgelöscht in unserer Stadt war.”

Damals wie heute gelang vielen reichen Bürger die Flucht aus der Stadt: “Einige insistierten kaltschnäuzig, dass es keine bessere oder effizientere Medizin gegen die Pest gab, als vor ihr wegzulaufen. Überredet von diesem Gedankengang, und keinen Gedanken an niemanden als sich selbst verschwendend, ließ eine Vielzahl von Männern und Frauen ihre Stadt im Stich.” Die Armen jedoch konnten nirgendwohin flüchten “Eingepfercht in ihren Stadtteilen erkrankten sie zu Tausenden, und, da sie niemanden hatten, der ihnen half oder sich um sie kümmerte, verschieden sie unvermeidlich, fast ausnahmslos.”

Quelle: Burying plague victims (from a manuscript, c.1350)

Bewegende Worte; aber auf welcher Seite steht Boccaccio? Seine sieben Adelsmänner und drei Adelsfrauen treten die kaltherzige Flucht an, und lassen ihre Stadt zurück, um zu einem Landsitz zu flüchten. Dem heutigen Rhythmus von zweiwöchigen Quarantänen merkwürdig gleichend, bleiben sie dort für vierzehn Tage, essen, trinken, erzählen sich Geschichten, bevor sie den Entschluss fassen, dass es nun an der Zeit wäre, zurückzukehren. Die Pest hätte sich bis dahin bereits abgeschwächt, aber ihr eigentliches Motiv für die Rückkehr ist die Angst, dass das Geschwätz der Leute überhand nähme, wenn sie länger wegblieben: Die Leute in der Stadt werden sich fragen, was sieben junge Schönheiten mit den drei Mannsbildern in ihrem luxuriösen Refugium wohl treiben würden.

John William Waterhouse: A Tale from the Decameron, 1916. Lady Lever Art Gallery, Liverpool, England.

Boccaccio zählt für den verwirrenden Wechsel von Tragödie zu Komödie, indem er den Beginn von Dantes Commedia echoet, in dem Dante sich in einem dunklen Wald am Fuße eines steilen Hügels verloren fühlt. Obwohl seine Geschichte mit “der schmerzhaften Erinnerung an die todbringendes Verwüstung, heimgesucht von der neuen Pest”, beginnt, so Boccaccio, würde, was folgt, “kein Schwall von Tränen und Leiden” werden. Er versicherte den “redlichsten Damen”, die seine Leserinnen warden würden: “Sie werden diesen schwermütigen Beginn nicht anders erleben, als Wanderer vor einem steilen und holprigen Hügel, hinter dem sich eine wunderschöne und erquickliche Ebene erstreckt.”, und fügt hinzu: “Glauben Sie mir, wenn ich Sie auf einen anderen Weg hätte mitnehmen können, als auf diesem schwierigen, hätte ich das gerne getan.”

Diese Zeilen klingen an Dante an, aber Boccaccios Pfade führen zu einem deutlich irdischen Paradies, und Gott selbst wird sogar für fleischliche Zwecke angerufen. In einer Novelle (Tag 3, Novelle 3) besticht eine kluge Frau einen Mönch dazu, unwissentlich als Verbindungsmann mit ihrem Liebhaber zu fungieren. Einander genießend, “in Begleitung von vielerlei urkomischen Kommentaren über die Naïveté des einfältigen Mönches”, liebt sich das Paar, bis “sie fast an Glückseligkeit sterben.” Die wunderschöne Filomena, die diese liederliche Geschichte gerade rezitiert, schließt fromm: “Ich bete zu Gott dass, in der Fülle seines Erbarmens, dass Er mich mit anderen christlichen Seelen, bald einem ähnlichen Schicksal zuführen möge.” Gemäß Judith Powers Serafini-Sauli hat Boccaccio die Göttliche Komödie mit seinem zutiefst menschlichen Lustspiel ersetzt.

Boccaccio beschließt seine gewaltige Zusammenstellung mit einem Epilog, in dem er ironische Repliken zu den literarischen oder moralischen Einwürfe gibt, die zu seinen Novellen aufgeworfen werden könnten. Er beteuert, dass nichts Unanständiges in der Verwendung von “Loch, und Rute, und Reibeschale, und Stössel, and Schnecke, and Stopfbuchse” läge, und er merkt an, dass in nüchternen Kirchenchroniken weitaus skandalösere Geschichten gefunden werden könnten. Weiterhin sage er doch nur die Wahrheit über menschliches Gebaren, und er werde beschuldigt, “weil ich an manchen Stellen die Wahrheit über die Mönche schreibe. Aber wen juckts?” Er habe nichts dagegen, als Schreiber in die Ecke von leichten, albernen Geschichtchen gedrängt zu werden: “Ich versichere denjenigen Damen, die mich noch nie gewogen  haben, dass ich wenig Schwere besitze. Im Gegenteil, ich bin so leicht, dass ich an der Oberfläche des Wassers schwimme.”

Was sicherlich nicht der ganzen Wahrheit entspricht. Nach achthundert Seiten, gewidmet Lügnern und Tricksern, sollten wir es besser wissen, als dem Autor selbst zu glauben,wenn er jeglichen ernsthafte Absicht verneint, nicht mehr als wenn er sagt, dass er nicht umhin konnte, seine Sammlung mit den Schrecken der Pest einzuführen. Tatsächlich sind diese beiden Dimensionen tief miteinander verwoben.

In seinem Vorwort beteuert Boccaccio, dass er lange am Fieber der Liebe gelitten hatte “dessen Wärme alles andere übertraf, und das allem Druck aus guter Absicht, hilfreichen Ratschlägen, und dem Gefahrenrisiko und öffentlichen Skandal standhaft und unnachgiebig widerstand.” Aber er habe sich schließlich von seiner Krankheit erholt, “und das, was einst eine Quelle des Schmerzes war, wurde nun, da alles Ungemach abgeworfen wurde, ein beständiger Quell der Freude.” Er besitzt nun seine Antikörper, anders gesagt. Er kann nun neuen Leidenden beistehen, und sie verstehen helfen “was vermieden werden soll, und, was verfolgt werden soll.” Gespräch hat sein Leben gerettet:

“wenn es irgendjemanden gab, der Trost benötigt oder geschätzt hätte, oder tatsächlich Freude daraus gezogen hätte, dann war ich diese Person … in meiner Seelenpein habe ich bisweilen viel Erleichterung aus gefälligen Gesprächen und von Freunden angebotenen, bewundernswerten Beleidsbezeugungen gezogen, ohne die ich fest davon überzeugt war, dass ich hätte vom Erdboden verschwinden sollen.”

Der Akt des Wiedererzählens der einhundert Novellen ermöglicht Boccaccio, seine eigenen Verluste zu bewältigen, inklusive seiner ersten Liebe, Fiammetta, die er zur “Königin” am fünften Tag des Dekameron krönt, gewidmet “den Abenteuern der Liebenden, die Misere und Schicksalsschläge überlebten, und einen Zustand des Glücks erreichten.” Der Aufbau der Geschichten unterstreicht gleichsam ihren therapeutischen Effekt: zehn Novellen pro als “10-Tages-Werk”, über die Dauer von zwei Tagen, jede Tagesnovelle einem gemeinsamen Thema verbunden. Bis zu dieser Woche war mir entfallen, dass die Freunde sogar zwei Tage Pause inmitten ihres Marathons nehmen: Wie das so ist mit jeder Sprechkur, oder einem sechzehnwöchigen Blogprojekt; die Schrittgeschwindigkeit zählt. Die einhundert Novellen des Dekameron könnte die erste Durch- und Aufführung einer Gesprächstherapie sein.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-3-giovanni-boccaccio-decameron
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

[Hinweis der Übersetzerin:

Der Schauspieler Matthias Leja vom Schauspiel Stuttgart liest hier das Dekameron zur Quarantäne. Danke für diese atmosphärische Aufnahme.]

2. Juni: Dante, “Die Göttliche Komödie”

Hervorgehoben

2. Juni 2020 von Prof. David Damrosch
Die Identifikation von Städten mit bekannten Schriftstellern wie Charles Dickens, James Joyce oder Orhan Pamuk ist keine genuine Erfindung der Moderne. Der “Dichter der Nation” war eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts, und der Star-Autor wurde sein zeitgenössischer Erbe. Doch schon so früh, wie im Jahr 1456, erschuf der florentinische Maler Domenico di Michelino sein Fresko La commedia illumina Firenze, übersetzt “Die Commedia erleuchtet Florenz”,  im Deutschen jedoch “Dante und die drei Reiche”  –        

Quelle: Dom Santa Maria del Fiore, Florenz

Das Fresko zeigt Dante, wie er seine Dichtkunst der Stadt offeriert, indem er ihre Bürger über das unsichtbare Inferno, das die Verdammten erwartet, und über den Aufgang hochwärts zum Fegefeuer aufklärt, dass die guten Bürger von Florenz bis in den Himmel leiten wird. Aber sein Titel kann auch in den Kontext einer Manuskripten-Kultur eingeordnet werden, die noch nicht von den bewegten Lettern verdrängt wurde, die gerade zuvor von Johannes Gutenberg vor einem halben Dutzend Jahren zuvor erfunden wurde. Domenicos Titel dreht die gewöhnliche Beziehung zwischen Text und Illustration um; eher als ein aufgeklärtes Manuskript, ausgestattet mit Szenen, die die Geschichte bebildern, wird Dantes grosse Dichtung zur Erleuchtung seiner Stadt, und macht sie für die ganze Welt sichtbar. Domenicos Kunstwerk schmeichelt zudem seinen Bewohnern von Florenz, da wir von links nach rechts die Bilder der Hölle sehen, Fegefeuer, und … dann Florenz selbst, das für die ganze Welt wie ein göttliches Jerusalem aussieht.

Erleuchtung, wie Aufklärung, sind visuelle wie spirituelle Prozesse, und, wie Dr. Dimmi ine in einem Kommentar über das gestrige Marco-Polo-Posting aufzeigte, hatte das Schreiben über das Reisen stets eine inhärent primär visuelle Dimension inne gehabt. Dantes weltweiter Einfluss hatte viel damit mit seiner außergewöhnlichen Fähigkeit zu tun, dem Leser die Stadt der Unterwelt der Hölle sichtbar und “sehbar” zu machen, dann den Aufgang zum Berg des Fegefeuers, und schließlich zum göttlichen Paradies. Dantes Visualisierung der Hölle ist zentral von Dante’s Inferno – dem Videospiel:

Quelle: https://www.ea.com/de-de/games/dantes-inferno

Der Spielehersteller Electronic Arts hat die Grafik Wayne Barlowe in Auftrag gegeben, einem Autoren und Grafiker, der für seine Dantesque Fantasie Barlowe’s Inferno (1999) bekannt wurde. Einer der Fans von sowohl von Dante wie auch Barlowe kommentierte über diese fruchtbare Verbindung auf einer Webseite des Spieleherstellers:

“Die Detailtreue ist echt einfach fantastisch. Die Wände sind aus gefangenen Sündern aufgebaut, Minos verkündet die Urteile im Hintergrund, je näher man sich annähert; die Schreie der Sünder, ein Mann ruft nach Odysseus aus dem Inneren von Charons Boot, der detaillierte Hintergrund mit einem gigantischen Totenkopf, der die Körper der Verdammten zu Beginn ausspuckt. Es wurde einfach in Gross, noch mehr aufgezogen, und derjenige, der jemals Dante gelesen hat, und nun die Übersetzung seiner Hölle auf den Bildschirm erleben darf … der wird von diesem Videospiel NICHT enttäuscht werden.”

Genau so bedeutend wie Dantes visuelle Vorstellungskraft ist die Klanglandschaft seiner endlos widerhallenden Verse. Dante kreierte ein revolutionäres, neuartiges Italienisch, und verbindet nahtlos die bodenständige Sprache mit der transzendent-theologischen Einsicht. Er entwickelte das Projekt, ein literarisches Italienisch zu erschaffen in seiner Abhandlung – die auf Latein geschrieben war – De vulgari eloquentia, wahrscheinlich zwischen 1302 und 1305 konzeptioniert, kurz nachdem er ins Exil geschickt wurde, nach der Niederlage der Partei der Weißen Guelfen, der er angehörte, inmitten jahrzehntelangen Konflikts in Florenz. In De vulgari plädiert er dafür, Italienisch dieselbe Würde und Ansehen wie Latein zu verleihen. Dies stellt eine Herausforderung dar, nicht nur wegen der Gewöhnlichkeit der “vulgären” Sprache, sondern weil “das Italienisch” noch gar nicht existierte. Stattdessen gab es eine Fülle von verschiedenen Mundarten – Dante nennt vierzehn, keine davon frei von Mängeln für das Ohr eines Dichters. Er behauptet beispielsweise, dass, wenn Genua die Fähigkeit verlöre, den Buchstaben z zu benutzen, würden sie nicht mehr sprechen können, weil “z einen Grossteil ihrer Mundart formt, und es ist natürlich ein Buchstabe, dessen Laut nicht ohne beträchtliche Härte geformt werden kann.”

Dante betrachtet jedoch seinen eigene toskanische Mundart nicht als höherwertig zu den anderen Dialekten. Obwohl er verkündet: “Ich liebe Florenz so sehr, dass ich, weil ich sie liebte, ich ungerecht am Exil leide”, betont er, dass seine Mit-Toskaner “durch ihre eigenen Irrweg verwirrt wurden”, im Glauben, dass der ihrige der eleganteste Dialekt sei. Die Toskaner sind ganz hervorragend darin, so sagt der, einzig darin, “die berüchtigtsten Opfer dieser geistlichen Vergiftung zu sein.”

Dantes eigene Dichtkunst wird diese visuelle Göttlichkeit erschaffen, nach der er strebt. Die beste Art und Weise, die Kraft seiner Verse zu schätzen, ist es, sie sich einfach anzuhören. Hier ist eine Darbietung des ersten Canto des Inferno, rezitiert vom Schauspielers Roberto Benigni, praktischerweise in einer Version mit sowohl italienischen als auch englischen Untertiteln:

Hier möchte ich nur ein Beispiel von Dantes außergewöhnlichem Talent hinzufügen, eine tiefgründige Gefühlswelt in einer Sprache von erhabener Klarheit zu transportieren. Am Ende vom Purgatorio, Fegefeuer, kann Virgil Dante nicht weiterführen, da der Eingang ins Himmelreich selbst den tugendhaftesten Heiden verwehrt bleibt. Jetzt ist es an Dantes früh verlorener, junger Liebe Beatrice, ihn ins Paradies zu bringen. Sobald sie erscheint, in all ihrer Glorie am Gipfel des Berges des Fegefeuers, wird Dante vom Wiederentflammen seiner Liebe für sie überwältigt. Er wendet sich zum Trost an Virgil, aber dieser ist verschwunden:

 volsimi a la sinistra col respitto              Ich drehte mich um und zu meiner Linken—just wie

 col quale il fantolin corre a la mamma     ein kleines Kind zu seiner Mama eilt

quando ha paura o quando elli è afflitto    wenn es ängstlich oder betrüblich ist.  

Ich bezweifle, dass je ein Poet vor Dante solche heimeligen Ausdrücke – “fantolin” und insbesondere “mamma” – mit solch ernsthafter Kraft verwenden könnte.

Mit dem Verlust von Virgil, wie er schon Florenz verloren hat, wird Dante seine verlorene Liebe Beatrice zurückgewinnen, mit neuen spirituellen Begrifflichkeiten. Und in neuen poetischen Begrifflichkeiten wird er nun die großartigste aller Antworten zu Virgils Aeneid verfassen, das die gesamte klassizistische Tradition und ihre Wiederfindung in seiner Zeit vereinigt. In einer passend zeitgenössischen Inferno-Interpretation porträtiert der britische Künstler Tom Phillips die Hölle als eine Landschaft aus brennenden Büchern:

Quelle: http://www.tomphillips.co.uk/works/artists-books/item/5287-dantes-inferno

Phillips’ Illustrationen schließt Dante bekannte Werke ein, aber auch spätere, die Phillips selbst wichtig sind; es gibt sogar eine Referenz auf Citizen Kane. Durch die Lektüre von Dante können wir alle in uns selbst lesen, genau in der Art und Weise, wie er es mit Vergil tat. Dante bevölkerte das Inferno mit Figuren aus der klassischen Antike, und mit vielen seiner ehemaligen Freunde und Feinde. Aber die Commedia dreht sich nicht gänzlich nur um ihn. Wie Dante uns auf seinen ersten Zeilen sagt, er habe seinen Weg verloren, “Nel mezzo del cammin di nostra vita” – inmitten unseres Lebensweges. Seine hundert Lieder offerieren uns eine Galerie von abschreckenden Beispielen und hoffnungsvollen Geschichten, Orientierungshilfen, aus denen wir unsere eigenen Lebenswege kartografieren können.

Unter den ersten und großartigsten der Vielzahl an Schrifstellern, die inspiriert wurden, in Dantes Fusstapfen nachfolgten, war sein Gefährte Florentine Giovanni Boccaccio (1313-1375), der das einflussreiches Leben von Dante verfasste, nicht lange nachdem er seinen Dekameron fertiggestellt hatte, in dem er der italienischen Prosa die Bandbreite und Tiefe gab, die Dante zuvor der Verslyrik gegeben hatte. Wie wir morgen sehen werden, repräsentiert Dekameron mit seinen hundert Novellen Boccaccios eigene Antwort auf einer Welt in Aufruhr, nun zusätzlich mit der Pest zu politischer Aufruhr – eine Mischung, die einen Nerv trifft, als ich diesen Eintrag am heutigen Tag in New York verfasse.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-2-dante-divine-comedy
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.
Hier finden Sie ein italienisch-deutsches Wörterbuch der Göttlichen Komödie der Universität Augsburg:
http://www.hs-augsburg.de/~harsch/italica/Cronologia/secolo14/Dante/dan_lexikon.html

1. Juni: Marco Polo: „Die Wunder der Welt“

Hervorgehoben

1. Juni 2020, von Prof. David Damrosch

Auf den fortgeschritteneren Seiten von A la recherche du temps perdu geht Prousts Marcel zu einer Party in Guermantes’ Haus, und brütet dabei über die vielfachen Verluste in seinem Leben, und seine Unfähigkeit zu schreiben. Beim Überqueren von Guermantes’ Hofplatz stolpert er über ein paar unebene Pflastersteine, und plötzlich verändert sich seine Stimmung:

„Just in diesem Augenblick, genauso wie, als ich die Madeleine schmeckte, schwanden alle Ängste über die Zukunft, alle intellektuellen Zweifel hatten sich aufgelöst, und so wurden diejenigen, die gerade vor wenigen Sekunden die Gegebenheit meines literarischen Talents bezweifelt hatten, die Realität sogar der Literatur, wie von Zauber beseitigt.“

Er erkennt, dass die Pflastersteine eine unwillkürliche Erinnerung an seine Freude herbeigeführt haben, die er beim Besuch der Markusdoms in Venedig verspürt hat. In diesem Augenblick verknüpft er diese Wiederentdeckung der vergangen Zeit mit seiner früheren Erfahrung mit der Madeleine, und endlich erkennt er seinen Weg zur Konstruktion seines großartigen “Kathedralen-Romans”.

Wie der junge Marcel träumte ich jahrelang davon, Venedig zu besuchen, inspiriert sowohl von seiner Architektur, als auch von den schriftstellerischen Darstellungen von Giacomo Casanova zu John Ruskin zu Proust. Kurz bevor ich endlich nach Venedig kam, habe ich die Recherche unterrichtet, und, als ich über die unebenen Pflastersteine zum Baptisterium ging, bekam ich tatsächlich selbst eine unwillkürliche Erinnerung: eine lebhafte Erinnerung zurück beim Lesen dieser Passage bei Proust.

Venedig war eines der größten Reiseziele der Welt für literarische und künstlerische Reisende, und die Venezianer selbst waren schon immer große Weltreisende. Keiner war einflussreicher als der Kaufmann Marco Polo (1254-1324), dessen Reisebeschreibungen Christopher Columbus inspirierten, eine Route westwärts nach Asien zu suchen; eine Schrift von Polos Buch trug er auf seiner epochalen Reise 1492 bei sich.

Fakt und Fiktion vermischen sich in Polos Reisebeschreibungen. Er war mit seinem Vater und Onkel über die Seidenstraßen-Route nach Asien gereist, hatte seine Reisen für viele Jahre verlängert, und arbeitete im Dienst für Kublai Khan, dem mongolischen Herrscher von China. Bei seiner Rückkehr nach Venedig, endlich im Jahr 1295, brachte er zwar wenige materielle Reichtümer mit, aber einen Fundus an Geschichten. Diese Geschichten hätte er bestimmt mit ins Grab genommen, wenn er nicht 1298 mitten zwischen einen Konflikt zwischen Venedig und Genua geriet, und ins Genuaer Gefängnis geworfen wurde. Dort traf er auf den Schriftsteller Rustichello da Pisa. Rustichello hatte ein Gespür für gute Geschichten, und überredete Polo, seine Memoiren zu diktieren. Rustichello schrieb sein Buch auf Altfranzösisch, Livre des merveilles du monde (Book of the Marvels of the World), [auf Deutsch Die Wunder der Welt, eine Übersetzung aus dem Altfranzösischen von Elise Guignard ist im Insel-Verlag erschienen]. Das Buch zog als Manuskript weite Kreise – der Buchdruck würde erst 150 Jahre später erfunden werden – und wurde bereits 1302 ins Lateinische übersetzt. Auf dieser Titelillustration eines Manuskripts aus dem 15. Jahrhundert sehen wir den Beginn der Schiffsreise aus Venedig, genau vor dem Dogenpalast und Markusdom:

Lebhaft sehen sie aus, die Pferde, die oben links vom Balkon herausblicken; das sind die goldenen Pferdestatuen, die die Venezianer von Konstantinopel im Jahr 1204 mitgenommen hatten.

Polos Buch begann bald, Kartenzeichner zu prägen. Eine bedeutende katalanische Karte aus dem Jahr 1375 zeigt Polo mit seiner Reisebegleitung en route nach China:

Rustichello schmückte Polos Erzählungen mit einigen romantischen Episoden von sich selbst aus, aber sogar außerhalb von Rustichellos Beifügungen ist Polos Bericht eine bemerkenswerte Mischung aus umsichtiger Beobachtung aus erster Hand, Legenden, und purer Projektion, wenn er beispielsweise beteuert, dass, auf ihrer ersten Reise nach China, sein Vater und Onkel Kublai Khan als “begierigst” darauf vorgefunden hatten, zum Christentum bekehrt zu werden. Hierin können wir bereits ein Leitthema des aufkommenden Genres der imperialen Eroberungsliteratur erkennen: die klügsten Einwohner sind begierig darauf, dass die Europäer ankommen und ihnen den Weg zur Wahrheit weisen. Gleichzeitig jedoch erinnert sich Polo an Khans schroffe Ablehnung einer Einladung: “Aus welchem Grunde wünschen Sie, dass ich ein Christ werden sollte?”, fragt Kublai Polos Vater. “Wissen Sie, die Christen, die in diesen Gebieten leben, sind so ignorant, dass sie nichts erreichen, und machtlos sind.”

Mit dem Gespür eines Händlers interessiert sich Polo für den Salzhandel, und so erfährt der Leser den Preis für Enten und Gänse in der chinesischen Hauptstadt (ein Schnäppchen, umgerechnet sechs Stück zum Wert einer venezianischen Ziege). Aber man hört auch von Kashmiri-Zauberern, die Weinflakone durch die Luft von einem Tischbuffet in die Hände des Herrschers zauberten. Wenn die schwebenden Trinkgefäße es bis nach Hogwarts geschafft haben, dann deshalb, weil J. K. Rowling, als eine von zahlreichen Schriftstellern, Polos Reisebeschreibungen jahrelang durchforstet haben. Samuel Taylor Coleridge hatte Polos Bericht noch früher als die Basis für seine romantische Fantasie von Xanadu hergenommen. Beim Betrachten von Kubla Khans stattlichem Lustpalast, das der Dichter hoffnungsvoll als Luftschloss rekreiert, wird das Publikum aufschreien:

Vorsicht! Vorsicht!

Seine flunkelnden Augen, sein fließendes Haar!

Ziehe einen dreimaligen Kreis um ihn,

Und schliesse deine Augen mit heiliger Furcht,

Da er sich von Honigtau nährte,

Und die Milch des Paradieses trank
.
“Die Milch des Paradieses” ist ein transzendentales Bild von Seiten des Dichters, vielleicht als Metapher für die dichterische Vorstellungskraft per se, aber sie entstammt einer ethnographischen Tatsache: Marco Polo beschreibt ein jährlich stattfindendes Ritual in Xanadu, bei dem sie, als Gabe an die Geister, Milch in die Winde verstreuten, um die Erde und ihre Saat zu beschützen. An einer anderen Stelle nennt Polo die Hauptstadt Kin-sai eine himmlische Stadt, obwohl er sich hier nicht auf ihre spirituellen Eigenschaften, sondern auf ihre zahlreichen Kurtisanen bezieht, die “höchst bewandert und äußerst versiert in Betörungen und in ihren Liebkosungen sind, mit Worten passend und adaptiert auf jeder Art von Person, so dass ausländische Gäste, die sie genossen haben, äußerst neben sich verbleiben, und so gefangen von ihrer Anmut und ihrem Charme sind, dass sie sie niemals vergessen können.” Unwillkürliche Erinnerungen blicken in Venedig auf eine lange Tradition zurück.

Die meisten exotischsten Reisen werden nur zum Leben erweckt, wenn sie auf materieller Realität fussen: Paradies wird nicht mit noch-nie-von-gehörten Elixieren, sondern mit Milch am besten aufgegriffen. Diese Regel hat Marco Polos florentinischer Zeitgenosse Dante Alighieri vollstens verstanden, und Dante verwurzelte seine außerweltlichen Allegorien in einer zutiefst geerdeten Physikalität. Gleichzeitig werden die faktenbasierten Beobachtungen in der Reiseliteratur immer durch das Vorstellungsvermögen des Reisenden gefiltert, fundiert auf den fantasievollen Berichten, die bereits bekannt sind. Proust wurde mit John Ruskins The Stones of Venice (Die Steine von Venedig) durch Venedig geleitet, Dante wird mit dem Inferno von seinem grossen Vorgänger Virgil geführt, dessen eigener Bericht der Unterwelt auf seinem eigenen Meister Homer basiert. Indem wir diese Woche von Venedig nach Florenz und zurück reisen – bevor wir Italien rein gedanklich via dem Aeroporto di Venezia-Marco Polo verlassen – werden wir sehen, wie unsichtbare Städt sichtbar werden, und wie sichtbare Städte zu sakral erbauten Kathedralen-Romanen werden, Schauplätze für Kriminalgeschichten, oder, wie in Dantes Fall, die sinnlichste aller Himmelsvisionen.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/june-1-marco-polo-travels
Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

29. Mai: Olga Tokarczuk, „Unrast“

Hervorgehoben

29. Mai 2020, von Prof. David Damrosch

Polen ist, bemerkenswerterweise, die Heimat von nicht weniger als sechs Preisträgern des Nobelpreises für Literatur. Es ist kein Zufall, dass vier dieser sechs, beginnend im Jahr 1905 mit dem Preisträger Henryk Sienkiewicz, enge Verbindungen zu der Stadt Kraków (Krakau) besitzen, das lange Zeit als kulturelles Zentrum fungierte, rivalisierend mit und sogar bisweilen Warschau übertreffend. Die 1996 ausgezeichnete Preisträgerin Wisława Szymborska lebte in Kraków vom achten Lebensjahr an bis zu ihrem Tod achtzig Jahre später, und, als Studentin der Jagiellonian Universität, befreundete sie sich mit Czesław Miłosz im Jahr 1945, im demselben Jahr, in dem ihr erstes Gedicht veröffentlicht wurde. Kraków ist nun die Heimat des Polish Book Institute, dessen Manifest sich der Förderung des Literatur und des Lesens in Polen, sowie gleichermaßen der Förderung polnischer Schriftsteller ins Ausland verschrieben hat.

Das Institut hat Übersetzungen für eine Heerschar von Autoren wie Szymborska, Miłosz, Ryszard Kapuściński und viele weitere unterstützt, und hat Jennifer Crofts englischebersetzung von Flights, polnisch Bieguni, gefördert. Das Ergebnis erhielt deren “Found in Translation”-Preis (“entdeckt in der Übersetzung”) 2017, und Flights wurde  im darauffolgenden Jahr mit dem Man Booker Prize in England ausgezeichnet, bald gefolgt 2019 vom Nobelpreis für Tokarczuk (mit dem sie rückwirkend für das Jahr 2018 ausgezeichnet wurde, nachdem die Arbeit der Akademie während der Skandale um sexuelle Belästigungen suspendiert wurde). Infolge des Nobelpreises Tokarczuk standen zweitausend ihrer Leser Schlange für eine Signierstunde bei ihrem Verlagshaus in Kraków Schlange.

Flights ist eine besonders geeignete Wahl für unsere Reise, und ein alternativer geeigneter Buchtitel hierfür wäre Um die Welt in 116 Fragmenten. [Im Deutschen wurde „Bieguni“ von Esther Kinsky im Züricher Kampa Verlag als Unrast übersetzt, Anm. d. Übers.] Die Episoden sind von einem einzigen Satz bis dreißig Seiten lang, viele davon werden von einer Erzählerin in der 1. Person erzählt, die non-stop und scheinbar ziellos, auf Reisen ist. Bereits zu Anfang teilt sie uns mit, dass “ihre Wurzeln schon immer oberflächlich waren … ich weiss nicht, wie das Auskeimen geht. Ich besitze einfach keine pflanzlichen Fähigkeiten.” Ihre Einträge bilden eine Art fragmentiertes Reisetagebuch, mit Betrachtungen über Gepäck, Wi-Fi, und das Gesetzensvakuum des Flughafens. In einem Flughafen sieht sie eine Werbeanzeige, die sie auf Russisch kopiert, und dann für uns übersetzt, “Mobility is reality”, “Mobilität ist Realität”, und kommentiert trocken: “Das ist immer noch nur eine Anzeige für Handys.”

Unsere Erzählerin beschreibt oft zufällige Begegnungen mit den Menschen, auf die sie in Flugzeugen und in Zügen trifft, und wir bekommen einen Einblick in deren chaotisches Leben. Sie ist, wie sie selbst sagt, „hingezogen zu allen Dingen, die verdorben, fehlerhaft, zerbrochen“ sind, und zu “allem, was von der Norm abweicht”. Später bemerkt sie: “Geschichten besitzen eine inhärente Schwerfälligkeit, die niemals unter Kontrolle gebracht werden kann. Sie brauchen Leute wie mich – unsicher, unschlüssig, leicht ablenkbar. Naiv.”

Im Gegensatz zu unserer 80 Bücher umfassenden Reise sind ihre Reisen definitiv keine literarischen Pilgerreisen, wie sie spöttelnd beschreibt: “Wir kennen die doch, die nach Marokko durch Bertoluccis Filme reisen, nach Dublin durch Joyce, nach Tibet durch einen Film über den Dalai Lama. Dieses Phänomen bekam die Bezeichnung von Stendhal-Syndrom, wenn jemand zu einem Ort, bekannt aus der Literatur oder der Kunst, kommt, und ihn als so überwältigend erlebt, dass er einen Schwächeanfall bekommt und in Ohnmacht fällt.” Ihre Reisen sind nichts für schwache Nerven: Sie besucht Museen der Medizingeschichte in der ganzen Welt, wo sie von den Arten fasziniert ist, wie Leichen und Leichenteile konserviert und ausgestellt werden. Im ersten von diesen Museen stellt sie fest: “Jede meiner Pilgerreisen hat einen anderen Pilger zum Ziel. In diesem Falle ist der Pilger zerstückelt, zusammengebrochen.”

Eingestreut in diese Erzählerstimme in der 1. Person enthält das Werk Geschichten in der 3. Person. In einer geht es um die chemische Konservierung (“Plastination”) von Körper- bzw. Leichenteilen. Eine Frau schrieb mehrmals an den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Franz II., im Jahr 1796, und bettelte ihn an, die konservierte Leiches ihres afrikanischen Vaters für die Beisetzung zurückzugeben, den Franz hatte ausstopfen und in seinem Kabinett der Kuriositäten ausstellen lassen – eine wahre Geschichte. Menschen, die von dem vorgegebenen Pfad ihres Lebens abweichen sind wiederkehrendes Thema. Ein Fährschiffer hält das tägliche Hin-und-Zurück zwischen dem Festland und einer Insel nicht mehr aus und auf: Er fährt eine gesamte Passagierladung hinaus aufs Meer, bis ihn die Polizei schließlich zurückbringt. Bei einem Urlaub auf einer Insel in der Adria verlässt eine Frau ihren Ehemann für mehrere Tage, mitsamt ihres Kindes, und kehrt dann mysteriöserweise zurück; unfähig, ihre vagen Erklärungsversuche zu akzeptieren, fällt der Ehemann in eine obsessive Paranoia.

Unrast ist in regelmäßigen Abständen mit Karten ausgestattet, die uns aber nicht orientieren. Eine Beschreibung von der Suche des Ehemannes nach seiner verschwundenen Frau und seines Kindes enthält eine Karte, von der man annehmen könnte, dass sie die Stadt zeigen, die auf der Insel ist:

Tatsächlich zeigt sie einen Ausschnitt einer Karte von Sankt Petersburg aus dem Jahre 1850, und das angrenzende Wasser stellt nicht das Adriatische Meer dar, sondern ist die Neva.

Aber diese in die Irre führenden Konnektoren laden uns ein, die Glieder des Erzählkörpers zusammenzusetzen, da subtile Beziehungen gewebt sind zwischen Geschichte und Fiktion, Mythos und der Realität des Alltags, Männern und Frauen, und zwischen Erzählungen in der 1. und in der 3. Person. Tokarczuk verlieh ihrer Sicht auf die Literatur, und deren gesellschaftlicher Bedeutung, in ihrer Nobelpreisrede eloquent Ausdruck, die sie passenderweise neben einer Körperskulptur hält.

Quelle

Ein Auszug aus ihrer Rede:

“Die Welt ist ein Stoff, den wir täglich weben, auf den großartigen Webstühlen aus Information, Diskussionen, Filmen, Büchern, Klatsch und Tratsch, und kleinen Anekdoten. Die Reichweite dieser Webstühle ist enorm – dank des Internets kann fast jede(r) an und in diesem Prozess teilnehmen, Verantwortung übernehmen oder den Rückzug antreten, liebevoll oder hasserfüllt, mit allen Vor- und Nachteilen im Guten wie im Schlechten. Wenn sich die Geschichte verändert, so verändert sich die Welt. In diesem Sinne besteht die Welt aus Worten.”

Tyrannen und Diktatoren war schon immer gewahr, dass “derjenige, der eine Geschichte besitzt und webt, das Sagen hat”. Tokarczuk webt “counter-narratives”, Gegen-Geschichten, die sich nicht einfach entwirren lassen. Im Laufe des Romans erkennen wir, dass die Menschen, auf die der Narrator trifft, Alter egos des Autors selbst sind. Tokarczuk ist leidenschaftliche Vegetarierin und eine Verfechterin der Tierrechte, aber sie ist noch nicht so weit gegangen wie eine wütende Frau, auf die die Erzählerin trifft, die ihr Leben dazu verschrieben hat und die Welt dafür bereist, ein “Buch der Schande” über die Misshandlung von Tieren durch Fleischfresser zu verfassen.

Im Zentrum von Unrast steht eine Geschichte, selbst betitelt “Flights”, in der eine Russin, Annushka, nachts wach liegt, erschöpft von der Last, für ihren behinderten Sohn und an Kriegsneurose leidenden Ehemann zu sorgen. “Die Hölle steht rund um die Welt nachts auf”, so beginnt die Episode; “das nächtliche Gehirn ist eine Penelope, die den Stoff der Bedeutung auftrennt, das während des Tages so fleissig gewebt wird.“ Annushka verlässt ihr Zuhause und fährt tagelang in der Moskauer Metro, wird schließlich obdachlos, bevor sie schlussendlich zu ihrem öden Wohnblock zurückkehrt. Es bleibt offen, ob sie zurück hinein geht, oder nicht.

Falls Tokarczuk eine Penelope ist, die ihre zerfaserten Erzählungen immer wieder zusammenknüpft, so ist sie auch ein Odysseus-artige Weltreisende, deren Reisen auf der letzten Karte des Romans gezeigt werden:

Aus Tokarczuks Nobelpreisrede:

“Mein ganzes Leben lang war ich fasziniert von den Systemen von gegenseitigen Verbindungen und Einflüssen, derer wir generell nicht gewahr sind, aber die wir durch Zufall entdecken, und, als überraschende Vorsehungen und Fügungen und des Schicksals, all dieser Brücken, Schraubenmuttern, Schrauben, verschweißte Glieder und Konnektoren, denen ich in Unrast gefolgt bin. Ich bin fasziniert von der Aneinanderreihung von Fakten, und von der Suche nach Ordnung. Im Grunde – und davon bin ich überzeugt – ist der Verstand des Schriftstellers eine synthetische Denkweise, die all die kleinen Teile unablässig sammelt, und versucht, sie wieder aneinander zu haften, um ein universelles Ganzes zu erschaffen.»

In der nächsten Woche reisen wir nach Italien, und erforschen eine Reihe von weltlichen und überweltlichen Reisen. Wir beginnen mit den Reiseaufzeichnungen von Marco Polo, zusammengesetzt in einem Gefängnis von Genua vom Gefängnisinsassen Rustichello of Pisa – eine der produktivsten Zufallsbegegnungen in der Geschichte der Literatur.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard Universität:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-29-olga-tokarczuk-flights
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.
[Deutsche Übersetzung “Bieguni“ von Olga Tokarcuk: Unrast. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Schöffling & Co., Frankfurt/M. 2009, und Kampa Verlag, Zürich 2019.
Hier ist auch Olga Tokarcuks Onlinepräsenz,für unsere polnischsprechenden Leser.]

28. Mai: Czesław Miłosz, Gedichte

Hervorgehoben

28. Mai 2020, von Prof. David Damrosch

Als die Nazi-Armee hastig ihren Rückzug aus Kraków im Januar 1945 vorbereitete, bereiteten sie einen ausführlichen Plan für die Zerstörung der Stadt vor, aber der Diensthabende untergrub im letzten Moment diesen Befehl, und so sieht der alte Stadtkern heute fast genauso wie im 19. Jahrhundert aus.

Diese Eigenschaft der Stadt, gleichzeitig zeitgebunden als auch zeitlos zu sein, passte gut zu Czesław Miłosz, als er sich zum Ende seines langen Lebens in Kraków niederliess. Seine Dichtkunst reflektiert und transzendiert seine persönliche Erfahrung und die Geschichte der Epochen, die er durchlebt hat. Geboren in Litauen (damals im Russischen Zarenreich) im Jahr 1911 begann er 1931, Gedichte zu veröffentlichen, und, 70 Jahre später, veröffentlichte er immer noch bedeutende Gedichte, vor seinem Tod im Alter von 93 Jahren 2004. Seine außergewöhnliche literarische Langlebigkeit wird wahrscheinlich, aus unseren 80 Autoren, lediglich von P. G. Wodehouse ge- und übertroffen – eine Verbindung die nicht gänzlich unpassend ist, da beide Schriftsteller einen Grossteil ihres Schaffens damit verbracht haben, eine verschwundene Welt wiederzuerschaffen.

Aufgewachsen in den schwierigen Zwischenkriegsjahren wurde Miłosz Teil eines Dichterkreises namens “Katastrophisten” in Vilnius. Ähnlich wie Kafka sahen sie (voraus), was kommen würde. Miłosz erinnert sich an sein junges Selbst als “andersartig, Alien … ein Richtender, Beobachter” in “Sechs Vorträge in Versen” [englischer Titel “Six Lectures in Verse”] aus dem Jahr 1985:

“Die Kränklichkeit des Heranwachsenden
Krönt die Kränklichkeit einer Ära,
die nicht gut enden wird.”

Der Mentor der Katastrophisten war ein pessimistischer Philosoph, Marian Zdziechowski (1861-1938), der nach Vilnius nach zwanzig Jahren Lehrtätigkeit an der Krakóws Jagiellonian Universität gezogen war.

In einem späteren Gedicht, “Zdziechowski”, stellt sich Miłosz ihn in diesen vergangenen Jahren vor:

„Hier geht er in den Straßen Krakóws zur Schule
Mit ihm seine Begleiter: Tüll, Samt, Satin
Hochgewachsene, schlanke Frauenkörper umhüllend
die pervertierte Flora der Art Nouveau.
Mit einem Blick streifend und rufend aus dem Innern der Nacht.“

Er erinnert sich an ein Treffen mit Zdziechowski kurz vor seinem Tod im Jahr 1938: “In einer Stadt, von den Bolschewiken durch die polnische Kavallerie erobert, haben Sie gewartet, gewahr, dass das Ende naht. / … Du bist rechtzeitig gestorben, flüsterten deine Gefährten.”

Miłosz selbst wäre fast beim Bombardement von Warschau gestorben, aber nach einem langen Treck südwärts zu Fuss gelang es seiner Frau und ihm, in einem Dorf außerhalb von Krakau Zuflucht zu finden. Nach dem Krieg arbeitete er in Warschau und diente im diplomatischen politischen Dienst, bis das immer mehr repressive kommunistische Regime seiner immer verdächtiger wurde, ob seines “Kosmopolitanismus” und dem Fehlen von seiner Hingabe zur Sache (obwohl ein Sozialist, war Miłosz nie ein Kommunist). 1951 ging er ins Exil, lebte in Paris, wo er Verführtes Denken verfasste, eine Sezierung und Anprangerung des Totalitarismus. Danach zog er im Jahr 1960 an die Universität Berkeley in Kalifornien, wo er fast drei Jahrzehnte lang Slawische Literatur unterrichtete.

Sein Werk wurde von den 50ern bis 70ern in Polen verboten, und war nur einem kleinen Zirkel enthusiastischer Bewunderer anderswo bekannt. Als er 1980 den Literaturnobelpreis bekam, erfuhren einige seiner Kollegen an der Universität in Berkeley zum ersten Mal, dass er, wenn er nicht Dostojewski unterrichtete, auch Gedichte schrieb. Zurück in Polen wurde er zu einer internationalen Bekanntheit und Figur des öffentlichen Lebens, und traf sich mit dem in Polen geborenen Papst Johannes Paul II. und mit Lech Walesa.


Er begann, das Jahr zwischen Berkeley und Kraków aufzuteilen, wo er sich permanent im Jahr 2000 niederliess.

Während seiner Jahrzehnte im Exil, nicht fähig, weder nach Polen noch nach Litauen zurückzukehren, beschäftigte er sich mehr und mehr mit dem Hauptproblem des Erinnerns. In seinem bewegenden Gedicht über den Tod seiner Frau Janina im Jahr schrieb er 1986:

“Wie dem Nichts widerstehen? Welche Kraft
Bewahrt was einst war, wenn die Erinnerung nicht währt?
Da ich so wenig erinnere. Ich erinnere mich kaum an Nichts.”

In einer Abhandlung über die Dichtkunst 1977 erinnert er sich an Krakauer Literaten, und bemerkt den Verlust von Namen, die nicht einmal er aufzeichnet:

“Taxifahrer dösten unter dem Marienturm.
Kraków so klein wie ein bemaltes Ei
Gerade aus einem Farbtopf an Ostern herausgenommen.
Wo Poeten in schwarzen Mänteln auf den Strassen spazieren.
Niemand erinnert sich heute an ihre Namen.
Und doch waren ihre Hände einst real
Wie die Manschettenknöpfe auf den Tischen eines Café.”

Ein Jahrzehnt später macht er es sich in “Sechs Vorträge in Versen” zur Aufgabe, ein unscheinbaren Opfer der Zerstörung von Warschau zu benennen:

“Noch in meiner Erinnerung versuche ich Frau Jadwiga zu retten,
Ein wenig bucklig, Bibliothekarin von Beruf,
Die in einem Wohnblockbunker verschwand
Der als sicher galt, als er einstürzte.
Niemand gelang es, durch die Totenwand zu graben
Obwohl Klopfen und Stimmen für viele Tage hörbar waren.
Und so ist ein Name auf ewig für immer verloren,
Niemand wird jemals ihre letzten Stunden erfahren.”

Er setzt die Erinnerung den weitläufigen Generalisierungen gegenüber Geschichte und Schicksal entgegen:

„Geschichte ist nicht, wie Marx uns gesagt, Anti-Natur,
und wenn eine Gottheit, dann eine von blindwütendem Schicksal.
Das kleine Skelett von Frau Jadwiga, der Ort
an dem ihr Herz pulsierte. Einzig dies
setze ich Notwendigkeit, Gesetzmässigkeit, Theorie entgegen.“

Miłosz’ letzte Gedichte blicken auf die Welt von dem Rande seines Grabes zurück. “Ein neunzigjähriger Dichter, der seine Bücher signiert” (2002) beginnt mit einer Notiz eines komischen Triumphes: „Und so, nach allem, habe ich euch, meine Feinde, überlebt.“ Aber der Poet realisiert, dass sein eigenes Überleben nicht sein eigener Verdienst sein kann,

„Nur eines dieser wunderbehafteten Er-leb-nisse
wie die, die mich einst er-retteten,
Von Auschwitz, und so weiter(da gibt es Beweise)
Von einem Bergarbeiters Verhängnis, irgendwo in Vorkuta Gulag.
Nichts von alledem erachte ich als meine Leistung.
Der Dusel schützt die Dussel und die Künstler.“

Ungewöhnlich für bekannte modern Schriftsteller war Miłosz religiös. Er war, ambig zwar aber stark dem Katholizismus verbunden, und visionären, literarischen Vorgängern wie Dante oder William Blake. In seinen späteren Gedichten blickt er seinem bevorstehenden Tod voraus, mit ruhiger Ironie und einer zurückhaltender Hoffnung auf das Leben danach.
“Selbst wenn Illusion
Uns vereint im Glauben an das ewige Leben,
Wir, Staub, danken für das Wunder des gläubigen Staubes.”

Miłosz war nicht überzeugt davon, dass die Welt ausschließlich von Gott regiert wird, als von einer dämonischen Kraft, aber er behielt sich einen Glauben der, was auch immer, diese Göttlichkeit die Dichtkunst lieben müsse. In einem Gedicht aus dem Jahre 2003, geschrieben im Alter von 92 Jahren, hofft er, dass er im Himmel, wie Sokrates

Weiter das tun werde, was ich auf Erden begonnen habe.
Das heisst, unaufhörlich streben, strebsam selbst zu sein,
und niemals überdrüssig sein werde,
das schimmernde Gewebe auf dem Webstuhl der Welt
zu berühren.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-28-czeslaw-milosz-selected-and-last-poems-1931-2004
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

27. Mai: Paul Celan, „Gedichte“

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27. Mai 2020, von Prof. David Damrosch

Wie Kafka wurde Celan in eine doppelte Minderheitengemeinschaft hineingeboren, unter den deutschsprachigen Juden in Cernăuți/Czernowicz, im Osten des kurzlebigen Königreichs von Rumänien, das nach dem Auseinanderbrechen des Österreich-Ungarischen Kaiserreiches nach dem 1. Weltkrieg gegründet wurde. Celan hatte, wie Kafka, ein immenses Interesse an seiner hebräische und jüdischen Herkunft, die ihm sehr fremd war, und, wiederum wie Kafka, war primär der deutschen Sprache und Literatur treu verbunden, selbst als er die Sprache seiner erweiterten Gemeinschaft lernte (Tschechisch in Kafkas Fall, Russisch sowie Rumänisch für Celan).

Celan entdeckte Kafka als er Noch-Student und werdender Dichter, in den 1930ern, bevor er 1938 nach Frankreich ging, um dort kurz Medizin zu studieren. Nach seiner Rückkehr nach Czernowicz 1939 begann er Literatur zu studieren, bis das Leben seiner Gemeinschaft durch den Einmarsch der Nazis sich komplett veränderte. Seine Eltern wurden im Juni 1942 deportiert; sein Vater starb an Typhus im Arbeitslager, seine Mutter wurde erschossen. Celan war von deren Tod am Boden zerstört, und er lebte im permanenten inneren Konflikt mit der Schuld, seine Eltern nicht haben überredet haben zu können, mit ihm in den Untergrund zu gehen und sich zu verstecken. Celan selbst wurde bald darauf selbst entdeckt, und er überlebte eineinhalb Jahre im Arbeitslager, bis die Russen die Nazis 1944 zurückdrängten. Celan verbrachte daraufhin von 1945 bis 1947 zwei Jahre in Bukarest, und übersetzte während dieser Zeit einige von Kafkas Geschichten und Parabeln ins Rumänische, zu einer Zeit, zu der Kafka gerade bekannter wurde. Als Rumänien nach der erzwungenen Abdankung von König Michael am 30. Dezember 1947 eine Volksrepublik wurde, und die Kommunisten mit Hilfe des sowjetischen Russlands offiziell zur Macht gelangten, zog er nach Paris, wo er den Rest seines Lebens verbringen würde, arbeitete als Übersetzer, und entwickelte schnell seine Dichtkunst, die mehr und mehr Einfluss gewann.

Wie sein eigener Übersetzer John Felstiner bemerkt hatte, kann Celans Oeuvre mit Kafkas Zitat über seine eigenen Schreibblockaden beschrieben werden. Deutsch-Jüdische Schriftsteller, wie er seinem Freund Max Brod sagte, “leben besessen von drei Unmöglichkeiten; das Unvermögen, nicht zu schreiben, das Unvermögen, auf Deutsch zu schreiben, und das Unvermögen, anders zu schreiben, und wir könnten eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen: das Unvermögen, überhaupt zu schreiben.” Die “Todesfuge”, eines der frühesten und immer noch eines der bekanntesten Versuche, dem Holocaust in der Dichtkunst zu entgegnen.  Primo Levi, der ebenfalls Kafka übersetzte, bemerkte, dass “er dieses Gedicht wie einen Virus” in sich trage:

„Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgen wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng.“
(…)

Das Gedicht beendet der Tod, “ein Meister aus Deutschland”, der eine Frau erschießt:

„Er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet
der Tod ist ein Meister aus Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith“

Hier wird Celans ermordete Mutter doppelt wiedergeboren, sowohl als die betrogene Heldin in Goethes Faust als auch als die Braut des Liedes der Lieder, – ein vielen jüdischen Künstler bekanntes, biblisches Gedicht. Mein Ur-Ur-Grossvater Leopold hatte, darauf basierend, ebenfalls einen Choral komponiert.

Leopold Damrosch: Sulamith,
the Song of Songs. Andesite , 2015.


Kürzlich griff der moderne Künstler Anselm Kiefer die letzten Zeilen für die Titel von einem paar an wuchtigen Gemälden auf, in dem sich goldblondes Haar mit Stacheldraht verdreht. Er greift in regelmäßigen Abständen zu Celan zurück, wie in seinem Bild “Schwarze Flocken” (dessen Titel auch von Celan genommen wurde), das ein bleierndes Buch darbietet, das aus einer trostlosen Landschaft aus verbrannten Bäumen, oder Körpern, oder Buchstaben aus verschiedenen Alphabeten, herausragt. [Celan endet sein gleichnamige Gedicht seinerseits mit: “ (… ) mich zu hüllen darein. (…) Webt ich das Tüchlein.”]

In seinem späteren Werk schabte und reduzierte so seine Verse immer mehr, und näherte sich immer mehr dem Zustand der Stille an. Diese Gedichte sind vergleichbar mit Samuel Becketts Spätwerk, und, noch unmittelbarer, mit der Lyrik seiner Gefährtin Nelly Sachs. Sie musste ihrerseits nach der Machtergreifung der Nazis mit ihrer Mutter nach Schweden fliehen; und wurde im Jahr 1966 mit dem Literaturnobelpreis für ihre um Kriegstrauma zentrierte Lyrik ausgezeichnet. So schrieb sie Celan im Jahr 1959: “Zwischen Paris und Stockholm fliesst der Meridian aus Schmerz und Trost.

Celan betitelte seine Rede anlässlich der Verleihung des bedeutenden Georg-Büchner-Preises  “Der Meridian”. Hierin beschreibt er die Dichtung als „das Gegenwort, es ist das Wort,das den “Draht” zerreißt, das Wort, das sich nicht mehr vor den “Eckstehern und Paradegäu-len der Geschichte« bückt, es ist ein Akt der Freiheit. Es ist ein Schritt.”
In einer Sachs gewidmeten Gedicht aus dem Jahr 1963, benannt nach dem Ort ihres ersten Aufeinandertreffens in “Zürich, Zum Storchen”, erinnert er sich der Konversationen, als sie endlich in Zürich aufeinander treffen konnten, nach Jahren der Korrespondenz:

„Vom Zuviel war die Rede, vom
Zuwenig. Von Du
und Aber-Du, von

der Trübung durch Helles, von
Jüdischem, von
deinem Gott.
(…)

Von deinem Gott war die Rede, ich sprach
gegen ihn, ich
liess das Herz, das ich hatte,
hoffen:
auf
sein höchstes, umröcheltes, sein
haderndes Wort –
(…)“

Celans Spätlyrik, wie Nelly Sachs’, sind beide blank entblösst und doch endlos nachhallend:

„Die Pasaunenstelle
tief im glühenden       
Leertext,                     
in Fackelhöhe             
im Zeitloch:       
        
hör dich ein                
mit dem Mund.“         

Hier spielt Celans erfundenes Kompositum Leertext auf Lehrtext an, als “lehrender Text”, der besonders beim Studium der Bibel Verwendung fand.

Die Illustrationen seiner Frau, der Grafikkünstlerin Gisèle Celan-Lestrange, bieten vielleicht die beste Interpretation für Celans Spätlyrik, wie die Radierung für das 1965 erschienene Buch Atemkristall.

Immer mehr in die Depression versinkend, wurde Celan mehrere Male ins Krankenhaus eingewiesen, bevor er sich selbst in der Seine ertränkte, im Alter von 50 Jahren. Doch zum Ende hin erstrahlen seine Gedichte weiter. Zu den Schrecken des Krieges [auf die Sprache] sagte Celan folgendes, anlässlich der Verleihung eines Literaturpreis im Jahre 1958 [aus der “Bremer Rede”]:

“Erreichbar, nah und unverloren inmitten der Verluste blieb dies eine: die Sprache.
Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen
durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen.
Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, „angereichert“ von all dem.”

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-27-paul-celan-selected-poems
[Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen (mit Ausnahme der Celan-Gedichte.
Hier hören Sie die von Paul Celan selbst gelesene Todesfuge, mit Untertiteln auf Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, und Niederländisch:
https://www.youtube.com/watch?v=pHgYRtefUqs]

26. Mai: Franz Kafka, „Die Verwandlung“

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26. Mai 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Die Autoren, mit denen wir uns vor kurzem beschäftigt haben, haben ihre frühe(re)n Leben wiederholt wiedergeschrieben. (Marguerite Duras, Georges Perec, Primo Levi), Franz Kafka hingegen ist ein Schriftsteller, der sich ständig seinen Tod ausmalt. Es zieht sich durch sein Oeuvre, dass eine Hauptfigur nach der anderen zum Ende der Geschichte stirbt. Georg Bendemann, zum Tode verurteilt durch seinen Vater im Urteil, Gregor Samsa im Hauch seines letzten Atemzuges – zur Erleichterung seiner Familie – am Ende der Verwandlung, Joseph K., ermordet wie ein Hund im Prozess, bis hin zu seiner letzten Geschichte Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, fertiggestellt kurz vor seinem eigenen Tod im Juni 1924. Wenn Kafkas Gesammelte Werke rätselhafte Mordgeschichten wären, bliebe die einzige Frage: Wer ist nicht der Mörder?

Keiner dieser Todesfälle ist durch die Nazis verursacht, deren Machtergreifung noch weit in der Ferne lag, als Kafka starb. Hitler schrieb 1924 im Gefängnis an Mein Kampf, nach dem spektakulären Scheitern des Bierhallen-Putschen, nachdem seine politische Karriere in Scherben lag. Kafkas Werk war durchzogen durch die Auswirkungen eines zunehmenden Antisemitismus während seiner Lebzeit; dieses Element koexistiert im Werk jedoch mit den Dynamiken mit seiner Familie und seiner eigenen Psyche. In seinem Tagebuch fragte er beissend: “Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam (…).”

Nach Auschwitz ist es doch unmöglich, seine Werke mit intensiver Aufmerksamkeit zu rezipieren, wohin die kulturell-politischen Trends in Europa bald führen sollten, beginnend mit seiner eigenen Familie. Seine drei Schwestern wurden alle von den Nazis ermordet. Seine älteren Schwestern Elli und Valli wurden ins Lodzer Getto deportiert. Seine geliebte Schwester Ottilie wurde nach Theresienstadt deportiert, im Oktober 1943 begleitete sie freiwillig einen Kindertransport nach Auschwitz, wo sie alle zwei Tage nach ihrer Ankunft ermordet wurden.

Walter Benjamin bemerkt in seinem Essay Der Erzähler: “Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. (…) Man kann das Wesen der Romanfigur besser nicht darstellen als es in ihm geschieht. Er sagt, daß sich der “Sinn” von ihrem Leben nur erst von ihrem Tode her erschließt.“ Die fiktionale Begegnung mit dem Tod ist etwas Positives für den Leser: “Das was den Leser zum Roman zieht, ist die Hoffnung, sein fröstelndes Leben an einem Tod, von dem er liest, zu wärmen.” Aber wie viel Wärme können wir von all den Toten in Kafkas Werk ziehen, besonders, wenn wir ihn nach dem Tod, den Ottilie und 1.300.000 Million andere in Auschwitz erlitten haben, lesen?

Ähnlich wie im Werk von Primo Levi entdecken wir bei Kafka die vielfältigen Kräfte, die eine Familie, eine Nation, eine Zivilisation auseinanderreißen können, aber diese zerstörerischen Kräfte werden kontrapunktiert gegen Momente einer klaren Vision, Humanität, und ironischem Humor, die Stärke in diesen schrecklichen Umständen verleiten können. Während Kafka 1910 im Urteil dem repressiven, zweidimensional gezeichneten Vater die Bürde auferlegte, erweitete er seinen Blick und vertiefte sein Verstehen. In DerVerwandlung (1915) sehen wir einen Gregor Samsa, der an der Abhängigkeit seiner Familie von seinem Einkommen leidet, aber er übernimmt auch eine quasi-diktatorische Rolle darin. Er verabscheut die Verantwortung, seines Vaters Schulden zu übernehmen [die doppeldeutige »Schuld« als monetäre und moralische Dimension]. Seine plötzliche Verwandlung in das berüchtigte «gigantische Insekt» mag dafür stehen, dass er seiner Familie den Rücken zudreht, aber auch dafür, dass er seine zentrale Machtstellung im Haushalt zu verstärken, in dem jeder auf Zehenspitzen um ihn herumtänzelt, nicht wagend, ihn zu konfrontieren.

Die ganze Episode mag einen Nervenzusammenbruch widerspiegeln, aber auch einen Wunscherfüllungstraum, eine Möglichkeit, die die traumartige Raum-Zeit-Falle suggestiert. Diese Deutung wird durch Kafkas charakteristische Ironie noch unterstrichen, mit Gregors Aussage, dass es “kein Traum” sei. Gregor ist hierbei weniger weniger ein unschuldiges Opfer, als ein frustrierter Tyrann. Schon vor seiner Verwandlung spielt er die Rolle des Gönners, indem er seine Schwester an die Musikschule schickt – ungeachtet dessen, dass sie als Violinistin hoffnungslos untalentiert ist. Selbst nach Auschwitz sollten wir uns gewahr sein, dass Kafka, als er die Geschichte seinen Freunden laut vorliest, mehrmals aufhören musste, weil es ihn vor Lachen schüttelte. Um unser vorhergehendes Zitat von Oscar Wilde über Dickens, einer von Kafkas Lieblingsautoren, zu adaptieren: Jemand müsste schon ein Herz aus Stein haben, um beim Tod des kleinen Gregor nicht zu lachen.

In der Strafkolonie bewegt sich Kafka 1914 in seiner emblematischen Geschichte weg vom Familienkosmos, in dem ein Gefangener von einer Maschine ermordet wird, die seine Strafe mit einem Tattoo auf seinen Rücken inskribiert. Das Opfer soll im Moment des Todes eine Erleuchtung erfahren, und dann wird die Maschine seine Leiche in eine vorbereitete Grube schleudern, wie der leitende Offizier dem besuchenden Erzähler stolz erzählt.

Diese Horrormaschine wurde von vielen als Prophezeiung dafür gesehen, was Primo Levi als “komplexe Maschinerie” des Systems Konzentrationslager nennt. Aber die Strafkolonie beschreibt nicht einfach die simplistische Geschichte von Täter und Opfer. Sicherlich ist der unglückselige Gefangene, ungerecht verurteilt von einer willkürlichen Autorität, eine Version von Kafkas semi-autobiographischen Georg und Gregor. Und doch ist der Erzähler der Geschichte ein weiterer Platzhalter für den Autor, der die Geschichte aus der sicheren Position aus der Perspektive eines Außenstehenden erzählt, jemand, der sich nicht zu sehr im Handlungsstrang verfangen, oder sich sogar der Untätigkeit schuldig machen kann. Doch wieder ist es der Kolonial-Offizier, stolzer Architekt und Operateur der mörderischen Maschine, der der wahre Künstler ist, und er opfert sich seiner wunderschönen, komplizierten Tattoo-Maschine, selbst wenn die Ergebnisse – wie modernistische Narrative – für den gewöhnlichen Leser unfassbar sind. Dass die Maschine am Ende ihren eigenen Macher mordet, der suizidal den Platz des Häftlings einnimmt, offeriert eine weitere nachhallende Ironie, die Offizier, Häftling und Besucher eng verknüpft. Und was ist mit uns, der Leserschaft? Können wir eine Alternative zu den Optionen Opferrolle, Mittäterschaft, oder Flucht der Figur finden?

Kafkas letzte Geschichte, Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse, schrieb er, als er an Tuberkulose starb, und hält das eindringlichste Plädoyer für Kunst in gefahrbringenden Zeiten. Josefine versammelt alle um sie herum, um sie mit ihren Liedern zu inspirieren, aber die Mäuseversammlung macht es deren Feinden auch einfacher sie zu finden und über sie herzufallen. Sie glaubt, dass sie allen mit ihren glorreichen Liedern Trost spendet, aber vielleicht ärgert sie sie nur mit ihrem Mitleid erregenden  “Fipsen”. Die Situation wird durch unseren Erzähler noch weiter verkompliziert, der entweder einer ihrer Bewunderer oder ihr Gegner ist. Am Ende verschwindet Josefine; ist sie gestorben, oder hat sie alle verlassen? Wie Hamlet sagt, “der Rest ist Schweigen”, aber in Josefines Fall ist es nicht klar, ob sie überhaupt hörbare Laute produziert hat. Zusammengefasst vom –treuen? feindseligen? – Erzähler:

“Also vielleicht werden wir nicht verpassen so sehr nach allem, während Josephine, für ihren Teil, von den irdischen Leiden geliefert, die aber ihr Geist das Privileg der gewählten Geister sind, wird sich glücklich verlieren in der unzähligen Schar der Helden unseres Volkes und bald, da wir keine Geschichte verfolgen, wobei die erhöhte Relief zusammen mit all ihren Brüdern vergessen gewährt werden.”

Was als barock kunstvolle Parabeln in den 1920ern erschien, hat mit dem Krieg neuen Literalismus gewonnen, und ein weltweites Publikum kurz danach. Erinnerung und Vergessen, Sprache und Stille greifen ineinander und verflechten sich in Kafkas Werk, und ein wachsender Pulk an Schriftstellern stapft in seine verschwindenden Fußstapfen. Wie wir morgen sehen werden, war Dante für Primo Levi, was Kafka für Paul Celan war.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-26-frank-kafka-metamorphosis-and-other-stories
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

25. Mai: Primo Levi, „Das periodische System“

Hervorgehoben

25. Mai 2020, von Prof. David Damrosch, Harvard

Als ich vor sieben Jahren Kraków besuchte, um dort einen Vortrag anlässlich des jährlichen Conrad-Festivals zu halten, wäre es logisch gewesen, anzunehmen, dass dieser ein Sohn der Stadt gewesen sein muss. Aber er wurde tatsächlich nicht in Kraków geboren, hat nie über die Stadt geschrieben, und lebte dort nur ein paar Monate lang bei einem Onkel, bevor er ausbüchste, um der französische Handelsmarine beizutreten, lange bevor er ein Schriftsteller in seiner dritten Sprache, Englisch, wurde. Er war niemals polnischer Staatsbürger, da er unter dem Russischen Zarenreich geboren wurde, und wurde schließlich britischer Staatsbürger. Aber selbst wenn Schriftsteller imaginäre Heimatländer erfinden können, können Städte ein imaginiertes literarisches Erbe erzeugen, und Conrads Ruhm als weltbekannter Schriftsteller machten ihn zu einer ausgezeichneten Wahl für ihr internationales Festival.

Mit meiner Reisen nach Polen folgte ich auch einem bedeutsamen Teil meiner eigenen Vorfahren nach. Mein Ur-Ur-Großvater Leopold Damrosch wurde 1832 in Poznań geboren, 300 Meilen nordwestlich von Kraków. Er war ebenfalls kein polnischer Staatsbürger, er war nicht einmal von polnischer Herkunft; er war ein deutscher Jude mit damals preußischer Staatsbürgerrechten. Er lebte in Posen, wie die Deutschen die Stadt Poznań damals nannten, bis er 1850 nach Berlin wegging. Er kehrte dann später nach Wrocław zurück, auf halbem Wege zwischen Poznań und Kraków, um das Stadtorchester zu leiten, bevor er nach New York emigrierte, um seine Dirigentenkarriere weiterzubringen. Dieser Umzug stellte sich als ein glücklicher Zug für seine Familie heraus, weniger für Leopold selbst. Er starb im Alter von 52 Jahren an einer Lungenentzündung, verursacht durch Überarbeitung, während er an der neu gegründeten Metropolitan Opera eine gesamte Spielzeit dirigierte, und an der er das Werk seines Freundes Richard Wagner präsentierte – interessanterweise zusammen mit Fromental Halévys Oper La Juive

          Leopold Damrosch memorial.    Leopold Damrosch Halevy
Zurück nach Polen ist die Konzerthalle von Wrocław, neu erbaut zu Leopolds Zeiten, bei einem Besuch in Polen einen Besuch wert.

Während meines Aufenthaltes kam ich nicht umhin, mir vorzustellen, was gewesen wäre, wenn er niemals weggegangen wäre. Was, wenn ich im Nachkriegs-Poznań aufgewachsen wäre, Bratwürste anstatt Big-Macs gegessen hätte, und Conrad in polnischer Übersetzung gelesen hätte? Ich wusste natürlich, dass, wenn Leopold geblieben wäre, er eine ganz andere Linie an Nachfahren gehabt hätte, aber mein Vater war nach ihm benannt, und, als ich durch Leopolds frühere Nachbarschaftsviertel umherwanderte, war es verlockend, mir diese alternative Geschichte vorzustellen.


Aber dann, als meine Gastgeber mich nach Kraków brachten, fuhren wir an einem Schild für die Stadt von Oświęcim: Auschwitz vorbei. Wenn die Damroschs nie wegegangen wären, dann wären wir hier geendet.

                                                                           * * *

Kurz nach Ende des Krieges erschien eine Flut von Augenzeugenberichten, Gedichten und Erzählungen, oft geschrieben an der Grenze zwischen Memoiren und Fiktion. Primo Levis Die periodische Tabelle (1975) ist genau so ein Werk. Ähnlich Marguerite Duras’ vielfältigen Um-Schreibungen ihrer in Indochina verbrachten Jahre kehrte Levi Zeit seines Lebens zu dem Jahr seiner Gefangenschaft 1944-1945 zurück, und suchte dabei nach neuen Wegen, seine Erinnerungen aufzuzeichnen, und sich etwas Sinnhaftes aus ihnen zusammenzureimen. Er veröffentlichte Se questo è un uomo [deutscher Titel Ist das ein Mensch?, auf Englisch If This Is a Man, auch publiziert mit dem Titel Survival at Auschwitz] 1947, mit einer Überarbeitung 1958. 1963 folgte La Tregua [die deutsche Übersetzung Die Atempause wurde 1982 veröffentlicht], sein Bericht der schmerzvollen Rück- und Umkehr nach Italien, dann gefolgt von Die periodische Tabelle, sowie zwei Romanen und der stetigen Publikation von Lyrik und Kurzgeschichten. Schließlich folgte Sommersi e i salvati, 1986 [unter dem deutscher Titel Die Untergegangenen und die Geretteten, veröffentlicht 1990] publiziert ein Jahr vor seinem Tod 1987 – ein Unfall? ein Selbstmord? – durch einen Sturz im Treppenhaus seines Gebäudes.

Levi war gelernter Chemiker von Beruf, aber das nüchtern-faktenbasierte Ist das ein Mensch? zeigt bereits eine hohe, literarische Sensibilität. Im bekanntesten Kapitel, “Der Gesang des Odysseus” beginnt Levi, als er mit einem Freund die Tagessuppe für ihre Baracke holen geht, den 10. Gesang des Inferno, der Hölle, zu rezitieren. Dort treffen Dante und Virgil auf Odysseus, der seine fatale Suche nach dem Wissen, was sich jenseits der bekannten Welt befindet, und sein Ertrinken thematisiert, nachdem sein Schiff die Meerenge von Gibraltar passiert. Die Tatsache, dass Levi sich an wichtige Passagen des Gesangs erinnern kann, erfüllt ihn mit Zuversicht, und er ist seinem Freund dankbar für seine Bereitwilligkeit zuzuhören:

’sein Zuhören ist dringend lebensnotwendig, dass er dies versteht als ‘den Anderen zufriedengestellt”, bevor es zu spät ist; morgen könnten er oder ich schon tot sein, oder wir würden uns nie wiedersehen, ich muss ihm mitteilen, ich muss ihm erklären über das Mittelalter, über den so menschlichen und so notwendigen, doch so unerwarteten Anachronismus, aber umso mehr, etwas Gigantisches, das ich selbst gerade gesehen habe, eine Prise Intuition, vielleicht der Grund für unser Schicksal, für unser Hiersein heute …”

Die Literatur bietet ein Gedächtnis ihrer verschütt und untergegangenen Humanität;

“genau weil das Lager eine wuchtige Maschine war, um uns zu Bestien zu reduzieren, dürfen wir zu keinen Bestien werden; dass man sogar an diesem Ort überleben kann, und deshalb muss man überleben wollen, um die Geschichte zu erzählen, um Zeugenschaft abzulegen, und zum Überleben müssen wir wenigstens das Skelett, das Rohgerüst, die Form der Zivilisation bewahren.”

Die Wichtigkeit von Dante für Levi übertrifft die Leseerfahrung: ein Schreib(an)trieb, seine Geschichte zu erzählen und Zeugnis abzulegen. Doch in Die Untergegangenen und die Geretteten, als er sein Kapitel über Odysseus vierzig Jahre später liest, gibt er eine massvolle, fast schon melancholische Darstellung: „Kultur war mir immer nützlich. Vielleicht nicht immer, auf bisweilen verschütteten und unvorherstehenen Pfaden, aber sie war mir immer dienlich, und vielleicht hat mich das vielleicht gerettet“. Die Wiederholung von „vielleicht“ in diesem Satz sagt viel aus. Besonders sein Beruf als Chemiker, der sich als gleichsam wertvoll und „hilfreich“ in Auschwitz erwies. Seine wissenschaftliche Ausbildung gab ihm ein „vage definiertes väterliches Erbe von psychischem Rüstzeug“, und über allem „die Gewohnheit, niemals gleichgültig gegenüber Individuen zu sein, mit denen ihn das Schicksal zusammenbringt. Sie sind nicht nur Menschen, sondern auch „Musterstücke“, Spezien in verschlossenen Briefumschlägen, um identifiziert, analysiert, und gewogen zu werden.“

Levis Verblenden von Leidenschaft für die Moral und genaue Beobachtungsgabe erreicht in Die periodische Tabelle seinen Höhepunkt. Jeder der essayistischen Geschichten zentriert sich um ein chemisches Element, mit dem er schon in seinem Beruf zu tun hatte. Levi beschreibt präzise jedes Element mit einem personifizierten menschlichen Interesse; und verbindet jedes mit einer Episode aus seinem Leben vor, während, oder nach Auschwitz. Was die Mathematik für Perec, ist die Chemie für Levi, ein Ordnungssystem für das fast Unaussprechliche. Beim Wiederlesen des Buches in dieser Woche fiel mir die verblüffende Àhnlichkeit mit Perecs W auf, das zufällig im selben Jahr veröffentlicht wurde. Im Zentrum der Periodischen Tabelle stehen zwei memoirenhafte Essays mit zwei Geschichten, kursiv gedruckt wie die Geschichten in Perecs von Olympia besessener Insel. Die zweite Erzählung „Quecksilber“ beschreibt eine imaginäre Insel, komplett mit einer skizzierten Karte.

Als „einsamste Insel der Welt“ wird Desolation Island, die Insel der Trostlosigkeit, zum Schauplatz eines Dramas von Stillegung und Untreue, und der darauffolgende der Wiederentdeckung eines neuen Lebens, und einer kombinatorischen Neuverteilung von Mann und Frau, als eingelöste Version der von den Nazis abgeleiteten Sexualpolitik auf Perecs Insel.

Im folgenden Kapitel „Chrom“ beschriebt Levi seine Kriegserfahrungen in den Monaten nach seiner Rückkehr von Auschwitz, während er gleichzeitig die Buchfälschungen eines deutschen Unternehmens bei einer Lieferung von veränderten Chemikalien für seine Firma entwirrt. Er arbeitet sich durch das Problem, indem er eine „gute inorganische Chemie“ skizziert, „diese weit entfernte kartesische Insel, ein verlorenes Paradies für uns organische Chemiker.“ Im letzten Kapitel, „Kohlenstoff“, geht Levi, wie W, noch weiter zurück in die Vergangenheit, zu seiner Kindheitsfantasie.

Levis „erster literarischer Traum“, sagt er, war es, ein detaillierte Geschichte der Veränderung und Umwandlung eines Kohlenstoffatoms zu schreiben, das die Welt nicht nur einmal, sondern sogar dreimal durch die Luft umkreist, um dann im Gehrin des Schriftstellers anzukommen. Levi erzählt uns nun diese bisher ungeschriebene Geschichte weiter, und in den letzten Schlusssätzen des Buches führt das Kohlenstoffmolekül „diese Hand von mir, um auf dem Papier diesen Punkt und jenen einzuprägen.“ Das Kohlenstoffatom, zum Leben erweckt in der Literatur, ist der Grundstock allen Lebens auf der Erde, und verwandelt sich schlussendlich in den Satzpunkt, der das Buch beschliesst.

Wie Perecs von Auschwitz inspieriertem W wird das reale Auschwitz regiert von unerbittlichen und willkürlichen Gesetzen, die auch Levi mit Kafkaesquen Begriffen beschreibt. Wenn Dante die Primärquelle für beide Autoren ist, genauso wie Kafka, so sind dessen Werke nun mit den Ereignissen tief verbunden, die sie im Nachhhinein schon erlebt haben. Sowohl Perec als auch Levi haben uns viel zu sagen, was es bedeutet, nach Auschwitz zu schreiben, und morgen werden wir erörtern, was es bedeutet, Kafka in einer Welt nach Auschwitz zu lesen.



Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard Universität:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-25-primo-levi-periodic-table
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

22. Mai: Georges Perec: „W oder Die Kindheitserinnerung“

Hervorgehoben

22. Mai 2020, von Prof. David Damrosch
Auf der Flucht vor dem erstarkendem Antisemitismus in Polen brachten Perec Großeltern ihre Familien nach Paris, in der Hoffnung, dass dieser Ort ein permanenter Zufluchtsort wäre. Sie ließen sich in einem größtenteils jüdischen Arbeiterviertel nieder, wo sich Perec‘ Eltern, Icek und Cyrla,trafen. Sie heirateten 1934, und Cyrla gründete einen Friseursalon, während Icek als Gieser arbeitete, ihr Sohn Georges wurde 1936 geboren.
Das neue Leben der jungen Familie dauert nicht lange. Icek meldete sich zu Kriegsbeginn in der französischen Armee, unter der Foreign Legion, da er immer noch die polnische Staatsangehörigkeit besaß; er fiel 1940 im Krieg. Cyrla gelang es, ihren Sohn zu verstecken, mit Hilfe des Roten Kreuz, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurde, wo sie ermordet wurde. Georges verbrachte seine Kriegsjahre, von einem sicheren Haus zum anderen weitergereicht zu werden; und wurde von einer Tante und von einem Onkel bei Kriegsende adoptiert. Er war ein exzellenter Schüler, und machte einen Abschluss in Soziologie an der Sorbonne,nahm eine Stelle als Archivar in einer wissenschaftlichen Bibliothek an, und begann, an den Wochenenden zu schreiben.

Perec genoss früh internationalen Erfolg mit seinem preisgekrönten Roman, Les Choses, das er als “eine Soziologie des Alltäglichen” beschreibt, in der seine Figuren von den materiellen Objekten um sie herum dominiert werden. Er begann danach die Arbeit an Un homme qui dort (Ein Mann der schläft) – sein Titel von Proust übernommen – in dem er einen Schritt weiter als Julio Cortázar ging, indem er Borges neu verfasste, indem er ihn nicht neu verfasste. Wie er einem Interview erklärte:

    “Offensichtlich ist es nicht mein Ziel, Don Quixote neu zu schreiben, wie Borges’ Pierre Menard, was ich wirklich will, ist, meine liebste Geschichte von (Herman) Melville, “Bartleby”, neu zu verfassen … sie nochmals zu schreiben, sozusagen, einen anderen “Bartleby” zu erschaffen … eigentlich doch derselbe “Bartleby,” nur etwas mehr … als ob ich das selbst erfunde hätte.”

Was er schlussendlich schlieb, war ein Text, der fast gänzlich aus Zitaten anderer Autoren bestand, wie Proust, Borges, Melville, Dante und viele mehr. Als das Beenden des Buches für ihn schwierig war, notierte er: “Nur noch vollkommene Diskontinuität – Fragmente – kann mich noch retten! Aber das stört mich! Es stört mich!”

Perec wurde ein Mitglied der ersten Stunde einer Avantgarde-Gruppe von Schriftstellern und Mathematikern, die sich unter dem Namen “Oulipo” zusammen taten, eine Abkürzung für “Ouvroir de littérature potentielle” (Workshop für potentielle Literatur). Die Gruppe, gegründet im Jahr 1960 von dem Surrealisten Raymond Queneau, suchte nach kompositionalen Modellen in der Mathematik und Spieletheorie, und Perec begann, seine “vollkommene Diskontinuität” mit rigoroser Disziplin unter Kontrolle zu bringen. Sein Magnum Opus, La Vie mode d’emploi (Das Leben Gebrauchsanweisung, 1978) verwendet ein ausgeklügeltes System von standardisierten Geräten, während der Leser sich zwischen neunundneunzig Zimmern eines Pariser Internats hin und her bewegt, und Schachzüge des Ritters verwendet. Ein weiterer Roman, La Disparition (Anton Voyls Fortgang), wurde ohne den am meisten benutzten Buchstaben des Alphabets verfasst, den Buchstaben “e”. Ein Erinnerungstafel an einem nach ihm benannten Platz ehrt diese Leistung:

Perec plaque

Diese Meisterleistung toppte er mit Les Revenentes, eine Novelle, die nur den Buchstaben “e” (als Vokal) verwendet, was der deutsche Titel [dee weedergenger, eigentlich Wiedergänger] widerspiegelt.

Perec lokalisiert die meisten Schauplätze seiner Werke in Paris, und nähert sich seiner Stadt stets aus ungewöhnlichen Perspektiven. In Tentative d’epuisement d’un Lieu parisien (Versuch einen Platz in Paris zu erfassen), beschreibt er alles, was er während ein paar Tagen auf einem kleinen Platz sitzend gesehen hat, einem kleinen Platz zwischen der Église de Saint-Sulpice und dem Café de la Marie du VIe – demselben Café, und es freut mich, das zu sagen, in dem Djuna Barnes’ Doktor Matthew O’Connor in Nachtgewächs zu jagen liebte. In diesem Buch beschreibt Perec detailgetreu alles von Tauben zu Passanten zum Wetter, alles, sagte er, das Künstler und Schriftsteller zuvor ihm in ihren Porträts von Paris ausgelassen hatten.

Im selben Jahr veröffentlichte er sein bemerkenswertes Buch W ou le souvenir d’enfance (W oder Die Kindheitserinnerung). Dieses Werk besteht aus alternierenden Kapiteln, die sich radikal voneinander zu unterscheiden scheinen. Die kursiven Kapitel beschreiben eine utopische Gemeinschaft, die auf “W” lokalisiert sind, einer Insel der Küste der Tierra del Fuego vorgelagert, wo das Leben um eine endlose Serie von ähnlich den Olympischen Spielen organisiert ist. Zwischen diese Kapitel sind nüchterne autobiographische Kapitel eingefügt, in denen Perec versucht, sich an seine Eltern und an seine Kriegsjahre zu erinnern.

Die Olympische Utopie von W ist definitiv Oulipian, wo die Wettbewerbe zwischen den vier Städten der Insel streng nach mathematischen Linien organisiert sind. Im Gegensatz dazu, wie Perec in einer Vorwort-Notiz ausführt, bilden die autobiographischen Kapitel “ein bruchstückhafte Geschichte einer Kindheit während der Kriegszeit, einer Geschichte, der es an Heldentaten und Erinnerungen mangelt, erfunden und erlogen mit zerstreuten Abfällen, Lücken, Fehltritten, Zweifeln, Vermutungen und spärlichen Anekdoten:” Weit entfernt von einer Proustischen Wiederentdeckung der vergangenen Zeit beginnt Perec das erste autobiographische Kapitel mit der Behauptung: “Ich habe keinerlei Kindheitserinnerungen.” Das Buch ist voll von Ausdrücken wie “schwammige Erinnerung” und “Ich habe keine visuelle Erinnerung daran.” Wie Duras in Der Liebhaber versucht er seine Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, in dem er die wenigen Photographien, die aus seinen frühen Jahren überlebt haben, einer eingehenden Untersuchung unterzieht, aber uns werden die Photographien nie gezeigt, und sie führen niemals zu einem besseren Verständnis.
Obwohl das Buch vor Bedeutung strotzt, müssen wir sie dennoch selbst konstruieren, und die Lücken ausfüllen, so gut wie wir können, und über das Zwischenspiel zwischen den autobiographischen und den eilandigen Erzählungsteilen reflektieren. Perec zufolge basiert “W” auf einer Fantasie, die er für sich selbst nach Kriegsende ersponnen hat, aber die anfänglich bezaubernd-kindlichen Phantasie verdüstert sich schnell. Die Ideologie der Insel belohnt nur Sieg (“Alles Heil den Siegenden! Wehe den Besiegten”), und die wenigen Verlierer werden auf immer grausamere Art und Weise bestraft. Deren Schicksal wird von einem Kafkaesque Rechtssystem regiert: “Das Gesetz ist unerbittlich, aber das Gesetz ist unberechenbar. Das Gesetz muss von allen gekannt werden, aber das Gesetz kann nicht bekannt sein.” Kinder werden in einem kommunalen Schlafsaal hinter elektrischem Stacheldracht aufgezogen. Die meisten Babys werden, wenn sie Mädchen sind, getötet. Diejenige, denen es aufzuwachsen erlaubt ist, nehmen ausschließlich an einem Wettbewerb teil, dem Atlantiads, in dem sie von Mànnern verfolgt und dann systematisch missbraucht werden.

Im vorletzten autobiographischen Kapitel wird der neunjährige Perec zurück ins Paris nach der Befreiung gebracht. Er besitzt nun keine Erinnerung an die eigentlich Befreiung, aber er erinnert sich daran, dass er zu einer Ausstellung über die Konzentrationslager der Nazis gebracht wurde. Jetzt bekommt er eine klare Erinnerung, von einer Photographie: “Ich erinnere mich an die Fotografien von den Wänden der Gaskammern, die Kratzspuren zeigten, gemacht von den Fingernägeln der Opfer, und ein Schachspiel, gemacht aus Brotresten.”

Perec charakterisierte sich selbst einmal als “einen Mann der Buchstaben”, eine Referenz auf sein immerwährendes Spiel mit dem Alphabet. In einem Absatz seziert er den Buchstaben “W” (ausgesprochen double-vé im Französischen; “doppeltes V”) als ein Zeichen von Dopplung, und offeriert dann eine Meditation über die Transformationen des Buchstabens V, das den Buchstaben X herstellen kann (wenn ein V vertikal gespiegelt wird) und als ein W (wenn er horizontal verdoppelt wird). Das X wiederum kann erweitert oder nochmalig verdoppelt werden zu, wie er sagt, sowohl einem Hakenkreuz wie auch einem Davidstern. In Perecs W führt das double-vé ein Doppel-Leben, – sozusagen ein double-vie im Französischen. Sein Werk verbindet Fantasie und Autobiography, playtime und den Holocaust, Paris und Auschwitz; das Leben, das er hatte, und das Leben, das seiner Mutter entrissen wurde. “Sie sah ihr Geburtsland wieder, bevor sie starb”, kommentiert Perec. “Sie starb ohne Verstehen.”

Wie das Leben so spielt, ist das Geburtsland von Cyrla auch das Land, in dem mein Ur-Ur-Großvater Leopold geboren wurde, aber diese Geschichte heben wir uns für einen anderen Tag auf – nächsten Montag, um genau zu sein.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University: https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-22-georges-perec-w-or-memory-childhood
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

Anmerkung der Übersetzerin:
W oder Die Kindheitserinnerung. Aus dem Französischen von Thorgerd Schücker. Verlag Volk und Welt, Berlin 1978.
W oder Die Kindheitserinnerung. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Frankfurt 1982. diaphanes, Zürich 2012.

21. Mai: Julio Cortázar, „Axolotl“

Hervorgehoben

21. Mai 2020, von Prof. David Damrosch

Falls Paris Marguerite Duras die Möglichkeit gab, ihre Lebensgeschichte zu schreiben und wiederzuschreiben, so fand Julio Cortázar in Paris den Ort, wo er jeden anderen umschreiben konnte. Geboren wie Duras im Jahr 1914, kam er zwei Jahrzehnte später nach Paris, nachdem er einige Male versuchte, sich als Jazz-Musiker und Schriftsteller in seiner Heimat Buenos Aires zu etablieren. Hier will ich seinen Durchbruch “Axolotl” besprechen, das seine ersten Sammlung, Final del Juego (Ende des Spiels), eröffnete. Die Geschichte stellt Cortázars Entdeckung seines Weges als Schriftsteller an einem sehr besonderen Schauplatz dar: im 5ème Arrondissement, im Frühling 1951, in der Ausstellungshalle des Jardin des Plantes.

“Axolotl” direkt in der Zeit und im Raum seiner Entstehung zu lokalisieren, bedeutet überhaupt nicht, Cortázar zu einem ausschließlich französischen Schriftsteller zu reduzieren, noch weniger einem zu einem fast französischen Schriftsteller – sondern als einen dankbarer Immigrant, dessen wichtigste Tugend sein Zeugnis zur Herrlichkeit der ville lumière ist. Diesen Eindruck gibt ein Autor der Zeitung Le Monde in einem Artikel aus dem Jahr 2013 anlässlich des fünfzehnten Jahrestages von Cortázars Meisterwerk, Rayuela (Rayuela. Himmel und Hölle):
Rayuela . . . ist sicherlich eine der schönsten Hommagen, die jemals von einem Argentinier der französischen Hauptstadt gewidmet wurde … es wäre allerdings sinnlos, nach einem Straßenschild mit seinem Namen suchen zu gehen, ausser bei einem seiner Bleiben … Das Rathaus scheint sich nicht bewusst zu sein, wie viele Leser von Rayuela die Stadt durchkreuzen, in ihren Köpfen eine sentimentale Karte, die von den Wegstrecken seiner Figuren vorgegeben wurden.“    

Die Erinnungsttafel an Cortázar’s ehemaliger Bleibe unterstreicht den Stolz Frankreichs, diesen bedeutenden argentinischen – oder ehemalig argentinischen? – Schriftsteller für sich zu beanspruchen:

Cortazar plaque

Doch nicht nur der Schriftsteller, écrivain, wurde eingebürgert, naturalisé: Sein Roman erscheint hier unter seinem französischen Titel.

Man mag sich fragen, wie viele Touristen wirklich nach Paris kommen, wie lateinamerikanische Emma Bovarys, die die literarische Karte in ihren Köpfen umzusetzen suchen, und es wird nicht so deutlich, dass dieser bunt zusammengewürfelte Rayuela-Haufen von zwielichtigen Gestalten ihrer Adoptivstadt echt so eine beau hommage bieten. Aber obwohl Paris nur eine der transatlantischen Pole von Cortázars umherwandernden Narrativ darstellt, so ist der Pariser Schauplatz zentral für “Axolotl.” Der Cortázar-ähnliche Erzähler liebt es, durch den großen botanischen Garten der Stadt zu radeln, und mit den Löwen und Panthern in der Menagerie des Gartens Zwiesprache zu halten. Hier findet er eines Tages bedrückte Löwen vor, und seinen eingeschlafenen Lieblingspanther. Spontan macht er sich zum Aquarium auf, wo er fasziniert wird von dem fesselnden Blick eines kleinen Axolotl, einer mexikanischen Salamanderart. Der Erzähler kehrt von nun an oft zurück, um mit dem “aztekischen” Axolotl Zwiesprache zu halten, und wird schlussendlich eins mit dem zierlichen Geschöpf, gefangen im Aquarium. Auf den letzten Zeilen der Erzählung tröstet sich entweder der Erzähler oder der Axolotl selbst dass “er”, der sich gerade draussen befindet, eines Tages “alles über Axolotls” schreiben wird.

“Axolotl” klingt an Ovids Metamorphosen und Kafkas Die Verwandlung, und auch Dante; die Axolotls fliessen ewig in einem “flüssigen Inferno”. Ein weiterer Referenz bezieht sich auf Rainer Maria Rilkes Gedicht “Der Panther”, der ebenfalls im Jardin des Plantes spielt, wo sich der Dichter von der elementaren Kraft des Panthers inspirieren lässt. Der Axolotl ist viel weniger majestätisch als Rilkes Panther, eine reduzierte, aber stärkere Version von Kafkas Gregor-verwandelt-in-ein-Insekt, und saugt den Zuschauer in das flüssige Inferno des Aquariums. Wurde der Schriftsteller aus der Peripherie von der größeren Kraft der europäischen Literatur vereinnahmt, und dazu verdammt, seine metropolitanischen Vorgänger auf ewig umzuschreiben?

Die Sorge, einen europäischen Vorgänger nachzuschreiben stellt das zentrale Problem einer anderen argentinischen Durchbruch/Erzählung dar, veröffentlicht ein Dutzend Jahre vor “Axolotl”. Jorge Luis Borges’ “Pierre Menard, Autor des Quijote”, die erste von Borges’ bedeutenden ficciones. In der Hoffnung, ein französischer Cervantes der Moderne zu werden, erwägt Pierre Menard, zum Katholizismus zu konvertieren, das Kastilisch des 16. Jahrhunderts fließend zu beherrschen, die europäische Geschichte der Jahrhunderte zwischendurch zu vergessen, kurz, “der Miguel de Cervantes versuchen zu werden”. Er verwirft diesen Plan als zu einfach, aber wählt stattdessen die herausfordernde Aufgabe, den Quixote noch einmal zu schreiben, gleichzeitig aber er selbst zu bleiben. Er produziert Fragmente, die identisch den Passagen aus dem Quixote sind, die aber jetzt, als seine eigene Produktion, eine radikal andere Bedeutung besitzen.

Auch Cortázar mobilisiert die europäische Tradition im Dienste des Kampfes, sich selbst von dem Mäzen zu befreien, dem er die grössten künstlerischen und praktischen Verbindlichkeiten schuldet: Borges selbst. Der rätselhafte Axolotl hört sich im Laufe der Geschichte mehr und mehr Borgesisch an: “Verworren verstand ich ihren geheimen Willen, Raum und Zeit mit einer tumben Regungslosigkeit abzuschaffen.” Die Axolotls durchbohren ihn mit einem Blick, der auffallenderweise als blind beschrieben wird: “Ihre Augen suchten mich heim, über sonst allem. … Ihr blinder Blick, der kleine goldene Körper, ausdruckslos aber dennoch heillos schön glänzend, durchbohrte mich wie eine Botschaft.”

Cortázar hatte jahrelang in Buenos Aires geschrieben, ohne veröffentlicht zu werden, denn er wollte nicht vor Publikum erscheinen, bevor er nicht seine eigene Stimme gefunden hatte. 1949 hatte er endlich sein erstes reifes Werk publiziert, ein Lesedrama mit dem Titel Los Reyes, eine Betrachtung des Minotauros im Labyrinth Kretas. Der Mentor, der der Welt dieses Werk gegeben hatte, war kein geringerer als Borges, der es in einer Zeitschrift in Buenos Aires publizierte. Im selben Jahr veröffentlichte auch Borges seinen Band El Aleph (Das Aleph), der Cortázar mit seiner eigenen Behandlung des Minotauros’ Labyrinth die Show stahl, “La casa de Asterión”, zuerst veröffentlicht als Zeitschriftenartikel im Jahr 1947.
Cortázar emigrierte im Jahr 1951 nach Paris und schlug sich, mit Beginn seiner Arbeit am “Axolotl”, nach und nach seinen eigenen Weg durch das Borgesische Labyrinth. Am Ende der Geschichte verkündet der Erzähler: “Ich bin endgültig Axolotl … Und in dieser finalen Einsamkeit, zu der er nicht mehr gelangt, tröste ich mich selbst mit dem Gedanken, dass er vielleicht eine Geschichte über uns schreiben wird, dass, im Glauben, er erfinde gerade eine Geschichte, er all dies über Axolotl schreiben wird.” Diese Worte können mit dem Ende von Borges’ berühmter kurzer Parabel “Borges y Yo” (Borges und ich) verglichen werden, die vier Jahre später geschrieben wurde, in der Borges seiner Unsicherheit Ausdruck verleiht ober er oder die Figur namens “Borges” jetzt seine Geschichten schreibt: “Ich weiss nicht, welcher der beiden gerade auf dieser Seite schreibt.” Seine Identität als Autor betreffend, drückt Borges vielleicht auch die ambivalente Erkenntnis seines wachsenden Einflusses auf jüngere Schriftsteller aus, deren beaux hommages ihm drohten, ihm die Show von 1955 an zu stellen, dem Jahr, in dem seine komplette Blindheit eintrat. Welcher dieser beiden Autoren schreibt was wieder? Vielleicht verdienen beide Erzählungen denselben Titel: “Axolotl y Yo.”, “Axolotl und ich.”

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Die sich vervielfachenden Wechsel zwischen dem Konsumenten und dem Konsumierten – Borges und Cortázar, Erzähler und Axolotl, Kafka und Rilke, Paris und Buenos Aires – stellen zusammengenommen eine verlagertes Wechselspiel zwischen der Figur/Grund-Wahrnehmung dar, zwischen dem Heim und der Welt, dar. Obwohl wir heute nicht zwischen Paris und Buenos Aires hin- und herspringen können (oder in meinem Fall, Brooklyn und überall sonst), können wir uns, wie Cortázar, in vielen Welten sowohl verlieren als auch finden, die in jede noch so kleine Kurzgeschichte Eingang finden kann. Die Welt in einem Sandkorn, so wie William Blake sagen würde, oder in einem Aquarium, im Jardin des Plantes, im Frühling 1951.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-21-julio-cortazar-axolotl
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

20. Mai: Marguerite Duras, „Der Liebhaber“

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20. Mai 2020, von Prof. David Damrosch

Paris war ein Ort der (Er-)Findung für Marguerite Duras. Als Marguerite Donnadieu im Jahr 1914, damals noch Französisch-Indochina, geboren, wuchs sie in einer verarmten Familie am unteren Ende der kolonialen sozialen Skala auf. ihre verwitwete Mutter mühte sich ab, um sich und ihre drei Kinder über die Runden zu bringen, und ihre finanzielle Situation verschlechterte sich zusehends durch das gescheitert Vorhaben, eine Reisplantage zu eröffnen. Als Marguerite dem zum Studium nach Paris 1931 entkam, begann sie einen lebenslangen Prozess der Neuerfindung.Sie wechselte ihr Studienfach von Mathematik, Politik und Rechtswissenschaften, und benannte sich nach dem Dorf ihres verstorbenen Vaters um. In den späten 1930er Jahren schlug sie ihre schriftstellerische Laufbahn ein; dann brach der Krieg aus. Während der Kriegsjahre arbeitete sie in Paris für die Vichy-Regierung, jedoch traten sie und ihr Ehemann, Robert Antelme, heimlich der kommunistischen Partei bei und arbeiteten für die Résistance; er wurde 1944 verhaftet, und überlebte knapp die Gefangenschaft in Buchenwald und Dachau. Ihre Ehe überlebte nicht.

Während der Kriegsjahre begann Duras ihre Erinnerungen aufzuarbeiten, in einem brutalen Heim aufzuwachsen, in dem ihre Mutter und ihr älterer Bruder sie regelmäßig und heftigst verprügelten, und wo sie mit der Affäre mit einem älteren, orientalischen Mann einen Hoffnungsschimmer jenseits dieses Heimes fand. Nach ihrem Tod im Jahre 1996 fand man ein Notizbuch aus Kriegstagen in ihren Archiven, das eine 70-seitige Erzählung über ihre Kindheit und Jugendzeit enthielt. Diese Darstellung ist erwiesenermassen genauso faktenbasiert wie Prousts Toast-in-Tee Anekdote in Contre Saint-Beuve, und ermöglicht es uns, ihre Verwandlungen aufzuspüren, die dann zu ihrem bekanntesten Werk L’Amant (Der Liebhaber) führten, das 1984 mit dem Buchpreis des Prix-Goncourt ausgezeichnet wurde. Der stark autobiographische Bezug wird durch die häufige Benutzung einer Fotografie der jugendlichen Duras selbst auf dem Titel des Buches verstärkt, das zum Vorbild für das Porträt der unbekannten Romanheldin in der Filmadaption von Jean-Jacques Annaud aus dem Jahre 1992 wurde.

Und doch war dies nicht die erste Fiktionalisierung von Duras’ früheren Jahren. Im Jahre 1950 hatte sie Un Barrage contre le Pacifique, deutscher Titel Heiße Küste, veröffentlicht, das die Geschichte ihrer transgressiven Liebesaffäre mit 15 Jahren aufgreift, und dem Versuchen ihrer Mutter, ihre Reisfelder vor dem Ruin durch Salzwasser zu bewahren. Doch dies war nicht die letzte Version der Geschichte. Duras, mittlerweile erfolgreiche Drehbuchautorin und Regisseurin, hatte an einem Drehbuch-Entwurf für L’Amant gearbeitet, aber sie zog sich nach Unstimmigkeiten mit Annaud aus dem Projekt zurück. Sie war unzufrieden mit seiner romantisierten Version, und schrieb sie dann unter dem Titel The North China Lover (1991) um.

Der Liebhaber ist somit Teil eines jahrzehntelangen Palimpsests, in dem wir das Schicksal eines fünfzehnjährigen Mädchens verfolgen können, der Dreissigjährigen Kriegstagebuchschreiberin, und der Autorin in ihren mittleren und dann älteren Lebensjahren.

Der Fokus der Memoiren zur Kriegszeit liegt größtenteils auf Duras’ Mutter, die an depressiven Episoden und epileptischen Anfällen leidet. Sie kommuniziert jede Nacht mit ihrem toten Ehemann, der ihr Anweisungen gibt, wie sie die hoffnungslosen Deichdämme bauen kann. Duras ist brutal in der Beschreibung der Gewalt ihrer Mutter: “Da ich das kleinste ihrer Kinder und am einfachsten zu kontrollierende war, war ich diejenige, die Mama am meisten schlug. Sie schlug mich für gewöhnlich mit einem Stock, der mich umherwirbelte.” Dann macht ihr älterer Bruder mit: “Durch eine sonderbare Rivalität hat auch er die Gewohnheit aufgegriffen, mich zu schlagen. Die einzige Frage war, wer mich als erste(r) schlagen würde.” Dennoch erinnert sich Duras an ihre Mutter mit Liebe, sogar mit Bewunderung: “Sie schlug hart, sie schuftete sich ab, sie war zutiefst gut, sie war geschaffen für stürmische Schicksalswege, sich durchzuschlagen bei ihren Expeditionen in die Welt der Gefühle … Meine Mutter erträumte sich den Weg, den ich niemals jemand sonst träumen sah.”

Ihr asiatischer Liebhaber Léo ist seinerseits der Sohn eines wohlhabenden vietnamesischen Großgrundbesitzers, der sich ihr nähert, als sie erst vierzehn Jahre alt war. Ihre Mutter unterstützt die Beziehung wegen der finanziellen Vorteile, immer unter der Bedingung, dass Marguerite niemals tatsächlich mit ihm schlafen solle. Duras beschreibt Léo als nett, aber hässlich und dumm. “Léo war einfach lächerlich, und das hat mich sehr geschmerzt.” Sie erwähnt en passant> “Ich habe nur einmal mit ihm geschlafen, nach zwei Jahren flehentlichen Bittens.”

Die Grundpfeiler dieser Geschichte bleiben in Heiße Küste erhalten, aber dort hat sich Léo zu “Monsieur Jo” gewandelt, der Sohn eines wohlhabenden weißen Plantagenbesitzers. Die Geschichte verwandelte sich weiter im Liebhaber: Hier bleibt er anonym, der Liebhaber ist Chinese, und sie setzt ihn auf ein höheres soziales Level als der historische Huynh Thuy Le, und beide geben sich einer leidenschaftlichen Affäre hin, und lieben sich täglich in einem versteckten Apartment-Studio, das der Liebhaber für seine Rendevous nutzt. Nun ist es nicht die Mutter, aber der Oedipal-eifersüchtige Bruder, der zum primären Agens der Züchtigung wird.

An mehreren Stellen korrigiert Duras explizit den Bericht, den sie in Heiße Küste gegeben hat: “Also, es war nicht in der Bar in Réam, wie ich schrieb, wo ich auf den reichen Mann mit der schwarzen Limousine traf, es passierte, nachdem wir das Land bei den Dämmen verlassen hatten, zwei oder drei Jahre später, auf der Fähre, an dem besagten Tag, im Licht von Dunstglocke und Hitze.” Doch beide sind gleichermaßen fiktionale Erzählungen. Die Geschichte bekommt ein durch die Geschichte beschriebenes Palimpsest, als die älter werdende Verfasserin in die indochinesische Story hier und da Szenen aus der Pariser Kriegszeit und Nachkriegszeit einstreut:
„Ich sehe den Krieg, wie ich meine Kindheit sehe. Ich sehe die Kriegszeit und die Herrschaft meines älteren Bruders als eins. … Ich sehe den Krieg, so wie ich ihn sehe, sich überallhin ausbreitend, überall einbrechend, in Gefangenschaft nehmend, immerdar, vermengt und vermischt mit allem, gegenwärtig im Körper, im Kopf, wach und schlafend, die ganze Zeit, eine Beute für die betörende Leidenschaft, dieses entzückende Gebiet zu besetzen, den Körper eines Kindes, die Körper der Schwächeren, der eroberten Menschen. Weil das Böse immerda ist, vor den Toren, gegen die Haut.”

Auffallenderweise findet sie jetzt eine tiefe Verbindung zwischen den Traumata ihrer Jugend und den des Krieges. Sie beschreibt, wie sie und ihr Ehemann mit kollaborierenden Freunden Kontakte pflegen, mit denen sie über Balzac diskutieren. Geschrieben im Jahr 1984 vergleicht sie den Kommunismus in dieser Ära mit dem faschistischen Verbrüdereien ihrer Freunde: “Die Parallele ist allumfassend und absolut. Die beiden Dinge sind dasselbe, dasselbe Mitleid, derselbe Hilferuf, dasselbe fehlende Urteilsvermögen, derselbe Aberglauben, wenn man so will, der darin besteht, in eine politische Situation des persönlichen Problems zu glauben.” Diese erstaunliche Aussage verlagert den Liebhaber in den Kontext der Desillusionierung in die Mitte der 1980er Jahre, mit den ideologischen Versuchen, die Welt neu zu erschaffen.

Duras’ Erzählerin sagt uns zu Beginn: “Die Geschichte meines Lebens existiert nicht. “Es gibt nie ein Zentrum darin. Keinen Pfad, keine Richtung.” Aber wir könnten auch sagen, dass die Geschichte nie aufhört zu existieren, sondern stets in neuen Formen zum Leben findet. Noch bruchstückhafter und mehrdeutiger als Djuna Barnes’ Nachtgewächs, ist Duras’ leidenschaftliches Palimpsest nicht die Wiederentdeckung, sondern die Wiederbeschreibung von verlorener Zeit. Politische und erotische Grenzüberschreitungen vermengen sich in diesem halluzinatorischen Roman, als Duras sich selbst als eine Tochter, Liebhaberin und Schriftstellerin inmitten der Nazi-Belagerung von Paris wiederfindet.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-20-marguerite-duras-lover
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

19. Mai: Paris: Djuna Barnes, „Nachtgewächs“

Hervorgehoben

19. Mai 2020, von Prof. David Damrosch

Als Arnold Bennett 1903 nach Paris zog, ließ er sich im Viertel Montparnasse nieder, wo man an jedem Eckcafé einen Avant-Garde Poeten, Maler oder Romancier treffen konnte. Gertrude Stein kam im selben Jahr, und liess sich gegenüber des Flusses an der Rive Gauche nieder; Pablo Picasso war drei Jahre vorher aus Barcelona hergekommen. In den folgenden Jahren kamen noch viele mehr von überall auf der Welt nach; James Joyce im Jahr 1920, Djuna Barnes und Ernest Hemingway 1921, the guatemalische Surrealist (und zukünftige Literaturnobelpreisträger) Miguel Ángel Asturias 1923, der senegalesische Poet und zukünftige erste Präsident Senegals, Léopold Sédar Senghor, 1928 – die List könnte endlos fortgesetzt werden.
Einige flohen vor politischer Unterdrückung, oder lediglich provinzieller Stagnation, andere suchten nach künstlerischer Inspiration, oder einfach billigen Mieten. Weitere wurden von den Freiheiten der Bohème von normativen Geschlechterrollen angezogen, wie Gertrude Stein und die Dramatikerin Natalie Barney, die beide Künstler-Salons etablieren würden. Nur wenige dieser neuen Ankömmlinge waren so abenteuerlustig, in sexueller und künstlerischer Hinsicht, wie Djuna Barnes, hier gezeigt in einer Fotoaufnahme von Berenice Abbott aus dem Jahre 1925.

Geboren im Jahre 1892 im Norden des US-Staates New York hatte sie sich im New Yorker Greenwich Village als Schriftstellerin, Illustratorin und Journalistin einen Namen gemacht. Ihre skurrilen Interviews porträtierten verschiedene, schillernde Persönlichkeiten wie Coco Chanel, den Evangelisten Billy Sunday, sowie einen weiblichen Gorilla im Zoo der Bronx.Sie wurde ein berühmtes Mitglied der Pariser Kunstwelt der expatriates, und ihre Zeichnungen umfassen auch Porträts von sowohl Joyce als auch Stein.
Ähnlich wie Prousts Verlorene Zeit besitzt NIghtwood (deutsche Ausgabe Nachtgewächs, veröffentlicht 1959) autobiographische Züge um Barnes’ amour fou mit der US-amerikanischen Bildhauerin und Künstlerin Thelma Wood (Berenice Abbott, eine von Woods ehemaligen Liebhaberinnen, stellte Barnes Wood vor). Im Roman ist sie die Figur von Nora Flood, die darauf hofft, in Paris die “Armen-Saloon” zu re-kreieren, die sie in Amerika geleitet hatte, “für Poeten, Radikale, Bettler, Künstler, und Liebende.” Ihre Beziehung selbst wird mit künstlerischem Vokabular beschrieben: “In Noras Herz lag ein Fossil von Robin, der Tiefdruck ihrer Identität, und ihre Lebensader war Noras Blut.”
Passenderweise ziert eine von Woods Skizzen das Cover der Dalkey-Archive-Ausgabe von Nachtgewächs.

Anders als der Grundton von Ernest Hemingway’s nostalgischen und seblstbeweihräucherndern Paris – ein Fest fürs Leben, im englischen Original A Moveable Feast, zeichnet Barnes’ Meisterwerk eine düster-ironisches Porträt der berüchtigten Expatriates an der Left Bank, die meisten von ihnen Schiffbrüchigen von emotionalen Schiffswracks von sonstwo. Robin und Nora lernen den gestrandeten Wiener Ästheten und selbsternannten Baron, Felix Volkbein, kennen, der seinerseits einen zwielichtigen Zirkus vom/von der sexuell fluiden Frau Mann frequentiert. Der irisch-amerikanische Doktor Matthew O’Connor, ein illegaler Abtreibungsarzt, Kleptomane, Transvestit und unablässiger Quassler, steht im Zentrum des Romans. Die anderen Figuren wenden sich an ihn für seinen Rat in ihren stets scheiternden Liebesdingen; und Matthews lebhafte Monologe formen lange Passagen des Romans. “Iren mögen so gewöhnlich wie – entschuldigen Sie – Wahlscheisse – vergeben Sie mir – am Boden des Meeres sein, aber sie besitzen Vorstellungskraft,” sagt er, seine Zuhörerschaft später aber auch warnend: “Ich besitze eine eigene Geschichte, aber es wird für Sie schwer sein, diese zu finden.”

Barnes mühte sich über die Jahre damit, ihre Pariser Erfahrung in eine Form, die ihr rastloses und orientierungsloses Leben verkörpern könnte, zu formen und neu zu formen. SIe fand allmählich zu ihrem Narrativ, indem sie die Werke ihrer älteren Zeitgenossen, besonders Proust und Joyce, umarbeitete. Die Figur des Felix Volkbein, ein ewig umherziehender jüdischer Kunstsammler, ist eine Kreuzung zwischen Leopold Bloom von Joyce and Charles Swann von Proust, während der alternde “Medizinstudent” und ewiger Redner Matthew O’Connor aus Teillen von Buck Mulligan und dem Baron de Charlus besteht.
Anstatt Prousts Dramatik der wiederentdeckten Erinnerung zeigt Barnes die Zwickmühle von Menschen, die ihre sie auffressenden Traumata nicht vergessen können. Nachdem Robin Nora endgültig wegen vieler Affären verlassen hatte, verzweifelt Nora daran, dass sie es nicht schafften “ihr Leben in den Gliedmaßen ihres Gedächtnisses vergessen zu haben, ihre Glieder geformt zu haben, wie Figuren in einem Wachsfigurenkabinett zu ihrer Geschichte geschliffen werden, so dass wir zu unserer Liebe zusammengebrochen wären.”
Barnes beschwört Proust mit dem Titel herbei, als Matthew bemerkt:
“Der Weise sagt, dass die Erinnerung an die Vergangenheit alles ist, was wir für die Zukunft besitzen, und ich bin Schuld, wenn ich zu dieser Zeit aufdrehe, wie ich es nicht hätte tun sollen, als ich eine hohe Sopranstimme wollte, Maisblätterrocke, mit meinen breiten Hüften und straffen Brüsten? Und was krieg ich jetzt dafür – ist das denn Glück, der geschätzten Meinung nach?“
Wie Matthew Jenny Petherbridge charakterisiert, noch eine Figur, die Robin verlassen hat:
“Schau dir ihre Viertel mit den schrecklich groben Schmerzensschreien an; sich gänzlich verschlingend, und die Welt durchsuchend nach einem Weg zurück zu dem, was sie einmal vor langer Zeit wollte? Die vergangene Erinnerung, und nur ein Zufall, ein Lufthauch, das Zittern eines Blattes, eine Schwall an enormer Erinnerung durchfährt sie, und in Ohnmacht, fallend, weiss sie, dass es vergangen ist.”
In Prousts kathedralischem Roman, zentriert um die Lichterstadt, ville lumière, findet Marcel triumphal verlorene Zeit wieder, indem er die weitläufigen Hallen seiner Erinnerung wieder erbaut. Anstatt von Prousts lichtdurchfluteten, optischen Metaphern (die magische Laterne, das Kaleidoskop, das Vergrößerungsglas mit dem wir in unsere Herzen schauen können), durchforsten die Figuren bei Barnes erfolglos die Nacht “mit dem großen blinden Suchscheinwerfern des Herzens.” Wie Felix Volkbein von Robin sagt, die ihn nach dem Scheitern ihrer turbulenten Ehe verlassen hatte: “Je mehr wir von einer Person lernen, desto weniger wissen wir.” Das Paris von Barnes ist bevölkert von verletzten Seelen, die ihre Lehren daraus nie ziehen werden.
Aber dies ist auch ihre grösste Tugend, falls sie akzeptieren können, wie sie sind, und sich die gefallene Welt, so wie sie ist, zu eigen machen können. Das einzige, der von Felix’ und Robins Beziehung übrig geblieben ist, ist Guido, ein autistisches Kind,den Matthew als “unangepasst” diagnostiziert. Aber er führt weiter “Halt! Ich verwende dieses Wort überhaupt nicht im negativen Sinne: Meine großartige Tugend ist es vielmehr, niemals das Abwertende im üblichen Sinne zu verwenden. Also sage ich, Doktor O’Connor, leise, krieche ich leise, und lerne gar nichts, weil es immer von dem Körper einer anderen Person erfahren wird.”

Als sowohl erleuchtete Stadt wie auch als halbfertiges Gebäude für verlorene Seelen “der verlorenen Generation” ist Paris gleichzeitig der Ort des Erinnerns und des Vergessens, ein Treffpunkt für verfolgte Erzähler. Weniger Pariser Schriftsteller wurden kreativer von ihrem frühen erotischen Trauma verfolgt wie Marguerite Duras, der wir uns morgen widmen, wie sie im Paris der Nachkriegszeit die Geschichte ihrer übergriffigen Liebesaffäre als Fünfzehnjärige mit dem “Liebhaber aus Nordchina” im kolonialen Saigon überarbeitet.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-19-djuna-barnes-nightwood
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

18. Mai: Paris: Marcel Proust, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“

Hervorgehoben

18. Mai 2020, von Prof. David Damrosch

Unzählige Schriftsteller haben Paris unsterblich gemacht – oder Paris hat so viele Schriftsteller unsterblich gemacht – dass kein einziger Schriftsteller dort so wie Dickens aus London herausragt, wie Joyce aus Dublin, oder Murasaki Shikibu aus Kyoto. Aber für mich ist Paris Proust, und mit dieser Meinung bin ich kaum allein. Eine Vielzahl an Werken möchten uns zurück in Prousts Welt tragen, garniert mit zeitgeschichtlichen Fotoaufnahmen von Straßenzügen und Porträts von den “echten” Menschen hinter Prousts Figuren. Mein Favorit aus dem “Prousts Paris”-Genre ist ein Album, dessen Cover einen schneidigen jungen Marcel zeigt, – den echten, nicht den literarischen –, der einer junge Dame durch ein Ständchen mit einen Tennisschläger zu bezirzen versucht:

Paris Retrouve
Quelle. privat.

    Wenn Prouts großartiger Roman die verlorene Zeit für ihn wieder aufdeckte, so besitzt dies jetzt die Kraft, Prousts Leben und Zeiten für uns aufzudecken, wie in diesem Werk, das die Passagen von Proust mit den Photographien des Parisian Flâneurs Eugène Atget paarweise verbindet:

Proust Atget
Quelle: privat.

    Der Impuls, “die Originale” von Prousts Schauplätzen zu entdecken, ist so stark, dass die Stadt von Illiers, die Sommerresidenz der Familie, und Vorbild für Combray im Roman, tatsächlich neu in “Illiers-Combray” umbenannt wurde:

Illiers

Jedoch sollten wir uns dessen gewahr sein, dass all diese Schauplätze, und die Leute und Dinge, die sie bevölkern, sich schon längst in etwas viel Reicheres und Sinnträchtigeres verwandelt haben, als sie eigentlich darstellten. Nach Ausbruch des 1. Weltkrieges hat Proust Combray von der Gegend von Illiers wegbewegt, als ob er die Stadt auf den Kriegspfad bringen wollte. Oder man denke an die legendäre “kleine Madeleine”, deren Geschmack Marcels Suche nach der verlorenen in Bewegung setzt.
Diese Szene wurde passenderweise auch in einem von COVID-19-inspirierten Podcast über das “Schreiben in der Quarantäne: Inspirationen für unsere pandemische Zeiten” gefeatured, der von Anna Polonyi vom Paris Institute for Critical Thinking gehostet wird:

Quarantine Quill

Quelle: https://parisinstitute.org/

    In der am Montag, den 20. April geposteten Episode Nr. 26 über das physische Wiedererlebnis der teedurchtränkten Madeleine liest Polonyi die berühmte Passage und referiert über die Wichtigkeit, unsere Verbindung zur physischen Welt aufrecht zu erhalten, und inspiriert ihre Hörer dazu, Beschreibungen zu verfassen, wie Dinge schmecken.
Und doch, dieser sinn(en)bildliche Moment von besinnlicher Sensualität ist nicht das, was Proust selbst erfahren hat. Eine faktenbasierte Version dieses Moments erscheint zu Beginn seines früheren Essays Contre Saint-Beuve, in dem er Schriftsteller beschwört, tiefer als zu oberflächlichen Beobachtungen der gesell                        schaftlichen Welt zu gehen. In seiner ersten Version des Erwachungsmoments bringt ihm Prous Koch (und nicht seine Mutter) eine gewöhnliche Tasse Tee, nicht Lindenblüten-Tisane, in den er … ein Stück Toast tunkt:

“… und in dem Augenblick, in dem ich das Stück Toast in meinen Mund legte, und als ich das Gefühl der Weichheit, durchdrungen mit dem Geschmack des Tees, gegen meinen Gaumen spürte, verspürte ich Aufruhr, eine Szene von Geranien, Orangenbäumen, und einen Sinneseindruck von außergewöhnlichem Licht, von Freude …” 

Mit der Verwandlung einer schnöden, trockenen Brotscheibe, pain grillé, in eine leuchtend-gelbe, saftige, feminine petite madeleine, um deren Form, Geschmack und Geschichte Proust ein vollkommenes Netz von Assoziationen weben wird, können wir die Essenz von Prousts Kunstfertigkeit erkennen

Die tiefe Distanz zwischen Prousts erlebter Erfahrung und die Kunstfertigkeit seines Romans bedeutet jedoch nicht, dass wir falsch darin lagen, zwischen Prousts literarischem Paris und dem realen einen Kontrapunkt zu setzen, oder zwischen Combray und Illiers, solange wir nicht auf eine direkt-passgenaue, buchstäbliche Übereinstimmung bestehen. Im letzten Absatz von Der Weg zu Swann kehrt ein älterer Marcel in den Pariser Park Bois du Boulogne zurück, wo bekümmert feststellt, dass er keinerlei Spuren von Odette de Crécy und den anderen eleganten Damen (wieder)findet, die dort in seiner Jugend spazieren gingen. ”Hier gab es, leider Gottes, nichts als Motorräder, die von schnurbärtigen Mechanikern gefahren werden …”, ruft er aus. In den letzten Zeilen kommt er zum Schluss:
Die Orte, die wir kannten, gehören nun ausschliesslich zu dem kleinen Weltenraum, auf dem wir sie für aus Bequemlichkeit kartographieren. Keiner davon war jemals mehr als eine dünne Schicht, gehalten zwischen verbundenen Eindrücken, die unser Leben zu der Zeit ausgemacht hat; die Erinnerung an eine bestimmte Form ist nichts als das Nachtrauern für einen bestimmten Augenblick; und Häuser, Strassen und Alleen sind flüchtig, leider, wie die Jahre.

Doch Marcel liegt falsch, und es wird ihm weitere zweieinhalbtausend Seiten brauchen, seinen Fehler zu realisieren. Aber wir können bereits seinen Irrtum erahnen, wenn wir von der späten Liebe in Prousts Leben wissen, seinem Chauffeur und Sekretär, Alfred Agostinelli. Agostinelli tippte im Jahr 1913 das Manuskript von Der Weg zu Swann für die Veröffentlichung, aber kurz danach riss er sich los und zog in den Süden von Frankreich. Er fing an, Flugstunden zu nehmen, aber starb bei einem tragischen Unfall – wenn es tatsächlich ein Unfall war. Er hatte sich für seine Stunden unter dem Namen “Marcel Swann” registriert.

Während seines melancholischen Besuchs im Bois du Boulogne am Ende vom Weg zu Swann, hat Marcel keine Ahnung, dass in demselben Augenblick, als er sich nach einer Vision eines ersten erotischen Besessenheit sehnt, seine verlorene Liebe längst schon vor ihm steht, bereit, ihn zu entführen. Am Ende seiner langwierigen Suche bemerkt Marcel in Die wiedergefundene Zeit, dass “die einzig wahren Paradiese die sind, die wir verloren haben”. Paris ist ein Paradies für Generationen an Schriftstellern geworden, jedoch ist es oftmals ein Paradies, das sie gewonnen haben, nachdem sie ihre früheren Illusionen oder deren eigenes Heimatland verloren haben. Und doch, wie wir in den nächsten Tagen sehen werden, können sie sich wiederfinden in einem zurückgewonnenen Paris, wenn sie den doppelten Fußspuren von Marcel Proust und Prousts Marcel folgen.

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-18-paris-proust
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen

15. Mai: London: Arnold Bennett, „Die Laster der kleinen Leute“

Hervorgehoben

15. Mai 2020, von Prof. David Damrosch

Als Clarissa Dalloway am 13. Juni 1923 auf die Bond Street trat, um Blumen für ihre Party am selben Abend zu besorgen, lief sie durch ein sehr anderes London als das, was Arnold Bennett im selben Jahr in seinem Meisterwerk Riceyman Steps, im Deutschen Die Laster der kleinen Leute, porträtiert hat. Bennetts Roman gewann den bedeutenden James Tate Black Buchpreis, der im nächsten Jahr an Woolfs Freund E. M. Forster für sein eigenes Meisterwerk A Passage to India (Reise nach Indien) verliehen werden wird. Jedoch ließ sich der sehr populäre Bennett recht schwer in den gehobeneren Vierteln von Bloomsbury verkaufen. Zurückschauend auf Bennetts Roman, als sie die Arbeit an Mrs Dalloway begann, beschwerte sich Woolf in einem Brief an ihren Freund, “Ich muss Die Laster der kleinen Leute für eine Rede lesen, und ertrinke schon bei deren Vorbereitung in Verzweiflung. So ein Müll, wie Spülwasser. Blasse, dünne Flüssigkeit, in der (vielleicht einmal, aber ich bezweifle es) eine Lammhaxe geschwommen ist.”

Wolf war nicht nur verleidet von Bennetts geradeheraus-deskriptivem Stil, sondern auch von seinen sozial im Arbeitermilieu angesiedelten Thematiken. Der Unterschied zwischen den beiden Büchern wird eindrucksvoll durch die Cover meiner Taschenbuch-Ausgaben illustriert:

Mrs Dalloway cover

Bennett cover
Quelle: privat.

Die Harcourt, Brace Ausgabe von Mrs Dalloway zeigt eine in sich gekehrte, psychisch zerbrechliche Clarissa mit ihren Rosen, mit ein geisterhaft-schemenhaftem Umriss sichtbar auf ihrer Brusthöhe, der ihre Fast-Liebhaberin Sally Seaton sein könnte. Im Gegensatz dazu zeigt die Penguin-Ausgabe die Romankulisse von Riceyman Steps ein lebhaftes Nachbarschaftsviertel mit bescheidenen Häusern und Geschäften im Vordergrund, und im Hintergrund den imposante Glockenturm der St. Pancras Bahnhofsstation, der am Horizont leuchtet.

Die Rede, die Woolf verfassen sollte, wurde zu ihrem Essay “Mr Bennett and Mrs Brown”, in dem sie ihre Argumente gegen ihre alten Rivalen Bennett, H. G. Wells, und John Galsworthy anführt. Sie betrachtet diese als die führenden Repräsentanten einer kommerziellen “Normalo”-Fiktion mit Geschichten von sozialem Aufstieg, die geringere Aufmerksamkeit gegenüber der Charaktertiefe oder der Perfektion des Stiles widmet. Ihre Irritation mit besonders Bennett war von einer Kritik über den Verfall des Romans angefeuert worden, “Is the Novel Decaying?”, die er im Jahre 1923 gegen die wachsende Generation von Modernisten verfasst hatte. Dort stellte er seinerseits Woolf heraus für besonders vernichtendes Lob:
“Ich habe selten ein clevereres Buch als Virginia Woolfs Jakobs Zimmer gelesen, ein Roman, der in einer kleinen Welt grosse Aufruhr verursacht hat: Er birst vor Originalität, und ist exquisit geschrieben. Aber die Figuren überleben nicht im Kopf, weil der Autor detailbesessen mit Originalität und Cleverness überwältigt wurde. Ich betrachte dieses Buch als charakteristisch für die neuen Novellisten, die kürzlich die Aufmerksamkeit der Aufgeweckten und Neugierigen gewonnen haben; und ich erspähe, zugegebenermassen, noch keinen großen zukünftigen Novellisten.”

Woolf wiederum konstruierte in ihrem Essay eine der schlimmsten Abrechnungen in der Geschichte der modernen Literatur. Sie erinnert sich an eine Zugfahrt, auf der sie eine bescheidene, zierliche Frau der Arbeiterschicht beobachtet, die sie “Mrs Brown” taufte, und dessen Innenleben und Lebensgeschichte sie sich in ihrem Kopf für uns vorzustellen beginnt. (Ironischerweise entfaltet sie In ihrem Verriss von Conan Doyle Mrs Browns Lebensgeschichte komplett mit einer Sherlockschen Aufmerksamkeit für mehrdeutige Details.) Ihr Leitmotiv ist dass Bennett, Wells und Gallsworthy ihren Fokus zu sehr darauf legen, über die Probleme im soziale Milieu zu predigen, als die Personen darin dreidimensional(er) zu zeichnen, “um ihren Charakter zu realisieren und selbst in ihre Atmosphäre einzutauchen”. Schlimmer noch, am Ende des Romans “scheint es notwendig zu handeln – entweder mit dem Beitritt in eine Vereinigung, oder, noch verzweifelter, mit einem Scheck. Gesagt, getan, die Unruhe wird beruhigt, und das Buch kann auf Nimmerwiedersehen ins Bücherregal gestellt werden.” Im Gegensatz dazu ruhen so bedeutende Werke wie Tristram Shandy or Stolz und Vorurteil “komplett in sich selbst; und hinterlässt beim Leser keinen Aktionismus, außer dem, das Buch nochmal zur Hand zu nehmen, und es besser zu verstehen.”
Woolf war so erfolgreich mit ihrem Angriff, dass Bennetts Marktwert in der Kritikerszene und sogar auf dem Buchmarkt ins Bodenlose stürzte. Falls der geneigte Leser heutzutage eine Erstausgabe von Mrs Dalloway in gutem Zustand erwerben möchte, mit dem von ihrer Schwester Vanessa entworfenen Buchumschlag, so muss man mit 30.000 US-Dollar bezahlen; der höchste Preis auf abebooks.com liegt gegenwärtig bei 56.000 US-Dollar.

Mra Dalloway cover

Für Die Laster der kleinen Leute liegt der Höchstpreis dafür bei 695 US-Dollar, was nicht einmal einem Prozent von Woolfs Wert ausmacht. Angenommen, man möchte den Roman, der für mich sein anderes Meisterwerk ist, Clayhanger. Höchstpreis für die Erstausgabe? 25 US-Dollar. Veröffentlicht im Jahr 1910 – traurigerweise, genau bevor “in oder um Dezember 1910 sich das menschliche Wesen verändert hat”, nach Woolfs berühmter Verkündigung in ihrem Essay – ist der erste, jemals verfasste Roman für die, soweit ich weiss, noch nicht benannte Alzheimer-Gehirnerkrankung. Und es behandelt nicht nur ein Phänomen in der Medizin; das Werk ist das durchdringende psychologische Porträt des Machtwechsels zwischen dem jungen Clayhanger und seinem Vater, dem der Vater durch den unerbittlichen Krankheitsverlauf unterliegt.

Beginnend im Jahr 1919, ist Die Laster der kleinen Leute eine tief bewegende Studie über die zersetzende Wirkung von Geiz auf Ehemann und Ehefrau aus der unteren Mittelschicht, der “lower-middle-class”, entgegengesetzt mit den Existenzkämpfen ihrer loyalen Dienerin Elsie, während sie mit ihrem eigenen Ehemann zu schaffen hat, der aus dem 1. Weltkrieg mit einer Kriegsneurose traumatisiert zurückgekehrt ist. Das ist natürlich genau das Thema, das Woolf in Mrs Dalloway in der Figur des kriegsversehrten Septimus Warren Smith und seiner italienischen Kriegsbraut Rezia aufnimmt, und ihr Werk befindet sich in dieser Hinsicht viel näher an dem Bennetts, als man je von ihrem Essay aus vermuten möchte.
Woolfs Welt ist vollgepfropft mit Künstlern und Ästheten, von der abstrakten Malerin Lily Briscoe in Zum Leuchtturm zum gender-fluiden Orlando, der/die dreihundert Jahre benötigt, um sein Meisterwerk Orlando zu verfassen. Bennett schreibt seine Fiktion mit der Präzision und Regularität eines Uhrwerkes, und seine Welt besteht nicht aus grossen und missverstandenen Künstlern, sondern aus der umgebenden Welt des Handels. Clayhangers Vater hat die erste dampfbetriebene Druckerei seiner Stadt etabliert, Riceyman Steps’ knauseriger Protagonist Henry Earlforward ist der Besitzer eines staubigen Antiquariats im Londoner Stadtteil von Clerkenwell, einem Zentrum für kleine Manufakturen, Destillerien, und Druckereien. Die materiellen Zwänge dominieren den Roman, von den ausgemergelten Bedingungen des Gebrauchtbuchhandels zu den Fibromen im Unterleib, die seine Frau Violet plagen.

Wie wir in dieser Woche bei der literarischen Erforschung Londons gesehen haben, betreten wir eigentlich eine Reihe von Londons, erbaut auf jeweils anderen Grundpfeilern mit verschiedenen Baustoffen. Diese Londons führen manchmal Krieg gegeneinander, und sind sich bisweilen doch ähnlicher, als die Gegner einräumen möchten. Wir benötigen multiple Londons, die uns helfen, die Traumata von heute, verursacht von Krankheiten, Kriegen und Kriegstreibern zu bewältigen.

Wir brauche auch vielfältige Städte, Länder, Sprachen. Unser nächster Reisestopp wird Paris sein, aber dort waren wir eigentlich schon. Bennett hatte zeitweise seit 1903 in Paris gelebt, und die problembehaftete Ehe im Zentrum von Die Laster der kleinen Leute spiegelt möglicherweise den Zusammenbruch seiner eigenen 1921 zu seiner französischen Frau wider. Er war ein Devotee der französischen Literatur, und schrieb schon früh 1898: “Es scheint mir, dass wir erst in den letzten Jahren von Frankreich die Leidenschaft für eine künstlerisch geformte Darstellung der Wahrheit übernommen haben, und das Gefühl für Worte als Worte, was Flaubert, die Goncourts, und Maupassant animierte.” Diese geformte Darstellung der Wahrheit, und von Fiktion und von unverblümten Lügen, wurde nie mehr so brillant ausgedrückt wie im Werk von Marcel Proust, das in der nächsten Woche unsere Passage nach Paris bildet.
Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-15-arnold-bennett-riceyman-steps
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen

14. Mai: London: P. G. Wodehouse: „In alter Frische“

Hervorgehoben

14. May 2020, von Prof. David Damrosch

Als einer der beliebtesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts revolutionierte Pelham Grenville Wodehouse das moderne, komödiantischen Genre während seiner fünfundsiebzig Jahre währenden Karriere, mit einem zügellos tumultuarischen, geschichteten Prosa-Stil, um eine Welt aus stümperhaften Aristokraten, gewieften Bediensteten, starken jungen Frauen, herausragenden Seelenklempnern, und wohltätigen oder missgünstigen Tanten. Um seine London-Farce mit seinen Landgütern erfinden zu können, musste sich Wodehouse erst einmal selbst (er)finden.

Geboren 1881 in Surrey, England, wurde er nach Hong Kong gebracht, wo sein Vater als Kolonial-Magistrat arbeitete. Im Alter von zwei Jahren wurde Wodehouse zurück nach England verschifft, und wurde danach dort von Tanten und Onkeln erzogen – er hatte fast drei Dutzend davon, und Tanten und Onkel nehmen in seinen Romanen eine dominantere Rolle ein als entfernte Mütter und Väter. Kurz bevor er im Jahr 1900 seinem älteren Bruder an die Oxford-Universität nachfolgte, erlitt sein Vater einen Sonnenschlag und musste mit einer kleinen Invalidenpension in Rente gehen. Wodehose bekam, ähnlich wie T. S. Eliot ein paar Jahre später als er, eine Anstellung bei einer Bank, und schrieb unaufhörlich nachts. Im Jahr 1902 wurde ihm eine kurzzeitige Zeitungskolumne bei einer kleinen Satire-Zeitung angeboten, während der reguläre Kolumnist auf Urlaub war; und, gezwungen, zwischen der Anstellung bei der Bank und diesem auf fünf Wochen befristeten Job zu wählen, verliess Wodehouse die Bank, und kehrte nie wieder dahin zurück. 

Er begann 1909, New York zu besuchen, und wollte sich dort,in der größeren US-amerikanischen Verlagsszene, einen Namen machen, und hofft auch, für die Broadway-Bühnen zu schreiben. Er war zu Beginn des 1. Weltkrieges in New York, wo er während des Krieges auch blieb, und wurde bis 1917 eine der aktivsten Autoren am Broadway, mit fünf gleichzeitig laufenden Shows – ein Rekord, der davor oder danach nie gebrochen wurde, und arbeitete mit Drehbuchautor Guy Bolton and Komponisten Jerome Kern zusammen.

Wodehouse sitting pretty
Quelle: privat.

Wodehouses Engagement für das Theater hatte einen entscheidenden Einfluss auf seine Fiktion, die sich von realistischen Schul- und Liebesgeschichten zu mehr und mehr farcenhaften, ausgelassen Spässen wandelte. Wodehouse schrieb später, “Meiner Meinung nach gibt es nur zwei Arten, einen Roman zu schreiben. Eine davon ist meine, aus dem Material eine Art musikalische Komödie ohne Musik zu machen, die das reale Leben komplett ignoriert; die andere ist es, tief ins Leben einzutauchen, ohne Rücksicht auf Verluste.”

Wodehouses selbstironisches Statement untergräbt die stete Verwurzelung seiner Geschichten in die Realität, amplifiziert durch seine Aufmerksamkeit an die Bühnenkunst – die Bewegung von echten Körpern und die Handhabung von echten Requisiten auf der Bühne. Detektivgeschichten waren ein weiteres Genre, das Wodehouse Zeit seines Lebens inspiriert hat. 1975, im Alter von vierundneunzig Jahren, verfasste er ein Vorwort für eine Ausgabe Das Zeichen der Vier von Conan Doyle.

Conan Doyle Wodehouse
Quelle: privat.

In diesem Vorwort zeugte er seinem grossen Vorgänger Anerkennung: “Als ich zu schreiben begann – das war ungefähr zur Zeit, als Caxton die Druckpresse erfand – war Conan Doyle mein Held. Andere mögen Hardy and Meredith verehrt haben. Ich war ein Doyle-Fan, und das bin ich immer noch.” In den Jahren vor dem 1. Weltkrieg befreundeten sich er und sein Held, und spielten regelmäßig Cricket. Wodehouses berühmteste Figuren, der inkompetente Bertie Wooster und sein brillanter “Gentleman der Gentlemen” Jeeves, erinnern oftmals an Holmes und Watson, mit einem ehrfürchtigen Bertie, der Jeeves’ Talent bewundert, Rätsel zu erraten und jedes persönliche Dilemma zu lösen. Passenderweise ist Bertie selbst am glücklichsten, wenn er sich mit einem Thriller wie The Man with the Missing Toe zurückziehen kann.

Wodehouses farcenhafter Realismus erreichte seine erste Blütezeit in seinem frühen Bestseller, Something Fresh, in den USA publiziert mit dem Titel Something New, und mit dem deutschen Titel “In alter Frische”, aus dem Jahre 1915. Mit Bezug auf seine eigene Erfahrung als ein sich abkämpfender Schriftsteller erzählt Wodehouse die Geschichte von Ashe Marsden, der im Hamsterrad gefangen ist, eine monatliche Kolumne unter dem Namen “Die Abenteuer des Detektives Gridley Quayle” für den Verlag Mammoth Publishing Company zu verfassen:

Diese unheilige Allianz schritt nun schon mehr als zwei Jahre voran, und es schien Ashe, dass Gridley jeden Monat weniger menschlich erschien. Er war so selbstgefällig und so unerträglich blind, so dass er nur mit dem größten Glück irgendetwas erahnen konnte. Abhängig von Gridley Quayle für sein Einkommen zu sein, war, wie angekettet an ein schreckliches Monster zu sein.

Ashes Schicksal verändert sich, als er auf das Landgut von Clarence, dem Earl of Emsworth, eingeladen wird, dessen Liebesgunst der Empress of Blandings gilt. In Blandings trifft Ashe auf eine andere, ebenfalls mittellose Schriftstellerin, Joan Valentine, die Geschichten von Lords und Ladies am Fließband für Frauenmagazine verfasst. Ashe und Joan vereinen erfolgreich ihre Talente – und ihre Genres –, um ein irrsinniges Rätsel in Clarences Landhaus zu lösen, und sichern so ihre Liebe und ihr Auskommen. 

Wodehouse entwickelte über die Jahre hinweg eine lange Serie von Geschichten und Romanen, die seine liebsten Figuren und Kulissen zeigen, ganz besonders Lord Emsworths Blandings Castle und Berties und Jeeves’ Londoner Wohnung. Ein Kritiker beschuldigte Wodehouse bereits im Jahr 1928 des Plagiats, einen Vorwurf, den Wodehouse mit Vergnügen in seinem nächsten Roman thematisierte, Fish Preferred: “Ein bestimmter Kritiker – da diese Art von Leuten leider existiert – äußerte eine Garstigkeit über meinen letzten Roman, dass er ‘all die alten Wodehouse-Charaktere unter anderen Namen’ enthalte. Mit meiner überdurchschnittlichen Intelligenz habe ich diesen Mann übertroffen und diesmal die alten Wodehouse-Charaktere unter demselben Namen eingefügt. Jetzt kommt er sich doch ziemlich dumm vor, zumindest hoffe ich das.”

Da er bis in seine neunziger Lebensjahre schrieb, arbeitete Wodehouse sein alten Figuren und Kulissen mit unvermindert vergnüglicher Verve und sprachlichem Erfindungsgeist. Seine Romane spielten immer mehr offen mit den Vergnügungen ihrer eigenen Konventionen. Nachdem er Bertie Wooster über mehrere Jahre in mehreren Werken eingeschüchtert hatte, schockte der Psychiater Sir Roderick Glossop Bertie, als er in Verkleidung eines Butlers namens Schwertfisch auftaucht. Aber Bertie sollte darüber nicht überrascht sein, da er und Sir Roderick sich fünfundzwanzig Jahre früher als Schwarzer geschminkter Varietesänger verkleideten (Thank You, Jeeves). In Uncle Fred in the Springtime aus dem Jahre 1939 verweilt der Earl of Ickham im Schloss Blandings, verkleidet als Sir Roderick selbst.

Wie Graf Westwest in Kafkas Schloss wird das Schloss Blandings mit fast ethnographischer Manier scharf beobachtet. Beide sind obskure, geschlossene Gesellschaften, deren Regelwerk dem Beobachter nach und nach offengelegt wird, oftmals durch die Anstrengungen eines Eindringlings oder eines Hochstaplers. In einem Vorwort einer Neuauflage von In alter Frische aus dem Jahre 1968 notiert ein siebenundachtzigjähriger Wodehouse, dass Blandings Betrüger behause, wie andere Häuse Mäuse, und fügt hinzu: “Es wird aber mal Zeit, dass der nächste einzieht, ohne mindestens einen Schwindler ist Blandings Castle nicht dasselbe.” Wie Kafkas symbolträchtige Schauplätze liegen Wodehouses farcenhafte Kulissen zwischen Fantastik und Realismus, und bieten den perfekten, intermediären Nährboden, auf dem dieses System, im Rahmen seiner internen Logik, wachsen kann, selbst wenn es kontinuierlich schräg auf die bekannte Welt zurückverweist.   

Die Gegenwart wird in Wodehouses späterem Schaffen gestreift, jedoch spielt seine Fiktion weiter im Umfeld von den fundamentalen Realitäten von wirtschaftlicher Bedürfnissen und familiären Erwartungen. Seine Werke sind bevölkert von jungen Söhnen, deren Väter es hassen, sie auszuhalten zu müssen, die sich ihrerseits komischerweise nur halb bewusst ihrer paralytischen Unreife sind – Bertie und seine Freunde gehören einer Verbindung namens “Die Drohnen” an. Diese passiven jungen Jüngelchen werden von kämpferischen Heldinnen ausgeglichen, die sie auf ihrem Weg in die Welt an die Hand nehmen, in sehr modernen Szenarien von individueller Selbst-Erfindung und Weiterentwicklung.

Wodehouses achtundneunzig Bücher wurden in mehr als dreissig Sprachen übersetzt, und haben zweistellige Millionen von Büchern verkauft. Er ist ein unglaublich beliebter Autor, jedoch nicht originär oder thematisch der Arbeiterklasse verhaftet; sein Schreibstil ist anti-modern, aber seine ausführliche, vielstimmige Prosa mischt komödienhaft hohe und niedrigere Style, und Variete-Liedtexte aus Musikhallen mit Shakespeare. Wodehouse genoss es, mit seinem Zwischenstatus zu spielen.

In The Clicking of Cuthbert unternimmt ein düsterer russischer Autor namens Vladimir Brusiloff eine Lesereise durch die Vereinigten Staaten. Obwohl seine eigenen Werke “graue Studien von hoffnungsloser Verzweiflung” sind, in denen “nichts passiert, bis ein Bauer auf Seite 380 Selbstmord begeht”, lehnt Brusiloff den Vergleich zu seinen düsteren sozialistisch-realistischen Zeitgenossen Sovietski und Nastikoff ab.

“Keine Schriftsteller gut, ausser mir”, insistiert Brusiloff, und seine Worte rollen aus den Tiefen seines dichten Bartes. “Sovietski – yah! Nastikoff – bah! Ich spucke auf sie alle. Keine Schriftsteller gut, ausser mir. P. G. Wodehouse und Tolstoi, nicht schlecht. Nicht gut, aber nicht schlecht. Keine Schriftsteller gut, ausser mir.” Seinem Schöpfer höflicherweise einen Rang über Tolstoi einräumend, verewigt er Wodehouse im Schrein des Herzens der Weltliteratur. 

Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-14-p-g-wodehouse-something-fresh

Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

13. Mai: London: Arthur Conan Doyle, „Sherlock Holmes“

13. Mai 2020, von Prof. David Damrosch

Wenige literarische Figuren haben so viele Spuren in der Weltliteratur hinterlassen wie die des Sherlock Holmes. Holmes hält den derzeitigen Rekord gemäss des Guinness Book of World Records – keine andere literarische Figur der Literaturgeschichte wurde häufiger für Film und Fernsehen umgesetzt. Eine Vielzahl von Autoren haben ihn und seinen treuen Begleiter Dr. Watson adaptiert, entweder unter ihren originären Namen, oder in ihren eigenen, jedoch leicht erkennbaren Versionen adaptiert, wie Umberto Ecos im Mittelalter spielenden Bestseller Der Name der Rose, mit William von Baskerville und dem naiven Adso von Melk als seinen Watson.

Außerhalb seines fruchtbaren literarischen Nachlebens hat sich Sherlocks Existenz spürbar in London materialisiert. Mehr als die Hälfte der Befragten hielten, gemäß einer kürzlich von der BBC durchgeführten Umfrage unter britischen Teenagern, Holmes für einen lebenden Menschen. Obwohl er, technisch gesehen, nie existiert hat, kann man seine liebevoll nachkonstruierte Heimstätte in der Baker Street Nr. 221B, jetzt im Sherlock-Holmes-Museum, besuchen. Eine Plakette über dem Eingang identifiziert seinen berühmten Bewohner, aber dem aufmerksamen Beobachter sollte mit Sherlock-Blick auffallen, dass die Daten darauf nicht sein nicht-existierendes Leben Leben beziehen, sondern auf die Jahre, in denen die Geschichte spielt.
Diese eine außergewöhnliche weltweite Präsenz Holmes und Watson genießen, verdankt ihre Lebendigkeit weniger ihrer psychologischen Komplexität als Joyces Leopold Bloom oder Woolfs Clarissa Dalloway, die unseren Nerv treffen. Virginia Woolf selbst konnte Conan Doyles Geschichten nicht ausstehen. Wie sie in einem Essay über ihren Rivalen Arnold Bennett bemerkte,mit dem wir uns in zwei Tagen beschäftigen werden: “Eine literarische Figur mag für für Herrn Bennett real sein, jedoch echt nicht real für mich … er behauptet, dass Dr. Watson in Sherlock Holmes real für ihn sei: für mich ist Dr. Watson eine Strohpuppe, eine Witzfigur.”

Umso weniger hat die überzeugende Welt von Holmes und Watson zu tun haben mit den bewegend detaillierten Beschreibungen von London. In seiner Einführungsgeschichte, Eine Studie in Scharlachrot, als Holmes und Watson den entscheidenden Beschluss fassen, zusammen in die Baker Street Nr. 221B einzuziehen, und alles, was wir erfahren, ist dass ihre Behausung aus “ein paar bequemen Schlafzimmern und einem luftigen Wohnzimmer besteht, heiter eingerichtet, von zwei großen Fenstern beleuchtet.” Die “heiteren” Möbelstücke verdienen keine weitere Beschreibung, während der Ausblick aus den grossen Fenstern trostlos genug ist, um Sherlock in die Drogensucht zu ziehen. In Im Zeichen der Vier, als Holmes Watson seinen Kokainrückfall erklärt, als er keine Causa hat, sein Leben aufzuheitern: “Wofür lohnt es sich zu leben? Stellen Sie sich doch mal hier ans Fenster. Hat es jemals so eine trostlose, düstere und nichtige Welt gegeben? Schauen Sie sich an, wie die gelben Nebelschwaden über die graubraunen Häusern durch die Strassen wabern. Was könnte denn noch mehr hoffnungslos prosaisch und materiell sein?”

Conan Doyles Welt ist nur teilweise auf den Fragmenten von prosaischer, materieller Realität erbaut, gewöhnlich durchzogen mit Hinweisen, es ist eine Welt aus Geschichten, geschichtet auf Geschichten. Bereits im zweiten Kapitel von Eine Studie in Scharlachrot kritisiert Holmes die Detektivgeschichten seines Vorgängers Edgar Allan Poe (dessen Inspektor Dupin “keinesfalls so ein Phänomen war, wie Poe es sich imaginierte”) und Émile Gaboriaus Monsieur Lecoq, der “ein kläglicher Pfuscher war”. Was Holmes auszeichnet ist seine Gabe, die Geschichte hinter einer Person oder Objekt abzuleiten, egal wie offensichtlich. Schon früh in Das Zeichen der Vier demonstriert er sein Talent, indem er Watsons Taschenuhr untersucht. Die scheinbar nutzlose Uhr offenbart die ganze Lebensgeschichte des vergeudeten Lebens seines Bruders, der letztendlich an seiner Alkoholsucht starb. Watson ist bestürzt, dass Sherlock so viel über seinen verlorenen Bruder weissagen kann – dessen Existenz er nie erwähnt hat – und bringt Sherlock für einen Moment in Verlegenheit. “Mein lieber Doktor”, sagt er liebevoll ”ich bitte inständig, bitte nehme Sie bitte meine Entschuldigung an. Ich betrachtet die Angelegenheit als abstraktes Problem, mir war entgangen, wie persönlich und schmerzhaft diese Sache für Sie sein mag.”

Schriftsteller deuten oftmals Ereignisse außerhalb der Grenzen ihrer Arbeit an, und suggerieren damit, dass ihre Geschichte außerhalb der papiernen Welt stattfindet. Im Fallbuch von Sherlock Holmes nimmt Holmes Bezug auf nie veröffentlichte Fälle, inklusive der einen, die “die gigantische Ratte von Sumatra, eine Geschichte für die die Welt noch nicht bereit ist” (Der Vampir von Sussex). Hier deutet Holmes auf ein voller gelebtes Leben außerhalb der Grenzen der Geschichte an, oder genauer, ein “Fall-Buch” von Geschichten außerhalb der Geschichte der “Vampirin von Sussex”. 

Er blättert gerade durch sein Fallbuch, nach einer Spur suchend, weil er bezweifelt, die Situation zu verkraften, die er gerade untersuchen muss: Eine junge Mutter wurde bei der Blutaussaugung vom Hals ihres Babys entdeckt”. 

“Aber was wissen wir denn wirklich von Vampiren?” fragt er Watson, “wir wurden hier auf ein Grimmsches Märchen umgeleitet.” “Umgelegt” (“switched” im Originaltext) fungiert hier als Eisenbahn-Metapher, nicht als eine elektrische. Holmes befürchtet, dass er möglicherweise gerade auf eine Horrorgeschichte weggeleitet wird, fehlgeleitet von seinem gewöhnlichen Genre von rational lösbaren Kriminalfällen. Glücklicherweise, als er Watson vom Ende der Geschichte erzählt, kommt er fast sofort auf die Lösung, dank “des Zuges der Räson, die meine Gedanken in der Baker Street durchfahren hat”, sogar bevor sie den Zug um Punkt zwei Uhr an der Victoria Station besteigen, um nach Sussex zu fahren. 

Conan Doyle verstärkt die Weltlichkeit seines Werkes durch eine metafiktionale Referenz auf eine erfundene Geschichte über eine imaginäre Spezies auf der anderen Seite der Erdkugel. Die Welt war vielleicht nicht bereit, eine so extravagante Geschichte von Sherlock Holmes wie die über eine Vampirmutter zu lesen, aber Conan Doyle hat die Welt vollstens bereit für das Konzept einer gigantischen Ratte von Sumatra gemacht – so erfolgreich, dass einige Autoren später diese Fabelwesen-Geschichte tatsächlich für ihn verfasst haben. 

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Quelle: privat.

Aber die Geschichte geht noch weiter: Als im Jahr 2007 tatsächlich ein besonders grosse Rattenart in Papua Neuguinea entdeckt wurde, wurde der Fund von der New York Times mit der Headline angekündigt: “Die gigantische Rate von Sumatra lebt” obwohl selbst der Reporter einräumen musste, dass Papua Neuguinea sich “ein paar Inseln zu weit rechts” befindet – eigentlich sogar fast dreitausend Meilen entfernt. Gigantische Ratten mögen eines Tages in Sumatra auftauchen – eingeschmuggelt, falls notwendig, von Holmes-Fans – aber Vampires werden sicherlich nicht auftauchen.

Obwohl die Mutter verkündet, dass Holmes “magische Kräfte besitze”, hat “der große Detektiv eine weltliche Erklärung für ihr bizarres Verhalten gefunden (das Aussaugen des Gifts Curare, mit dem das eifersüchtige Stiefgeschwister seinen kleinen Rivalen vergiften wollte). Wie Holmes zu Watson sagt “Diese Handlung steht fest auf der Erde, und so muss es auch dort bleiben. Die Welt ist groß genug für uns. Geister müssen sich gar nicht erst bewerben.” Das weltweite Netzwerk von Baker-Street-Irregularitäten bezeugt das hartnäckige Verlangen seiner Anhänger, seine Welt auf die Dimensionen unser eigenen passend zu machen, selbst wenn sie insgeheim wissen, dass es kein lang verlorenes Fallbuch in einem Eisenbahnwaggon irgendwo existiert, jenseits des gegenwärtig existierenden Kanons von vier Romanen und sechsundfünfzig Geschichten.

Sherlock ist der einzige “privat arbeitende, beratende Detektiv” der Welt; seine einzigartiges Talent besteht darin, den Sinn von Geschehnissen zu ergründen, der anderen Detektiven verborgen bleibt. Seine investigativen Meisterleistungen betreibt er oftmals, ohne sich aus der sozial distanzierten Abgeschiedenheit seiner Behausung zu rühren. Sherlock hat nur wenige Freunde an der Universität gefunden, bevor er das Studium nach zwei Jahren abbrach, er hat nie eine Polizeilaufbahn eingeschlagen, er hat den Ritterstand abgelehnt, und er hat kein stabiles Einkommen. Geschichten sind das einzige, das ihn von einem tieferen Absturz in die Abhängigkeit bewahren. 

Watson seinerseits betritt Sherlocks Orbit, als sein aktives Leben vorbei ist, und wurde im Anglo-Afghanischen Krieg fast tödlich verwundet. Wie er uns auf der ersten Seite von Eine Studie in Scharlachrot sagt: “Die Propaganda brachte vielen Ehren und Aufstieg, aber für mich barg es nur Unglück und Disaster.” Genau “in der fatalen Schlacht von Maiwand” erlitt er die Verletzung, die seine militärische Laufbahn beendete. Im Kampf vom 27. Juli 1880 war eine erniedrigende Niederlage, in der die Briten fast Tausend Soldaten verloren.Kriegsversehrt von seiner Verletzung, und ausgelaugt von einer Typhuserkrankung kehrt Watson zurück, in seinen Worten “zu einem London, einer großen Kloake, in das alle Faulpelze und Müssiggänger des Empires unweigerlich gespült werden.” Obwohl Conan Doyle während der Hoch-Zeit des Britischen Empires schrieb, erinnert Watsons London an das fern plätschernde Abwasser eines kollabierenden Imperiums. Aber mit Sherlock erwacht er erneut zum Leben, der ihn seinerseits verzweifelt braucht – nicht als sein Liebhaber (wie einige Schriftsteller später vermuteten), sondern als sein Geschichtenerzähler. Als der König von Böhmen ihre Behausung in Ein Skandal in Böhmen betritt und eine private Konsultation verlangt, will Watson austreten, aber Holmes insistiert auf das Bleiben des verwundeten Doktor-zum-Schriftstellers. “Bleiben Sie hier. Ohne meinen Boswell bin ich verloren.” In einer Welt, in der alle medizinische, soziale und politische Ordnungssysteme kurz vor dem Kollaps zu stehen scheinen, sind wir ohne unsere Geschichtenerzähler verloren.
Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-13-arthur-conan-doyle-complete-sherlock-holmes
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

12. Mai: London: Charles Dickens, „Große Erwartungen“

12. May 2020, von David Damrosch

In David Copperfield, einem Essay der im selben Jahr wie Mrs Dalloway veröffentlicht wurde, versuchte sich Virginia Woolf mit ihrer lebenslangen Ambivalenz gegenüber Dickens’ Werk zu arrangieren: Anstatt der Feinheiten menschlicher Emotionen, die uns andere großartige Schriftsteller geben, ist es das, woran wir uns von seinen Werken erinnern:
    “der Feuereifer, die Aufregung, der Humor, die Sonderbarkeiten der menschlichen Charaktere, der Geruch und Geschmack und Russ von London; die unglaublichsten Zufälle, die die am voneinander entferntesten Leben verbinden; die Stadt, die Gerichtshöfe, die Nase dieses Mannes, das Humpeln jenes Mannes; ein flüchtiger Augenblick unter einem Torbogen oder auf der Händelstraße, und obendrüber ein gigantische und herrschende Figur, so ausgestopft und aufgeschwollen mit Leben, dass er nicht allein existiert, sondern zur seiner eigenen Verwirklichung einen Heerschar von anderen zu benötigen scheint.”
Sie stellt fest, dass “sich vielleicht keine lebende Person daran erinnern kann, David Copperfield zum ersten Mal gelesen zu haben.”: Er sei zu mehr als nur einem Schriftsteller geworden; vielmehr “eine Institution, ein Denkmal, eine öffentliche Durchfahrtsstrasse, staubig zertrampelt von einer Million Füssen” – gleichzeitig wohl zerstampft von der Heerschar seiner literarischen Figuren und von seinen Millionen von begierigen Lesern.
Dickens hat, natürlich in meinem Fall, mein Bild im Kopf von London geform und tief geprägt; viele Jahre, bevor ich selbst Fuss dorthin setzte. Sein London kam zu mir durch meine fast in Vergessenheit geratene erste Lektüre von David Copperfield, oder vielleicht sogar noch früher, via TV-Ausstrahlungen von A Christmas Carol (Eine Weihnachtsgeschichte) und mit der im Jahr 1935 veröffentlichten Verfilmung von David Copperfield selbst, mit W. C. Fields als Mr. Macawber in der Hauptrolle.
Besonders in lebhafter Erinnerung für einen in den 50er Jahren aufgewachsenen Jungen blieben David Leans Adaptierungen von Oliver Twist aus dem Jahr 1948 und von Große Erwartungen aus dem Jahr 1946 – vom British Film Institute im Jahr 1999 als einer der fünf besten britischen Filme aller Zeiten anerkannt.
Wenige Schriftsteller und ihre Städte sind so eng miteinander verbandelt wie Dickens und London. Bis zum heutigen Tag gibt es eine Fülle von Stadtführern und Webseiten, die zu einem Spaziergang auf den Spuren von “Dickens’ London” einladen.Dutzende von Schauplätzen werden zur Schau gestellt, wie beispielsweise der Kuriositätenladen, der Old Curiosity Shop, der als Zentrum des gleichnamigen Romans fungiert, jetzt quasi von Dickens unsterblich gemacht, wie die Schaufensterfassade stolz verkündet:

Quelle: https://www.charlesdickenspage.com/charles-dickens-old-curiosity-shop.html
Das London in meiner frühesten Vorstellung fußte größtenteils auf Dickens’ Werk, eine literarische Fleischwerdung von Oscar Wildes Behauptung, dass die Londoner Nebel in Wirklichkeit von den Impressionisten erfunden worden waren. In seinem brillanten Essay Der Verfall der Lüge fragte er: “Wo, wenn nicht von den Impressionisten, bekommen wir diese magischen bräunlichen Nebel, die durch unsere Straßen wabern, das Licht der Gaslampen vertrüben und die Häuserschluchten in monströse Schatten verwandeln?” Er räumt ein, dass “Nebel seit Jahrhunderten in London zwar existieren mögen. Ja, es gibt sie wirklich, denke ich. Aber keiner hat sie je gesehen … Sie existierten erst, als sie die Kunst erfunden hatte.” Von Dickens’ Rührseligkeit abgeschreckt, wäre Wilde jedoch nie selbst auf einer Dickens-Tour mitgetrabt. Wie er bekanntermaßen über die tragische kleine Heldin von The Old Curiosity Shop verkündete, “Man muss schon ein Herz aus Stein haben, um beim Tod der kleinen Nell nicht in Lachen auszubrechen.”
Virginia Woolf war selbst nicht erpicht darauf, in Dickens’ London zu leben, da sie und ihre Freunde besessen davon waren, ein London und einen bestimmten Schreibmodus zu “erschreiben”, das mehr ihren Vorstellungen entsprach. Wie sie mit etwas Schärfe in ihrem Essay über David Copperfield bemerkt, “Seine Sympathien sind gewiss eng gesteckt. Grob gesagt versagen sie ihm, wenn ein Mann oder eine Frau mehr als zweitausend im Jahr verdient, die Universität besucht hat, oder seine Vorfahren bis in die dritte Generation nachverfolgen kann,” und sie vermisst die emotionale Komplexität, wie sie George Eliot und danach Henry James in ihren Werken herausarbeiteten. Gleichzeitig sieht sie in Dickens die Vorhut einer aktiven Anteilnahme der Leserschaft, wie sie sie selbst zu erzeugen versuchte. Dickens’ “Fruchtbarkeit und scheinbare Nicht-Reflexion”, sagt sie, “üben eine sonderbare Wirkung aus. Sie machen uns zu Schöpfern, nicht mehr nur Lesern und Zuschauern … Raffinesse und Komplexität existieren alle da, wenn wir genau wissen, wo wir danach suchen müssen, falls wir den Überraschungseffekt überwinden, wenn – scheinbar, mit anderer Konvention dafür sozialisiert – wir sie an den falschen Orten finden.”
Dickens’ später verfasste Werke besitzen einen höheren Grad an psychologischer Komplexität und künstlerischem Aufbau, als wir sie in seinen frühen Werken wie Nicholas Nickleby und David Copperfield finden. Woolf entschied jedoch, sich auf den frühen Dickens zu fokussieren, als auf den Schriftsteller von reiferen Meisterwerken wie Bleak House und Große Erwartungen, die ihr vielleicht zu nahe standen. Genau diese Werke sind, anders als seine früheren Romane, für mich ein wiederholtes Lesen wert.
Ueber Die Jahre hinweg habe ich nicht weniger als fünf Ausgaben von Große Erwartungen erworben, und jede verkörpert eine andere “Heranlesensweise”, die zweifelsohne die Verlagserwartungen an die Leserreichweite und Verkaufsstimuli widerspiegelt. Eine ältere Ausgabe ist Teil eines mehrbändigen Gesammelten Werke von Charles Dickens, die den Roman in den Kontext des Gesamtwerkes des Schriftstellers einordnet. Die viktorianische Leserschaft liebte es, solche Sammlungen zu erwerben, die sie die langen Winterabende hindurch verschlingen konnten, als es solche Annehmlichkeiten wie HBO- oder Netflix-Serien-Streams noch nicht gab. Dickens selbst editierte die erste Ausgabe seiner gesammelten Werke im Jahr 1867, aber seine Leserschaft erfuhr zum ersten Mal sein Werk als serieller Abfolge. Große Erwartungen wurden in seiner Zeitschrift, All Year Round, in wöchentlichen Ausgaben über den Zeitraum von neun Monaten von 1860 bis 1861 publiziert, und er adaptierte seinen Arbeitsrhythmus so intensiv, wie Phileas Fogg es ein Jahrzehnt später bei seiner Weltreise tun sollte.
In den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod wurden Dickens’ Erzählungen als populäre Unterhaltungsliteratur, am besten geeignet für eine jüngere Leserschaft, angesehen. In einer meiner in New York veröffentlichten, jedoch undatierten Ausgaben (im Zeitraum vom Jahrhundertwechsel) von Große Erwartungen findet sich der Hinweis auf die Sammelreihe “BÜCHER FÜR JUNGEN”. Weitere zwei Dutzend Werbeanzeigen sind auf auf der Rückseite des Buches aufgedruckt, weitere Bände mit interessanten Titeln wie Tom the Bootblack, Dan the Newsboy, and Wrecked on Spider Island. Aufgewachsen in Maine hätte ich die Lektüre Jack, the Hunchback gewiss genossen, gemäss der Inhaltsangabe “die Geschichte der interessanten Irrungen, Wirrungen und Erfolgswege eines kleinen, buckligen Jack aus Cape Elizabeth an der Küste von Maine.”
Dickens’ Oeuvre erfuhr eine Renaissance zur Mitte des letzten Jahrhunderts, als eine Generation der New Critics begann, sich tiefergehend mit seinem Werk zu beschäftigen. Meine nächste Ausgabe aus dem Jahr 1963 war als“Signet Classic” tituliert, verziert mit einer gruseligen Abbildung des Sträflings Magwitch, der sich auf dem Friedhof versteckt, auf den Dickens’ Held Pip zu Beginn der Erzählung trifft. Diese Ausgabe besitzt ein Nachwort des britischen Schriftstellers Angus Wilson, und der Text auf dem Buchrücken betont dass “Große Erwartungen ist ein faszinierend-geheimnisvoller, raffiniert aufgebauter Roman mit gleichzeitig fesselndem Spannungsbogen und einer tiefergehenden moralischen Abhandlung.”
Verschiedene Herausgeber haben so über die Jahre hinweg der Welt deutlich unterschiedliche “Großen Erwartungen” präsentiert, und ein Werk kann sich der mit Handschrift eines jeden Herausgebers verändern, so wie sich der Geschmack der Zeit dem Wandel unterzogen ist. Hier sind meine beiden Ausgaben des Penguin-Verlags, die erste las ich in meinem ersten Studienjahr 1971, die zweite verwendete ich in meinem eigenen Unterricht in den späten 90ern.

Great Expectations cover 1
Great Expectations cover 2

Beide Ausgaben sind für den universitären Gebrauch genauso wie auf die allgemeine Leserschaft zugeschnitten. Sie sind ausführlich annotiert, versehen mit Vorworten von namhaften Literaturwissenschaftlern und Bibliographien mit weiteren Lesehinweisen. So ähnlich sie sich darin sind, so verschieden sind die Buchcover. Die ältere Ausgabe zeigt einen Ausschnitt eines Gemäldes von J. M. W. Turner aus dem Jahr 1860, mit dem Titel, A Country Blacksmith disputing upon the price of iron, and the price charged to the butcher for shoeing his poney. Dieses Bild erinnert an die Feuerstelle des großen Freundes und Beschützers Joe Gargery vom kleinen Pip, und setzt den Roman realistisch inmitten eines Ausschnitts des mit-viktorianischen Englands in Szene.
Die neuere Ausgabe des Buchillustration zeigt eine geisterhafte Landschaft des deutschen Malers und Romantikers Caspar David Friedrich, Der Friedhof aus dem Jahre 1825, von Dickens’ Roman in Zeit und Raum weit entfernt. Das nebelverhüllte “Todesland” (“deathscape”, wie von einem Kunsthistoriker beschrieben) erinnert eher an das Satis-Geisterhaus von Miss Havisham als an den ärmlichen Friedhof, wo der junge Pip anhand ihrer Grabsteine den Charakter seiner Eltern zu entziffern versucht. (“Der Kontur der Buchstaben auf meines Vaters Grab gaben mir die merkwürdige Vorstellung, dass er ein kastenförmig-gedrungener Mann sein mit dunklem gelockten Haar sein müsse.”)
Diese Vielfalt der Roman-Ausgaben, von einem Knabenabenteuer bis zum Einblick in das Leben im traditionellen England, zur Proto-Symbolik einer Landschaft, vermengt sich mit meinem eigenen Lebensweg. Meine eigenen Großen Erwartungen habe ich im Alter von Pip zu Beginn des Romans erfahren, und habe ihn dann an der Universität gelesen, ungefähr zu Pips Alter, als er als junger Mann nach London zieht, im Irrglauben, von der schaurigen Miss Havisham ein Vermögen vermacht zu bekommen. Als der ungefähr 30-jährige Pip seine Lebensgeschichte aufzuschreiben beginnt, habe ich den Roman unterrichtet. Weitere dreissig Jahre später bin ich ein Jahrzehnt älter als Caspar David Friedrich war, als er den Dresdner Friedhofseingang gemalt hatte (für den er die Eingangstorbogen entworfen hatte), und bin zwei Jahrzehnte älter als Dickens, als er den Roman verfasst hat. Von Zeit zu Zeit, wenn ich die Seiten wieder öffne, bin ich zurück bei dem kleinen Pip, als er seine “ersten, einprägsamen und perspektivischen Eindruck von den Dingen bekommt … an einem bemerkenswerten, rauen Nachmittag gegen Abend,” als die erschreckende Figur des Magwitch sich plötzlich von den Friedhofsgräbern erhebt. Pip und ich sind bereit, die Reise unseres Lebens noch einmal zu beginnen.
Originaltext von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature an der Harvard University:
https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-12-london-charles-dickens-great-expectations
Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

11. Mai: London: Virginia Woolf, Mrs Dalloway

11. Mai 2020

Nachdem er mit seinen Freunden um die Häuser gezogen ist, macht sich Phileas Fogg auf den Nachhauseweg in die Saville Row Nummer 7, die nur ein paar Straßenzüge entfernt ist, um dort ein paar Kleidungsstücke abzuholen und seinen neu eingestellten Diener Jean Passepartout zu treffen. Auf halbem Weg wird er den Weg kreuzen, der fünfzig Jahre später von Clarissa Dalloway eingeschlagen werden würde (wenn sie, oder er, überhaupt existierten), auf ihrem Weg in die nahe gelegene Bond Street, um Blumen für eine Party am Abend zu besorgen. Woolf beginnt ihren Roman mit Clarissa, meditativ flanierend, als Loblied auf die Freuden in London: 

“Was sind wir doch für Törichte, dachte sie, als sie die Victoria Street überquerte. Der Himmel allein weiß, warum man es so liebt, wie man es so sieht, zu planen, eine Runde zu erbauen, niederzureißen, jeden Moment neu zu erfinden; und doch ist es dasselbe Spiel; aber die Lumpenträger und Erbarmungswürdigen auf den Treppenstufen machen dasselbe (und trinken sich zu Tode); kann man sich jetzt nicht drum scheren, sie fühlte sich frisch …:sie lieben das Leben. In den Augen der Menschen, im Schwung, Stampfen, und Trampeln; im Grölen und in der Aufruhr; die Kutschen, Automobile, Omnibusse, Kleinbusse, Sandwichverkäufer schieben und schwingen; Blechmusik; Leierkästen; im Triumph und im Werbegeklimper, der komisch-hohe Sington eines Flugzeuges obendrüber, das war es, was sie liebte; London; in diesem Augenblick im Juni.”

Mrs. Dalloway, veröffentlicht im Jahr 1925, ist eines der am meisten verorteten Werke, sowohl in Zeit und Raum, und findet an einem einzigen Tag im Juni 1923 in London statt, im Umkreis von ein paar pittoresker In-Nachbarschaftsviertel im Zentrum Londons. Es mag logischer erscheinen, unsere Reise mit Woolfs pikareskem, unheimlichen Orlando zu beginnen, dessen Held eine Affäre mit einer russischen Prinzessin hat, bevor er in Konstantinopel das Geschlecht wechselt und zur Heldin des Buches avanciert. Oder den weltumspannenden Joseph Conrad, dessen Romanschauplätze in Malaysia und Lateinamerika spielen, und dessen Herz der Finsternis uns von London ins Belgisch-Kongo und wieder zurück entführt. Aber es macht durchaus Sinn, mit einem in einem Londoner Quadrat lokalisierten Roman zu beginnen; nicht nur, weil es der Startpunkt unserer literarischen Weltreise ist, sondern weil Mrs. Dalloway London bereits als die Weltstadt zeigt, die sie heute ist. Clarissas ehemaliger Verehrer, Peter Walsh, ist aus Indien zurückgekehrt, um eine Scheidung in die Wege zu leiten; die Lehrerin ihrer Tochter und mögliche Geliebte, Miss Kilman, fühlt sich in England, das sich ihrem Geburtsland Deutschland einen Kampf um Leben und Tod lieferte, fehl am Platze; die italienische Kriegsbraut Rezia versucht sich vergeblich, dem Londoner Leben anzupassen und ihren an Kriegsneurose leidenden Ehemann Septimus Warren Smith vor dem Selbstmord zu bewahren.

Die Welt ist doch zu Hause in London geworden, unheilvoll in Form des 1. Weltkrieges, dessen Erschütterungen durch die Stadt und durch den Roman hindurch spürbar sind. Im selben Moment, als Clarissa das Leben geniesst, “Leben; London; dieser Augenblick im Juni”, hört sie das sonderbares Geräusch eines Flugzeugs von oben. Dies entpuppt sich als Werbe-Doppeldecker, das oben ein Produkt bewirbt, über das die Leute unte am Boden rätseln (Toffee-Süßigkeiten? Glaxo-Medikamente?). Das Näherkommen des Flugzeugs ähnelt sonderbarerweise doch einem Luftangriff, mit fast fataler Wirkung:

„Mrs Coates schaute plötzlich nach oben gen Himmel. Der Krach des Flugzeuges bohrte sich geheimnisvoll in die Ohren der Menge. Dann flog es über die Bäume, eine weiße Rauchwolke nach sich ziehend, es drehte und wendete,… Im Tiefflug zog das Flugzeug kerzengerade nach oben, drehte sich mit einem Kringel, raste nach oben, sank, wirbelte wieder hoch … und dort in einem klaren Himmelsstück, begann, den Buchstaben K, E, und Y vielleicht zu schreiben?
“Glaxo”, stellte Mrs Coates mit angestrengter, ehrfürchtiger Stimme fest, und schaute gerade nach oben, und ihr Baby, das steif und weiss in ihren Armen lag, schaute gerade nach oben.“

In den Himmel geschriebene Werbeslogans waren im selben Jahr vom Major Jack Savage (von savage, wild), nomen est omen, erfunden worden, der nach seiner Zeit beim Militär luftige Slogans von Flugzeugen in den Himmel schreiben ließ, die er von der Luftwaffe nach Kriegsende bekommen hatte.

Mrs Dalloway wird verfolgt von dem Chaos, das sich gerade draußen jenseits der bequemen Grenzen von Clarissas gehobenem Upper-Class-Umfeld abspielt. Jedes kleinste Detail kann das Fundament einer noch fragilen Nachkriegswelt erschüttern. Als der Doppeldecker hinweg fliegt, gleitet eine verdeckte Limousine entlang der Bond Street und versetzt die Menge in Aufregung, obwohl niemand erkennen kann, wer sich in dem Auto befindet, das sich in Richtung des Buckingham-Palastes bewegt. Deren diskreter Glanz erweckt patriotische Gefühle bei wohlhabenden Gentlemen und einem verarmten Blumenverkäufer, aber erzeugt auch Gedanken an Verlust und fast eine Aufruhr:

„… in allen Hutläden und Schneiderein blickten sich Fremde an und gedachten der Toten, der Flagge, des Empire: In einer Hinterhofkneipe beleidigte ein Colonial das Haus von Windsor, was zu weiteren Wortgefechten, zerbrochenen Gläsern und Krach führte, und der Tumult echote die Straße sonderbarerweise weiter zu den Ohren von Mädchen, die mit reinweißem Band durchzogene Unterstoffe für ihre Hochzeit kauften. Das oberflächliche Vorbeigleiten des Automobils hatte etwas Tiefergehendes aufgeschürft.“

Ein paar Straßenzüge weiter im Regent’s Park, krank vor Sorge um das merkwürdige Benehmen ihres Ehemannes, fühlt Rezia die gesamte Zivilisation Englands wegdriften, und sie in einer urzeitlichen Müllhalde zurücklassend:

     “Du musst dir doch die Mailänder Gärten ansehen,” sagte sie. Aber nur zu wem?

Da war niemand. Ihre Worte verklungen. … und vielleicht, um Mitternacht, wenn alles verloren ist, kehrt das Land zu seinem Urzustand, wie die Römer es einst aufgefunden hatten, neblig, die Hügel ohne Namen, und die Flüsse schlängelten sich sonstwohin – so war ihre Dunkelheit.” 

In Herz der Finsternis hatte Conrads hart getroffener Held Marlow den europäischen Kampf um Afrika mit der Eroberung des feuchten und primitiven Englands durch die Römer verglichen: “Moore, Wälder, Wildnis – viel zu wenig Passendes zu essen für einen zivilisierten Menschen, nichts als Wasser aus der Themse zu trinken”. Woolf macht sich diesen Vergleich zu eigen. Inmitten von allen von Clarissas gehobeneren upper-class Annehmlichkeiten – Schwertlilie und Rittersporn, taubengraue Handschuhe, der Prime Minister, der auf ihrer Party vorbeischaut – ihr London birgt mehr als eine flüchtige Ähnlichkeit mit Conrads Herz der Dunkelheit. Selbst Mr. Kurtz’ berühmte letzte Worte – “The horror! The horror!” – erschallen in steigendem Crescendo auf den ersten Seiten des Romans. Zunächst erinnert sich Clarissa an den “Schrecken des Augenblicks”, als sie von Peter Walshs bevorstehender Hochzeit erfährt, dann fühlt sich der an Kriegsneurose leidende Septimus “so als ob irgendein Horror fast durch die Oberfläche birst und bald in Flammen aufgeht”, und schlussendlich die neunzehnjährige Maisie Johnson, kürzlich aus Schottland gekommen, um Arbeit zu suchen, die, schockiert von Septimus’ Verhalten , wünscht, sie hätte niemals einen Fuß in diese Stadt gesetzt: “Horror! Horror! wollte sie schreien. (Sie hatte ihre Familie zurück gelassen; sie hatten sie gewarnt, was geschehen würde.) Warum war sie nicht zu Hause geblieben? weinte sie, als den Knauf vom Eisengeländer umklammerte.”

Virginia Woolf war Zeit ihres Lebens Londonerin, aber sie war auch eine Bürgerin in einer weiten, literarischen Welt. Sie lernte gerade Russisch, als sie die Arbeit am Roman begann, sie las Sophokles und Euripides auf Griechisch, als sie ihn abschloss. Sie hatte auch ein Faible für im Ausland geborene Schriftsteller der englischen Literaturszene, so wie Conrad, Henry James, und ihren Freund T.S. Eliot. In ihrer Essaysammlung Der gewöhnliche Leser (veröffentlicht im selben Jahr wie Mrs Dalloway) schrieb sie:

“es ist jedem bekannt, dass manchmal insbesondere amerikanische Schriftsteller mit der höchsten Diskrimination über unsere Literatur und über uns schreiben; die ein Leben lang unter uns gelebt haben, und endlich legale Schritte dafür unternehmen, Untertanen von King George zu werden. Für all das, wenn sie uns verstanden haben, sind sie nicht bis ans Ende ihrer Tage Ausländer geblieben?“

Als Feministin, Sozialistin und Pazifistin im überwiegend patriarchalischen, kapitalistischen und imperialistischen England fühlte sich Woolf wie eine Fremde im eigenen Land. Ein zarter, subversiver Zug zog sich durch ihr ernsthaftes Bekenntnis zum pazifistischen Anti-Imperialismus. Im Jahr 1910 nahm sie, als Mann verkleidet, am “Staatsbesuch” zum Kriegsschiff H.M.S. Dreadnought teil, das im Hafen von Portsmouth lag. Die Besucher wurden mit einer Ehrengarde willkommen geheissen und bekamen eine Schiffstour, und verliehen ihrerseits ihrer Bewunderung mit dem Ausdruck “Bunga! Bunga!”. Parlierend in einer Mischung aus Latein und Griechisch entlarvten sie die militärischen Ehren gegenüber den ahnungslosen Offizieren und kehrten unentdeckt nach London zurück. Die Royal-Navy wurde zutiefst von einem von ihren Freunden veröffentlichten Bericht im Londoner Daily Mirror in Verlegenheit gebracht, der den Streich aufdeckte, zusammen mit einem steif-formellen Foto der Delegation. (Woolf ist der bebartete Gentleman links.)

Quelle: https://www.theguardian.com/books/2012/feb/05/bloomsbury-dreadnought-hoax-recalled-letter

Das Fremde und Vertraute vermischt sich in Woolfs Werk. In Der gewöhnliche Leser beschreibt sie die verwirrende Fremdartigkeit bei Tschechow, Dostojewski, und Tolstoi, aber zieht vieles aus deren Werk und entdeckt Quellen jenseits der viktorianischen Dichtung. Ihre Beschreibung von Tschechows Geschichten könnte von Mrs Dalloway selbst stammen: 

“Sobald sich das Auge an diese Schatten gewöhnt hat, verpuffen die ‘Rückschlüsse’ der Fiktion; sie erscheinen wie Transparente mit einem Licht dahinter – grell, blendend, an der Oberflächlich streifend … In Folge dessen, wenn wir diese kleinen Geschichten über überhaupt nichts lesen,, weitet sich der Horizont, und die Seele gewinnt einen wunderbares Freiheitsgefühl.” 

Mrs Dalloway ist auch inspiriert von Woolfs Bewunderung für Proust (“Mein großes Abenteuer ist Proust. Was kann denn danach noch geschrieben werden?”), und ihre mehr als ambivalente Reaktion auf Joyces Ulysses, den sie wortwörtlich als “bemerkenswerte Katastrophe” beschrieb, und privat als “ein Pennäler, der seine Pickel kratzt”. Sie konzipierte ihre eigene Version von Joyces stream-of-consciousness Erzähltechnik, und, so, wie er die antiken griechischen Einheiten von Zeit und Raum, für ihren Roman adaptiert, stützt sich Woolf auf Sophokles und Euripides, sowie Tschechow, Conrad, Eliot, Joyce, und Proust.

Aber ihr London ist nicht die “unreal city” von Eliots Das wüste Land, sondern eine intensiv präsente Welt. Woolfs wogende, beobachtende Sätze betonen Nuance und Offenheit für Erlebnis, nicht die wuchtige Herrschaft ihrer männlichen Pendants. Als sie ihren großartigen Essay A Room of One’s Own (Ein eigenes Zimmer) verfasste, fiel der Schatten des Ichs ziemlich oft auf ihre Seiten. Als Clarissa zur Bond Street geht, um ihre Blumen zu kaufen, reflektiert sie dass “ihr einziges Talent dasjenige sei, instinktiv Leute zu erkennen”. Sie liebt Londons “Menschenmengen, das Tanzen durch die Nacht, die schwerfällig vorbeifahrenden Wagen zum Markt … was sie liebte war das Hier, Jetzt, vor ihr; die feiste Lady im Taxi”. Niemand hat jemals Woolfs Fähigkeit übertroffen, Szenerien zu erschaffen, in denen die ernsthaftesten Probleme – Weltkriege, Verrücktheit, die unüberbrückbaren Abgründe zwischen Männern und Frauen – aus dem “dies, Hier, Jetzt” in Erscheinung treten. Woolf zeigt uns gleichzeitig das Hier und Jetzt am Abgrund des Todes, und sie betrachtet London fast mit dem Blick eines Archäologen. Als die verdeckte Limousine durch die Bond Street gleitet, “gab es keinen Zweifel, dass Grandeur darin sass … das ewigwährende Staatssymbol, das nur Altertumskennern gewahr ist, die durch die Ruinen der Zeit wühlen, wenn London zu einem mit Gras überwachsenen Pfad geworden ist, und alles, was von diesen eilenden Gestalten, die an diesem Mittwochmorgen durch die Straßen hetzen, übrig bleibt, sind ein paar mit Staub vermischte Hochzeitsringe und die Goldstümpfe von unzähligen zersetzten Zähnen. Das Gesicht im Automobil wird dann bekannt sein.”

    Woolfs Panoramaperspektive auf ihre lokale Szenerie förderte den Buchabsatz in der Welt, unterstützt von einer Leserschaft um den Globus, die die Bond Street oder nicht mal London auf einer Landkarte verorten könnte. Michael Cunninghams im Jahr 1998 veröffentlichter Bestseller und Neubearbeitung des Stoffes, The Hours (Die Stunden), – Woolfs ursprünglicher Buchtitel – verlagerte den Schauplatz nach Los Angeles und ins New Yorker Greenwich Village. Als Autor auf einem anderen Kontinent und für eine neue Generation weitet Cunningham das Thema des gleichgeschlechtlichen Verlangens, nur angedeutet von Woolf in der Figur der Miss Kilman und Clarissas Schwärmerei für die freie Sally Seton, an deren leidenschaftlichen Kuss sie sich lebhaft ein paar Jahrzehnte später erinnert. Woolfs zart subversives Werk war jedoch noch nie direkt von Raum und Zeit eingezäunt. Das am meisten verortete Buch, Mrs Dalloway, ist gleichzeitig das weltlichste Buch, das jemals verfasst wurde, die Reise eines langen Tages ins Leben, London, dieser Augenblick im Juni.
Originalquelle von Professor David Damrosch vom Institute for World Literature:

https://projects.iq.harvard.edu/80books/blog/may-11-london-virginia-woolf-mrs-dalloway-1925

Deutsche Übersetzung von Annemarie Fischer, inklusive aller Primärtextübersetzungen.

10. Mai: Legen wir los!

Zum Start und zum Beginn unserer Reise heiße ich Ihre Kommentare herzlich willkommen – Fragen zum von mir Gesagten, Gedanken über die hier besprochenen Werke, Ideen für Bücher, die Sie mitgenommen hätten, anstelle eines hier eingepackten Buches. Da die Literatur in einem weitläufigen Netzwerk zu und mit anderen Werken lebt, werde ich auf dem englischsprachigen Original-Blog stets auf weitere Werke zum täglichen Primärtext hinweisen, und unter dem Navigationspunkt “Resources” finden Sie weitere Lesevorschläge und Links zu Ressourcen für weitere Entdeckungen,
als auch Empfehlungen für Ausgaben und Übersetzungen der achtzig Primärwerke.
Also Leinen los, wie schon bei Phileas Fogg und Passepartout vor uns.